An den Regen
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An den Regen

Kurzgeschichten

Fariba Vafi, Jutta Himmelreich

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  1. 219 pages
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An den Regen

Kurzgeschichten

Fariba Vafi, Jutta Himmelreich

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Wer sich mit zeitgenössischer iranischer Literatur befasst, sollte das Genre Kurzgeschichte nicht unbeachtet lassen. Denn in Kurzgeschichten wie auch in der Lyrik lassen sich, anders als in Romanen, kritische Entwicklungen oder Begebenheiten in der Gesellschaft darstellen, ohne viel erklären zu müssen und dadurch die Aufmerksamkeit der Zensurbehörde zu wecken.Wie auch in ihren Romanen sind die zentralen Themen der Kurzgeschichten Farib? Vafis die intimen Alltagserfahrungen von Frauen, die versuchen, unabhängig von gesellschaftlichen Beschränkungen ihren eigenen Weg zu gehen. Dank ihrer fließenden Sprache gelingt es Vafi, eine große Nähe zu den Charakteren zu erzeugen, die sich auch in der kongenialen Übersetzung uneingeschränkt vermittelt. Immer wieder behandeln ihre Geschichten Spannungen zwischen Tradition und Progressivität, zwischen Einsamkeit und dem Wunsch nach Unabhängigkeit. So zeichnet Vafi in ihren Werken die Komplexität menschlicher Beziehungen nach, die universell ist und jenseits sprachlicher und gesellschaftlicher Grenzen bei der Leserschaft Resonanz findet.

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Information

Publisher
Sujet Verlag
Year
2021
ISBN
9783962026202
Edition
1

Der weite Horizont


Man stirbt so wie man gelebt hat. Als ich von Tante Hekmats Tod hörte, war mir dieser Satz wieder eingefallen. Wer ihn gesagt hatte? Ich weiß es nicht mehr. Aber an den Nachsatz erinnere ich mich noch, der da lautete: Wer mit Bedacht lebt, legt sich mit Bedacht zum Sterben nieder.
Der Anruf kam früh morgens. ,Sicher jemand aus dem Ausland’, dachte ich. Aber es war Leila. Sie weinte. Man merkte sofort, dass sie uns über einen Todesfall unterrichten wollte. Ihr war die Nachricht noch nicht über die Lippen gekommen, da hatte ich den Sensenmann schon vor Augen, sah ihn, in Schwarz gehüllt, seine Ernte einbringen unter den Lebenden im Familien- und Freundeskreis. Reihenweise fielen sie tot um, im flüchtigen Augenblick eines Wimpernschlags.
„Was ist denn passiert?“
Leila wollte nicht einfach preisgeben, wen es getroffen hatte.
„Mama?“
Die Arme war immerhin schon mehr als einmal kurz davor. Sie ist alt. Hat mehrere verkalkte Arterien. Jedes Mal, wenn sie hört, dass jemand gestorben ist, sagt sie: „Der Todesengel hat mich übersehen.“
Aus dem Hörer kam ein tränenreiches „Nein.“ Ich atmete erleichtert auf. Leila sagte, vor wenigen Minuten sei ein Anruf aus Tabris gekommen.
„Tante Hekmat ist gegangen.“
Vermutlich war sie bei Leila zu Besuch gewesen, und weil jemand eine unpassende Bemerkung gemacht hatte, hatte sie sich in ihren Tschador gehüllt und war gegangen.
„Wohin?“, fragte ich.
Und wusste sofort, etwas Dümmeres hätte ich nicht fragen können.
„Sie ist tot.“
Wie ein Geschoss fuhr dieser kurze Satz mir ins Ohr, bahnte sich seinen Weg in meinen Bauch und richtete unterwegs wohl einigen Schaden an. Minutenlang kam ich nicht auf die Beine. Ich legte den Hörer auf. Blieb sitzen, wo ich saß. Brauchte Zeit, um die Nachricht zu verarbeiten.
Mama rief an.
„Komm, mach dich auf den Weg zu uns. Jetzt, wo sie tot ist, müsst ihr die Lebenden zu schätzen wissen.“
Sie sagt immer: „Gebt gut Acht auf mich. Heute bin ich noch hier. Morgen nicht mehr.“ Sie sagt: „Morgen rauft ihr euch die Haare, ruft ,Mama, Mama!’, und ich antworte euch nicht mehr.“ Sie sagt: „Naneh birde-allah toschmaz. Eine zweite Mama kriegt ihr nicht.“
„Steig in ein Taxi und komm her. Sag nicht, du kannst es dir nicht leisten. Komm auf meine Rechnung.“
Sie sagt gern: „Ich zahl dir die Fahrt“, oder: „Kauf dies oder jenes auf meine Rechnung.“ Seit sie, verwitwet, das Gehalt meines Vaters bezieht, gibt sie sich spendabel, will im Grunde aber kein Geld ausgeben oder verschwenden, wie sie’s nennt. Ich fahre tatsächlich manchmal mit dem Taxi zu ihr.
„Wie bist du hergekommen?“
„Mit dem Taxi.“
„Siehst du, wie gut das geht? Du steigst ein wie eine Dame und bist in zwei Minuten hier.“
Taxifahren wie eine Dame bereitet Mama ganz besonderes Vergnügen. Sie zelebriert es, indem sie den Fahrer ein paar Minuten warten lässt. Noch schöner findet sie’s, wenn andere sie einsteigen sehen, in einen Wagen, der allein auf sie wartet. Sie vergisst, mir die Fahrtkosten zu erstatten.
Auch damals hatte sie gefragt: „Wie bist du hergekommen?“
„Mit dem Bus.“
„Ach, du Bettlerin.“
,Du Bettlerin!’ ist der größte Vorwurf, den Mama einem machen kann.
„In Hekmats Kleiderschrank wurden neun Millionen gefunden.“
„Wie schnell sie ihren Schrank durchsucht haben“, stellte ich fest.
Mama nickte philosophisch, bedächtig.
„Die Arme, hat sich nichts gegönnt, und dann ist sie abgetreten.“
Am Hungertuch hat Tante Hekmat nicht genagt. Im Gegenteil. Sie aß immer gut. Legte Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Hatte Selbstrespekt. Sie reiste gern, achtete auf ihre Gesundheit und hatte ein ganzes Sortiment an Büchern über Kräuter und Hausmittel im Regal, in denen sie allabendlich ein paar Seiten las, um allmorgendlich über ihr Befinden zu berichten. Sie war zweimal verheiratet, kinderlos und sagte: „Weil ich keinen Esel hab, hab ich meine Ruh.“ Nach dem Tod ihres zweiten Ehemanns war sie allein geblieben und hatte nie ein Drama daraus gemacht. Im Gegenteil, sie genoss ihren Alleinstand in vollen Zügen.
„Doch, sie hat sich’s gutgehen lassen und ist dann gegangen.“
Mama sagte: „Lass dir Hekmats Leben eine Lehre sein.“
Der Sinn ihrer Mahnung erschloss sich mir nicht. Ich sah die Obstschale auf dem Tisch. Randvoll mit saftigen Äpfeln und Orangen.
„Soll ich eine Orange schälen, und wir teilen sie uns?“
„Nein danke, für mich nicht.“
„Ich hab nicht gesagt, du sollst sie allein essen.“
Mit viel Mühe hievte sie ihren Hundertkilokörper auf die Beine, torkelte zum Kühlschrank, holte einen Topf hervor, hob den Deckel, entnahm ihm ein paar Minigurken und Orangen und legte sie auf den Teller vor mir.
„Auf dem Tisch liegt ein Messer.“
Ich hielt eine Gurke in die Höhe.
„Die braucht kein Messer, sondern ein Bügeleisen.“
Mama verzog den Mund.
„Werd’ bloß nicht übermütig, Kind.“
„Willst du nicht mit nach Tabris kommen“, fragte ich sie.
„Wie denn, in meinem Zustand?“
,In welchem Zustand denn?’, wollte ich fragen, besann mich aber.
„Iss eine Orange“, sagte sie und meinte das winzige schrumplige Etwas, das sie mir auf den Teller gelegt hatte.
„Ich mag jetzt nicht.“
„Werd’ bloß nicht übermütig, Kind.“
Dieses Satzes wird Mama nie überdrüssig.
„Schick ihr von hier aus deinen Segen.“
Seit ich bei ihr war, hatte sie noch kein einziges Mal ,Gott möge ihr gnädig sein!’ gesagt.
„Einmal hat sie mich bei deinem Vater verpetzt, das vergess ich nie.“
Und bevor der Kummer sie überwältigen konnte, stand sie auf, so rasch es ging. Sie hatte eines Tages beschlossen, selbst in schweren Zeiten nicht mehr zu trauern. Diesem Vorsatz ist sie treu geblieben. Sie stand auf, um etwas aus der Küche zu holen.
„Bleib sitzen, ich hol’s dir.“
„Nein, ich mach das schon.“
Sie hat andere Leute nicht gern in ihrer Küche: „Ihr kennt euch nicht aus“, sagt sie. „Ihr macht nur mehr Unordnung.“
„Hast du etwa neun Millionen im Küchenschrank?“
„Sag das bloß nicht, wenn wir Gäste haben. Am Ende glauben sie dir, kommen wieder und machen mich einen Kopf kürzer.“
Tante Hekmat hat ihren Kopf nicht eingebüßt. Sie ist einfach so gestorben. Ganz unerwartet. Sie war lebenslustig. Mit sechsundsiebzig. Manchmal lachte sie und sagte, zehn, vielleicht sogar zwanzig Jahre dürften ihr noch vergönnt sein. Was sprach dagegen? Sie war noch gut zu Fuß. Bei Schmerzen halfen Heizdecke und Kniebandagen. Sie hatte keine Osteoporose, noch fast alle ihre zweiten Zähne, und einmal im Monat ging sie zum Check-Up. Cholesterin, Blutfett, Zucker, Blutdruck waren unter Kontrolle. Ihre Vergesslichkeit hielt sie für normal. Sie fand heutzutage alle Leute vergesslich. Ein Schwachpunkt war ihr Herz. Es schlug unregelmäßig. Durch diese Bresche setzte der Tod zum Angriff an.
Mitten in der Nacht schreckt sie aus dem Schlaf hoch und merkt, dass es ihr nicht gut geht. Sie bindet sich die Blutdruckmessmanschette um den Arm. Ob ein Messwert erschien, wissen wir nicht. Jedenfalls bekommt sie’s mit der Angst zu tun. Sie ruft den Notarzt an und bittet um Hilfe. Dann ruft sie Malahat an. Im Jahr davor waren wir alle nach Teheran gezogen. Nur Hekmat und Malahat waren in Tabris geblieben. Sie kümmerten sich umeinander. Als eine unbekannte Frau sich meldet, merkt Hekmat, dass sie sich verwählt hat, sagt der Frau aber trotzdem, dass sie im Sterben liegt.
Die Frau ruft am nächsten Morgen zurück. Sie ist gerade aufgewacht und beschwert sich über die Belästigung vom Vorabend. Als sie erfährt, dass der Störenfried gestorben ist, entschuldigt sie sich. Tante Hekmat ruft erneut beim Notarzt an, kann aber nichts sagen. Als der Arzt eintrifft, liegt der Telefonhörer auf ihrer Brust, sie hält das Blutdruckmessgerät in der linken Hand. Ihr Körper ist noch warm.
Leila schilderte das mit vielen Trauerfalten auf der Stirn. Sie weint so: Erst wird ihre Stirn unglücklich. Dann bekommt sie feuchte Augen. Die Umsetzung des Projekts Tränen vergießen braucht ihre Zeit.
Sie putzte sich die Nase. Sie hob den Kopf.
„Ab jetzt will ich leben.“
Ich musste lachen.
„Wie kommt’s, dass in letzter Zeit alle leben wollen?“
„Ich hab mich einlullen lassen.“
„Nur gut, dass du’s gleich gemerkt hast.“
Sie ist zweiundfünfzig.
„Lass den Spott. Eines Tages wirst du auch so wie ich.“
„Das bin ich jetzt schon.“
„Noch nicht, nein. Wart’s nur ab, du wirst schon sehen.“
Sie hatte immer ein paar nette Drohungen im Ärmel.
„Weinst du um Tante Hekmat oder deinetwegen?“
Sie hat gelacht, verhalten. Sie hat Falten um den Mund. Gerade erst hat sie gelernt, solchen Dingen Aufmerksamkeit zu schenken, schon will sie die kleinen Stielwarzen in einem Augenwinkel entfernen lassen. Einmal hat sie wegen ihrer Kummerfalte einen ganzen Tag beim Schönheitschirurgen verbracht. Und sie hat Samad Agha gelöchert. Sie will den Führerschein machen. Will ausgehen, Leute besuchen, ins Kino. Sie will wie andere Frauen sorglos Geld ausgeben. Dabei schafft sie das gar nicht. Weil sie’s schlicht nicht übers Herz bringt. Wenn sie vom Basar zurückkommt, bin ich jedesmal von neuem überrascht. Morgens macht sie sich auf den Weg, und wenn sie zurück ist, tauscht sie die meisten ihrer Einkäufe wieder um. Ihr Problem ist, dass sie nicht genießen kann. Nichts bereitet ihr Freude.
Vor Tagen war sie auf Anraten einer Freundin zu einem Berater gegangen. Hatte ihm ihre Probleme geschildert. Er hatte ihr aufmerksam zugehört und ihr dann gesagt, dass sie sich ändern muss.
„Gehen Sie, reden Sie ganz offen mit ihrem Mann und erklären Sie ihm genau, was ihr Problem ist.“
Die neue Leila geht zurück nach Hause. Vom frühen Morgen bis mittags steht sie in der Küche und macht Khorescht-e Fessendschan, Samad Aghas Lieblingsessen, Huhn in Granatapfel-Walnusssauce. Da der Psychologe Leila auch geraten hatte, Kerzen anzuzünden, platziert sie je eine links und rechts neben Samad Aghas Teller, kauft eine Rose und stellt auch die in einer Vase dazu. Sie macht sich hübsch, trägt reichlich Damenduft auf. Abends sitzt sie gähnend vor dem Fernseher und zappt sich durch die Kanäle, bis ihr Mann nach Hause kommt. Ihre Söhne sind mit ihrem eigenen Kram beschäftigt.
Samad Agha macht sich frisch. Er isst zu Abend. Leila setzt sich zu ihm an den Tisch. Sie sieht ihn nicht an. Sie ergreift seine Hand. Samad Agha, mit seinem dichten Hängeschnäuzer, schaut die neue Leila an. Erstaunt wie ein Riesenbär, der plötzlich auf winzige Weißdornbeeren trifft. Die neue Leila lächelt.
„Ich möchte ganz offen mit dir reden.“
Samad Agha weiß nicht, wie ihm geschieht. Er starrt sie nach wie vor so verdattert an wie der Riesenbär den Weißdorn. Und Leila fehlen plötzlich die Worte. Ein Leben lang hat sie um jeden heißen Brei herumgeredet, und jetzt, mit zweiundfünfzig, fällt ihr ein, dass sie’s auf die unverblümte Art versuchen muss.
„Wir müssen reden, weißt du.“
Samad Agha lehnt sich zurück, sieht Leila mit mehr Abstand an.
„So?“
Er sagt nicht: „Ja, gut.“
Leila müht sich redlich, den Boden zu bereiten.
„So?“, sagt er wieder.
Als er’s zum dritten Mal sagt, schlägt Leila die Hände überm Kopf zusammen und konstatiert resigniert:
„Asche auf mein Haupt.“
Samad Agha pflichtet ihr in bester Absicht bei.
„Ja, genau, Asche auf dein Haupt.“
Mit einem Schlag verschwindet die neue Leila, und die alte schreit aus voller Kehle:
„Asche auf DEIN Haupt!“
„Warum wirfst du Geld zum Fenster raus?“, war Mamas kluge Frage. „Selbst wenn du ihn umbringen würdest, würde er kein anderer Mensch.“
„Er soll sich nicht ändern! Ich ändere mich!“
Mama stellte die Box Papiertücher, die sie Leila angeboten hatte, wieder weg - Leilas Tränen würden eh nicht versiegen.
„Zieh dich zumindest mal um. Oder willst du so nach Tabris fahren?“ Stunden später waren wir alle versammelt. Leila hat nicht lange gefackelt. Sie ist zum Friseur gegangen, hat sich die Haare färben und die Brauen zupfen lassen.
„Gehst du auf ‘ne Hochzeit?“, hat Samad Agha gefragt und die Stirn gerunzelt.
Leila hat seine Frage ignoriert. Sie ging eine schwarze Bluse kaufen. Zu Hause hat sie sie angezogen. Weil das Schwarz eher grau war, hat sie sie umgetauscht und eine andere gekauft. Mama hat im letzten Moment verkündet, dass sie mitkommt, weil sie nicht allein zurückbleiben wollte.
Am Nachmittag saßen wir endlich alle in Samad Aghas Wagen und brachen nach Tabris auf. Unterwegs, in Ghaswin, hat Leila laut aufgeseufzt und gesagt, dass sie gar nicht glauben kann, dass Tante Hekmat tot ist.
Als wir Sandschan hinter uns gelassen hatten, hat sie wieder geseufzt und gesagt, es will ihr einfach nicht in den Kopf. Sie näherte sich dem Tod, allmählich, in Etappen.
Ich dachte zurück an den Tag, an dem ich mit ihr ins Schwimmbad gegangen war. Sie hat sechs Stunden gebraucht, um ihre Sachen im Spind zu verstauen. Ich war derweil duschen und dann ins Wasser gegangen. Hatte in einem Becken voller Badegäste mehrere Bahnen gezogen. Und irgendwann hatte ich Leila gesehen, auf der Suche nach ihren Gummischläppchen. Nicht nur ich, auch alle anderen Badegäste hatten sie beobachtet. In ihrem farbschönen Badeanzug mit Rockschößchen und einer koketten Schleife im Nacken, Nasenklemme und Schwimmbrille in der Hand. Unter ihrer Badehaube hatten ein paar goldblonde Haarsträhnen hervorgeschaut. Sie hatte kleine Schritte gemacht, wie eine japanische Geisha, so affektiert, als sei sie schnurstracks unterwegs zu einer Party am Ende der Schwimmhalle. Erst hatte sie eine Hand ins Wasser gehalten, wohl um die Temperatur zu prüfen. Dann war sie über die Leiter vorsichtig ins Becken gestiegen. Auf der Nichtschwimmerseite war sie stehengeblieben. Und als Nichtschwimmerin hatte sie gefragt: „Was machen wir jetzt?“
Mama sagte: „Redet nicht so viel übers Sterben. Wenn wir ankommen, wird zum Weinen noch Zeit genug sein. Schaut euch lieber die Landschaft an.“
Mama liebt die Natur. Sie genoss die Fahrt. Die Landschaft hatte ja auch einiges zu bieten. Die Felder in der Ferne wirkten so gleichmäßig wie ein Feld. Der Himmel hatte Wattetupferwölkchen und im frühen Abendlicht tausend Farben. Sobald auch Mianeh hinter uns lag, war nur noch Tante Hekmat Gesprächsthema. Die stolze Schöne. Die vor Selbstbewusstsein nur so strotzte. Wenn ihr danach zumute war, legte sie sich mit jedem Mann an. Und aus jeder Versammlung stach sie schnell heraus: mit ihrer ungezwungenen Art, ihrem Tanz, ihrem Gesang, ihrem herzhaften Lachen, ihrer Schlagfertigkeit. Und sie hatte großes Talent als Parodistin. Wenn sie irgendwo zu Besuch war, verschwand sie manchmal unbemerkt. Kurz darauf brachen alle Frauen in Entsetzensschreie aus und suchten fieberhaft nach ihren Kopftüchern, weil urplötzlich ein großgewachsener Mann im Anzug mitten im Zimmer stand und sich den Hut auf dem Kopf zurechtrückte. Tante Hekmats selbst erdachtes Schelmenstück kam jedes Mal zur Aufführung. Die Frauen hatten Tränen in den Augen und hielten sich die Bäuche vor Lachen. Unterdessen hatte Samad Agha beschlossen, nicht während der gesamten Reise zu schweigen. Seiner lang angelegten Rede über den Tod setzten wir allerdings durch reihenweises Gähnen ein schnelles Ende.
Am Abend waren wir endlich am Ziel. Samad Agha parkte in der Hauptstraße. Die Gasse war zu schmal für Autos. Wir stiegen aus. Tabris’ milde, wohlriechende Luft schloss mich in ihre Arme wie eine Freundin. Sekundenlang vergaß ich Tante Hekmat. War plötzlich einfach nur froh. Ich drehte mich um, weil auf der anderen Straßenseite jemand pfeifend vorbeiging, abends, um diese Zeit. Er schaute zu uns rüber, pfiff weiter. Wir holten unsere Taschen aus dem Kofferraum und traten unseren Weg durch die enge Gasse an. Zwei Katzen machten gemächlich und würdevoll ihre Abendrunde. Mama fühlte sich offenbar genauso wohl wie ich. Sie blieb kurz stehen, holte Atem. Seufzte.
„Es war keine gute Idee von euch, mich nach Teheran zu schleppen. Ich bin hier zuhause.“
Geplant war, direkt zu Tante Hekmat nach Hause zu gehen. Die Gasse lag hell im Licht einer Straßenlaterne. Pfützen glitzerten, vom Regen, der eine Stunde zuvor gefallen war. Ich unterdrückte meine Freude über das Wiedersehen mit Tabris. Leila atmete tief durch.
„So gute Luft hier!“
„Versetz dich in Trauerstimmung, Schwesterherz“, flüsterte ich ihr zu.
Leila lachte. Samad Agha drehte sich zu uns um.
„Was ist eigentlich in euch gefahren? Ist eure Tante etwa nicht gestorben?“
Es passte ihm nicht, dass wir mit Entsetzen Scherze trieben. Er zählt zu denen, die sagen: „Alles zu seiner Zeit.“ In Teheran hatte er die Nachricht von Tante Hekmats Tod in aller Form und sehr pietätvoll verbreitet.
„Die Tante meiner Frau hat euch ihr Leben gegeben.“
Unsere Formulierung, ,Tante Hekmat ist gestorben!’, gefiel ihm nicht.
Vor dem Haus angekommen, sahen wir die Todesanzeige an der Tür. Uns stockte der Atem. Da stand Tante Hekmats Name. Und statt eines Fotos von ihr war eine gesichtslose Frau in Schwarz zu sehen. Wir starrten die Anzeige an. Samad Agha las sie laut vor. Als wären wir Analphabeten. Dass sein Name nach Ahmadzadeh dort stand, missfiel ihm. Er runzelte die Stirn. Leila zupfte ihr Kopftuch zurecht, klingelte. Übermütig schnitt sie ein Gesicht. Samad Agha mahnte:
„Übers Intercom kann man euch sehen.“
Was soviel hieß wie: ,Ihr trauert nicht angemessen.’ Tante Hekmat hatte die Sprechanlage mit moderner Videofunktion erst kürzlich an ihrer alten Haustür anbringen lassen. Technischem Fortschritt gegenüber war sie nicht abgeneigt. Ihr Blutdruckmessgerät und ihre Waage funktionierten digital, ihr Mobiltelefon war ein hochpreisiges Modell. Mir gefiel es gar nicht, dass uns jemand per Intercom aufmachte. Mir wäre es am liebsten gewesen, wenn meine Tante jetzt selbst an die Tür gekommen wäre, uns, wie gewohnt, in die Arme geschlossen und mit Willkommensgrüßen überschüttet hätte. Mama ging an allen vorbei und stellte sich in die vorderste Reihe.
Das Haus war voll. Mit lauter schwarz gekleideten, verschlafen dreinschauenden Menschen. Malahat stand mitten im Hof, ebenfalls an vorderster Front, und schloss sich Mama an. Die rief plötzlich laut Tante Hekmats Namen, schlug sich auf die Brust und den Kopf und weinte so bitterlich, dass alle sich um sie scharten. Ich staunte nicht schlecht über Mamas Gehabe. War sie etwa deshalb die ganze Fahrt über so schweigsam gewesen, weil sie sich auf diesen Moment eingestimmt hatte? Nun hielten auch die anderen nicht mehr an sich. Alle weinten. Niemand scherte sich um die Nachbarn oder gar um deren Nachtruhe. Mama saß jetzt im Hof, am Boden. Ihr Gesicht vor Tränen schillernd. Ein paar Mädchen halfen ihr auf. Leila trat vor, legte die Stirn an Malahats Schulter. Das war so Brauch, das musste gemacht werden, selbst mitten in der Nacht, wenn alle schon fast bettwarm vor Müdigkeit beinahe im Stehen schliefen. Tante Malahat schluchzte:
„Wieso kommt ihr so spät?“
Sie war nie zufrieden. Wären wir zu früh gekommen, hätte sie auch daran etwas auszusetzen gefunden.
Jetzt war die Reihe an mir, sie zu umarmen.
„Hekmat uschdi dsche’de. Sie hat die Flügel ausgebreitet und ist davongeflogen.“
Wir konnten einfach nicht weinen. Die Vorstellung, dass Tante Hekmat, groß und kräftig, Flügel ausbreitete und davonflog, war ziemlich abwegig. Sie wog mindestens achtzig Kilo. Fliegen passte nicht zu ihr. Ich ging an der Reihe wartender Cousins und Cousinen vorbei ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch dort fing sofort der große Samowar meinen Blick, treuer Begleiter des Todes. Zu später Stunde brodelte er leise vor sich hin und sang das Lied des Lebens. Die jüngsten Trauergäste starrten mich neugierig an. Ich wusste, sie suchten nach Gram und Tränen in meinem Gesicht. Einem Kind schnitt ich eine Grimasse, ein anderes zog ich sanft an den Haaren.
„Warum seid ihr denn noch wach?“
Tante Hekmat war nicht mehr hier. Sie lag schon unter der Erde. Aber ihr Haus roch noch nach ihr. Überall war dieser süßliche Duft, gemischt mit dem Geruch nach neuen Kleidern oder frisch gebadet. Ihre Küche roch so und ihre Wäschekammer auch. Es war einer der Gerüche aus meiner Kindheit, die mich ein Leb...

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