Hasenherz und Sorgenketten
eBook - ePub

Hasenherz und Sorgenketten

Mein Leben mit der Angst

  1. 208 pages
  2. English
  3. ePUB (mobile friendly)
  4. Available on iOS & Android
eBook - ePub

Hasenherz und Sorgenketten

Mein Leben mit der Angst

About this book

»Hasenherz und Sorgenketten« ist der kluge, genaue aber auch augenzwinkernde Blick einer Frau auf ihr Leben mit einer generalisierten Angststörung. Beate Felten-Leidel berichtet von Phobien, Panikanfällen, Hochsensibilität, von kleinen und großen Ängsten und Sorgen, vom Scheitern aber auch vom Gelingen. Lange Zeit lebt sie mehr oder weniger unbehandelt mit ihrer Angststörung, sucht nach körperlichen Ursachen, versucht es mit Medikamenten. Erst im Alter von 37 Jahren begibt sich die Autorin in psychotherapeutische Behandlung.Ihren ersten Panikanfall hatte sie bereits mit sechs Jahren. In ihrer Erinnerung ist die Angst während der gesamten Kindheit allgegenwärtig. Die besondere familiäre Konstellationen und das spezielle Klima im Deutschland der Nachkriegszeit waren dabei nicht unwichtig.Heute kann sie vieles besser verstehen, im Laufe der Jahre wird sie zur Expertin für ihre Ängste. Beate Felten-Leidel gibt mit ihrem Buch Antworten auf viele drängende Fragen, die Menschen mit Ängsten und Hochsensibilität beschäftigen: Wie findet man den richtigen Therapeuten? Die richtige Therapiemethode? Kann mir überhaupt jemand helfen?Das Buch ist auch ein kleines Plädoyer für die Ängstlichkeit. Ängstliche und hochsensible Menschen, die sich ihrer »Schwäche« schämen und unter ihrer Dünnhäutigkeit leiden, werden sich darin sicher gut wieder finden, aber auch Angst-Opfer, die nicht wissen, wie sie ihre zahlreichen Probleme angehen sollen. Viele Ängste kann man lindern und einige sogar loswerden.

Frequently asked questions

Yes, you can cancel anytime from the Subscription tab in your account settings on the Perlego website. Your subscription will stay active until the end of your current billing period. Learn how to cancel your subscription.
At the moment all of our mobile-responsive ePub books are available to download via the app. Most of our PDFs are also available to download and we're working on making the final remaining ones downloadable now. Learn more here.
Perlego offers two plans: Essential and Complete
  • Essential is ideal for learners and professionals who enjoy exploring a wide range of subjects. Access the Essential Library with 800,000+ trusted titles and best-sellers across business, personal growth, and the humanities. Includes unlimited reading time and Standard Read Aloud voice.
  • Complete: Perfect for advanced learners and researchers needing full, unrestricted access. Unlock 1.4M+ books across hundreds of subjects, including academic and specialized titles. The Complete Plan also includes advanced features like Premium Read Aloud and Research Assistant.
Both plans are available with monthly, semester, or annual billing cycles.
We are an online textbook subscription service, where you can get access to an entire online library for less than the price of a single book per month. With over 1 million books across 1000+ topics, we’ve got you covered! Learn more here.
Look out for the read-aloud symbol on your next book to see if you can listen to it. The read-aloud tool reads text aloud for you, highlighting the text as it is being read. You can pause it, speed it up and slow it down. Learn more here.
Yes! You can use the Perlego app on both iOS or Android devices to read anytime, anywhere — even offline. Perfect for commutes or when you’re on the go.
Please note we cannot support devices running on iOS 13 and Android 7 or earlier. Learn more about using the app.
Yes, you can access Hasenherz und Sorgenketten by Beate Felten-Leidel in PDF and/or ePUB format. We have over one million books available in our catalogue for you to explore.

Information

eBook ISBN
9783867398480
Edition
2

Therapie und ferne Ziele

Meine Angst geriet immer dann außer Kontrolle, wenn jemand, den ich liebte, schwer krank oder in Lebensgefahr war. Katastrophisieren ist eine alte Familiengewohnheit. Jede Krankheit wurde als Kampf auf Leben und Tod verstanden und ausführlich in allen schrecklichen Details geschildert. Mein Vater hatte seine erste Krebserkrankung heil überstanden. Auch meine Mutter war mehrfach im Krankenhaus gewesen. Jede Krankheit war hochgefährlich. Ein Denkmuster, das ich als Kind lernte und das sich mit der Zeit immer mehr verfestigte. Jeder Besuch im Krankenhaus, vor allem auf der Intensivstation, war ein Albtraum. So lange ich meine Eltern in Gefahr sah, konnte ich an nichts anderes denken, konnte kaum schlafen oder arbeiten. Ich schaffte es nicht, mich abzugrenzen.
Ende der 1980er-Jahre musste meine Mutter wegen einer Operation ins Krankenhaus. Damals gab es weder Handys noch Anrufbeantworter. Ich wagte mich kaum aus dem Haus, es konnte ja sein, dass das Krankenhaus anrief. Wir telefonierten mehrfach täglich. Ich versuchte, stark zu sein und alle zu trösten. Ich traute mich nicht mal, mich abzulenken, weil ich das als Treuebruch empfand. Wie konnte ich ins Kino gehen, wenn meine Mutter Schmerzen hatte? Ich litt mit.
Aber selbst wenn alles heil überstanden war, ließen die Sorgen nicht nach. Diesmal war es gut gegangen, aber bedeutete das nicht, dass es beim nächsten Mal schlecht ausgehen würde? Ich zergrübelte Tage und Nächte. 1990 stürzte meine Mutter an Heiligabend bei Glatteis und brach sich den Oberschenkelhals. Nach der Operation bekam sie eine Lungenembolie. Mein Karussell drehte sich rasend schnell. Nachts kam die Panik. Ich hatte das Gefühl, wahnsinnig zu werden. Mein Vater wurde wie immer bei Stress von Kriegserinnerungen überflutet und überschwemmte mich mit seinen Bildern. Ich sah nur noch meine Mutter vor mir. Ihre Arme waren wegen des Blutverdünners und ihrer schlechten Venen schwarz zerstochen. Ich habe genauso schlechte Venen! Ich sah mich selbst dort liegen. Meine Mutter kam danach nie mehr richtig auf die Beine, entwickelte chronische Schmerzen und konnte kaum noch laufen. Damals gelang es mir ein letztes Mal, meine Angst aus eigener Kraft zurückzudrängen.
Im Dezember 1992, als mein Vater mit Prostata-Krebs ins Krankenhaus kam, ging plötzlich gar nichts mehr. Ich bekam Angstanfälle, die tagelang dauerten, und hockte wieder neben dem Telefon. Als meine Mutter sagte, dass mein Vater sterben werde, stürzte ich in den Strudel. Konnte nicht mehr übersetzen, hörte auf zu essen, fand keinen Schlaf, war so verspannt, dass mir alle Muskeln wehtaten. Finns Zwänge machten alles noch schlimmer. Ich wagte kaum, die Wohnung zu verlassen. Eine Horrormeldung jagte die nächste. Diesmal hatte ich die Grenzen meiner Kraft überschritten. Für mich war mein Vater bereits tot. Zum ersten Mal erwog ich, professionelle Hilfe zu suchen. Egal, ob es klappte oder nicht, ich musste es wenigstens versuchen. Ich war siebenunddreißig Jahre alt. So lange hatte ich es mit meiner Angst allein ausgehalten. Doch wohin sollte ich gehen? Ich wusste, dass man als Krisenintervention fünf Therapiestunden ohne offizielle Genehmigung der Krankenkasse bekommen konnte. Mehr würde ich sicher nicht brauchen.
Ich nahm das Telefonbuch und starrte mit sinkendem Mut auf die vielen Namen. Nur zwei Dinge wusste ich: es sollte eine Frau sein, keine Psychiaterin, sondern eine Psychologin. Wenn möglich, nicht allzu weit weg. Das engte den Kreis zumindest etwas ein. Ich wusste ja schon einiges über Therapien, überlegte, welcher Ansatz für mich gut sein könnte: Verhaltenstherapie, Psychoanalyse, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie? Ich kannte keinen, der mir eine Empfehlung geben konnte. Eine Therapie hatte in meinem Freundeskreis außer Finn bisher niemand gebraucht, und zu Finns Therapeutin konnte ich nicht gehen. Alle gaben mir gute Ratschläge: »Das schaffst du doch allein! So was brauchst du doch nicht!« Ich wusste es besser. Aber wen sollte ich anrufen? Was sollte ich sagen?
Ich hatte Glück, fast wie im Märchen, wenn die Heldin nicht mehr ein noch aus weiß. Zufällig traf ich eine Bekannte, die mir ansah, wie schlecht es mir ging. Ich gestand ihr, dass ich eine Therapeutin suche und mit den Nerven am Ende sei. Sie kannte jemanden! Sie schlug mir vor, bei Marion Schubert anzurufen. »Aber du musst ehrlich sagen, wie schlecht es dir geht. Ohne falschen Stolz. Mit einem gebrochenen Bein suchst du dir ja auch Hilfe und hoffst nicht, dass sich alles von selbst richtet. Lass dich auf keinen Fall entmutigen! Kämpf drum, dass sie dir hilft!« Sofort verließ mich wieder der Mut, hatte ich doch keinerlei Durchsetzungsvermögen. Ich ließ mich immer gleich abwimmeln. Heute ist das anders, da fasse ich notfalls so lange nach, bis ich bekomme, was ich brauche. Doch das musste ich erst mühsam lernen. Marion Schubert klang freundlich, sagte, sie könne so kurzfristig leider keine Klientin annehmen, schlug aber vor, ich könne mich wieder melden, wenn ich sonst niemanden fände. Also rief ich andere Therapeutinnen an. Es gab Anrufbeantworter, fremde Stimmen und überall lange Wartelisten. Termine gab es erst in mehreren Monaten. Meine Verzweiflung wuchs. Ich brauchte sofort Hilfe, sonst drehte ich durch.
Meinem Vater ging es weiter schlecht, mich plagten grässliche Albträume, ich schlief nachts nur wenige Stunden, sackte erst weg, wenn es hell wurde. Das Erstaunliche geschah: Als ich keinen anderen Ausweg mehr sah, entwickelte ich ungeahnte Kräfte und rief wieder bei Marion Schubert an. Sie gab mir tatsächlich einen Termin: den 21. Januar. Weihnachten musste ich also irgendwie meistern, doch jetzt gab es ein Datum, auf das ich hinleben konnte. Die Feiertage waren deprimierend. Katastrophenstimmung. Finn hatte nur eine Angst: Dass ich ihn sofort verlassen würde, wenn ich die Therapie anfing.
Meine erste Therapiestunde habe ich bis heute nicht vergessen. Ich war voller Zweifel, aber auch voller Hoffnung. Vielleicht konnte sie mir ja tatsächlich helfen! Aber brauchte ich wirklich eine Therapie? War ich so eine Versagerin? Bisher hatte ich doch immer alles im Griff gehabt, all die Selbsthilfebücher, die ich gelesen hatte! Meine unmittelbare Umgebung zeigte wenig Verständnis für meinen Schritt. Ich fand ihn mutig, die anderen fanden ihn bedenklich, wenn nicht gar feige. Alle Freunde, einschließlich Finn rieten mir ab. Meine Mutter machte sich Sorgen, was die Frau von der Krankenkasse wohl denken würde. Mir war alles egal. Ich wusste, dass es höchste Zeit war.
Marion Schubert, eine dynamische junge Frau mit kurzem Haar, wohnte nur fünf Minuten von mir entfernt und war mir auf Anhieb sympathisch. Sie fand sofort die richtigen Worte und schaffte nach zwanzig Minuten mit einem einzigen Satz, dass ich komplett meine Selbstbeherrschung verlor: »Die schönen Erinnerungen mit Ihrem Vater kann Ihnen keiner nehmen.« Ich, die ich nie vor Fremden weine, schluchzte hemmungslos in die Tempos, die einladend auf dem Tisch lagen. Auf diesen Gefühlsansturm war ich nicht vorbereitet. Vielleicht waren das ehrliche Mitgefühl und Verständnis eines wildfremden Menschen so ungewohnt, dass ich meine Selbstbeherrschung verlor? Ich konnte damals meine Gefühle nur schlecht zeigen, ging nicht »aus mir heraus«, gab mir keine Blößen, bewahrte stets eisern Haltung, wie ich es gelernt hatte, und war darauf auch noch stolz. Ich ließ weder Wut oder Aggression zu und verstand mich trotz meiner vielen Ängste als stark, zuverlässig und belastbar. Mit dieser Selbsteinschätzung war es jetzt vorbei. Ich kam nicht mehr allein klar und war bereit, Hilfe anzunehmen.
Immer wieder brachte Marion mich im Gespräch zurück zu mir selbst. Ich war offenbar nicht in der Lage, längere Zeit nur über mich zu reden, sondern kreiste nur um meine Eltern. »Wie geht es Ihnen dabei? Was fühlen Sie? Was haben Sie gedacht?«, hakte sie dann nach. Ich kannte diese Fragen. So redeten die Therapeuten bei Woody Allen! Es waren Klischee-Fragen, über die man sich lustig macht, und doch verfehlten sie ihre Wirkung nicht. Hier war jemand, der sich für mich interessierte. Für mich ganz allein. Der mir helfen wollte. Wie eine Seelen-Anwältin, die bereit ist, sich schützend vor einen zu stellen und einen zu verteidigen. Jemand, an den man sich lehnen, bei dem man schwach sein konnte, und sei es nur für eine kurze Dreiviertelstunde. Ein für mich völlig unbekanntes Gefühl. Sonst spielte ich immer diese Rolle. Schon in der zweiten Stunde stellte sich heraus, dass mich nicht nur die Angst um das Leben meines Vaters quälte. Es war so unglaublich viel mehr, dass ich das Gefühl hatte, vor einem Riesengebirge zu stehen. Wie sollte ich es je schaffen, all die Berge zu bewältigen oder gar abzutragen? War es dazu nicht schon viel zu spät?
Nach den ersten fünf Stunden, den probatorischen Sitzungen, beantragten wir eine »richtige« Therapie. Damals musste man noch einen Psychiater aufsuchen, der einem eine »Notwendigkeitsbescheinigung« ausstellte. Inzwischen kann man sich die nötige Bescheinigung, den »Konsiliarbericht«, vom Hausarzt oder jedem anderen Arzt ausstellen lassen.
Der Weg zu meiner Therapeutin wurde bald mein »Wolfspfad«, auch an manchen therapiefreien Tagen ging ich zu Marions Haus. Schon der Weg beruhigte mich. Die Tage zwischen den Sitzungen schienen endlos lang. Zuerst fand ich es ganz furchtbar, meine wunden Stellen anzurühren, vor Schmerz zurückzuzucken, kurz getröstet und verstanden zu werden und anschließend wieder eine ganze Woche allein zu sein. Marion schaffte es zwar jedes Mal, mir beim Abschied einen Gedanken, eine Frage oder Überlegung »mitzugeben« oder mir eine »Hausaufgabe« zu stellen, mit deren Lösung ich mich über die Wartezeit retten konnte, aber ich fühlte mich trotzdem einsam und verlassen und wäre am liebsten stundenlang bei ihr geblieben. Ich sprach über meine Eltern, meine Vergangenheit und meine Kindheit. »Was Ihre Mutter davon hält, weiß ich ja«, höre ich Marion noch sagen. »Aber was fühlen Sie dabei? Wie erinnern Sie sich an diese Szene?« Ich lernte, dass meine subjektive Erinnerung mindestens genau so wichtig war wie das, was wirklich passiert war. Wichtiger als das, was meine Eltern erinnerten und mir erzählten.
Ich lernte, dass meine Erinnerungen eine Form der Realität darstellten, dass ich sie glauben durfte. Am Anfang stellte ich mir gemeinsam mit Marion die Frage nach meinen Therapiezielen. Ich brauchte nicht lange zu überlegen: Ich hielt es einfach nicht mehr aus mit meiner Angst. Sie war unkontrollierbar und überall. Ich wollte wissen, was ich tun konnte, damit es mir wieder besser ging. Dass ich meine Probleme, wenn überhaupt, nicht von heute auf morgen loswerden würde, war mir klar. Aber ich wollte lernen, besser mit mir und den Ängsten umzugehen. Mein Leidensdruck war so groß, dass ich bereit war, vieles in meinem Leben zu ändern. Als ich Marion zum ersten Mal gegenübersaß, war ich sogar bereit, alles zu ändern. Ich verspürte große Zuversicht. Ich hatte tatsächlich gewagt, Hilfe zu suchen! Und jemanden gefunden, der bereit war, mir zu helfen. Das allein war schon ein Wunder. Ich wollte endlich verstehen, wo die Wurzeln meiner Ängste lagen und warum sie mein Leben so beherrschten. Ich wollte herausfinden, welche Muster es in meinem Leben gab.
Manche Fehler machte ich ja offenbar immer wieder. Ich tappte immer wieder in dieselben Fallen. Wo lauerten sie? Wer stellte sie auf? Andere? Ich selbst? Woran konnte ich sie erkennen? Gab es Alternativen? Ich wollte endlich ein normales Leben führen, wieder schlafen können und weniger Stress haben. Wie sahen meine Wertvorstellungen und Denkmuster aus? Warum gab ich immer so leicht auf? Warum bestand ich nicht auf meinem Recht? Hatte ich überhaupt Rechte? Ich füllte Testbögen aus, mit deren Hilfe ich mich im Vergleich zu anderen Menschen einschätzen sollte. Bei einigen Antworten gab ich mir, ohne nachdenken zu müssen, die Höchstnote. Ich hielt mich für sehr ängstlich, verschlossen, geduldig, einfühlsam und liebesfähig. Ich war eine pflegeleichte Freundin und Partnerin. Äußerst belastbar und leidensfähig war ich sicher auch. Meine Liebe war grenzenlos, reichte für zwei. Damals war ich noch der Meinung, Liebe wäre gleichbedeutend mit Schmerz und Leid. Ich war überzeugt, dass man im Namen der Liebe bereit sein müsse, sich für den anderen aufzuopfern, ihn zu retten und alle seine Eigenheiten zu ertragen und zu verstehen, selbst wenn die eigene Seele dabei Schaden nehmen sollte. Meine »Idealvorstellungen« hatten leider verheerende Folgen für mein Privatleben.
Es gab weitere Fragebögen, in denen man »stimmt« oder »stimmt nicht« ankreuzen sollte. Auch hier trafen viele Sätze genau auf mich zu: »ich wehre mich selten, wenn man mich angreift«, »wenn ich mit anderen zusammen bin, fühle ich mich oft einsam«, »zwischen mir und anderen gibt es selten Meinungsverschiedenheiten«, »mein Körper kann sich nur selten ganz entspannen«, »ich lasse andere nicht gern meine Meinung wissen«, »ich grüble viel über mein Leben nach«. Durch die Fragen wurde mir etwas klarer, wie ich mich selbst sah, aber auch, wie mich die anderen möglicherweise wahrnahmen. Ich hatte mir zwar schon immer viele Gedanken darüber gemacht, aber vielleicht war ich in vielerlei Hinsicht ja auch auf dem Holzweg? Welche Erfahrungen und Gefühlsbereiche bei mir besonders problematisch waren, ahnte ich zwar, hatte aber noch nie »richtig« darüber gesprochen. Was ich als Therapieziel nicht in Worte fassen konnte, war die dringend nötige Veränderung im Umgang mit meinen Gefühlen. Doch damals war mir noch gar nicht bewusst, dass hier ein Problem lag. Ich konnte viele Empfindungen weder spüren noch zulassen, das ganze Spektrum der »negativen« Gefühle wurde automatisch in Traurigkeit, Unsicherheit und Angst umgewandelt. Oft wussten die anderen nicht, wie verärgert oder beleidigt, eifersüchtig, enttäuscht oder sauer ich war. Ich wusste es ja selbst nicht, denn ich drückte es sofort weg.
Genau wie das kleine Mädchen hoffte ich immer noch, die anderen würden meine Empfindungen schon »spüren«, was natürlich fast nie der Fall war. Nur Finn schaffte das. Auch positive Gefühle wie Freude und Dankbarkeit konnte ich nicht ausdrücken. Kritik und Wünsche zu äußern und die daraus entstehenden Probleme und Konflikte auszuhalten, lernte ich erst in der Therapie, vor allem durch die Übung mit dem »leeren Stuhl«. Dabei stellt man sich vor, der Mensch, dem man etwas sagen will, säße einem gegenüber. Die imaginierte Konfrontation war für mich aufwühlend und anstrengend, denn es fühlte sich an, als wäre der Betreffende wirklich anwesend. Zunächst bekam ich keinen Ton heraus, doch wenn das innere Eis erst einmal gebrochen war, ging es immer besser. Ich konnte endlich sagen, was mich störte, konnte schimpfen und sogar Kritik üben. Manchmal schlüpfte ich auch in die Rolle meines Gegenübers und versuchte mir vorzustellen, wie er mich wohl wahrnahm. Dass meine Therapeutin dabei war und mir den Rücken stärkte, mich genau beobachtete und anschließend alles mit mir besprach, gab mir Mut. Es war eine unerwartete Befreiung, und jedes Mal, wenn ich heute ehrlich sagen kann, dass ich etwas gut finde, oder zeigen kann, dass ich mich freue oder sauer bin, ist es wie ein kleiner Sieg. Je öfter man siegt, desto leichter geht es. Statt mich dauernd in andere hineinzuversetzen, begann ich, auch meine eigenen Gefühle wichtig zu nehmen. Das »Hineinversetzen«, meine große Stärke als Übersetzerin und Schriftstellerin, war im täglichen Leben ein Hindernis. Wer dauernd empathisch ist, vernachlässigt seine eigenen Bedürfnisse und lässt sich hervorragend ausnutzen. Zunächst wollte ich allerdings nur lernen, nicht bei jeder Überforderung und Überlastung umzufallen wie ein schlecht verwurzelter Baum.

Frau im Turm und kleiner Affe

Besonders am Anfang der Therapie halfen mir kreative Übungen aus der Gestalttherapie. Wochenlang hatten mich wieder Albträume und nächtliche Angstschübe geplagt. Marion riet mir, Kontakt mit meinen Ängsten aufzunehmen, mit ihnen zu sprechen. Ich muss sie ziemlich entgeistert angestarrt haben. Aber ich versuchte es.
In der nächsten Nacht stellte ich mir vor, wie meine Angst aussehen könnte, wenn sie eine wahrnehmbare Gestalt hätte. Ich war aufgeregt wie vor einer Prüfung, auf die man nicht vorbereitet ist. Was dann passierte, lässt sich nur schwer beschreiben. Als ich versuchte, mir meine Ängste vorzustellen, sah ich sie wie dunkle Gestalten an meinem Bett stehen. Ich sprach mit ihnen, sie antworteten, und ich verstand, dass sie mir nichts tun wollten. Vielleicht war das »Nachtvolk« ja schon immer da gewesen? Sicher ist, dass diese direkte Konfrontation eine Wende brachte. Meine diffuse Angst hatte plötzlich Gestalt angenommen. Eine Gestalt, die meine Fantasie für sie ausgesucht hatte. Ich spüre das Nachtvolk auch heute noch manchmal, vor allem im Winter, wenn die Nächte lang und dunkel sind.
Langsam beruhigte ich mich. Mein Anker war die wöchentliche Therapiestunde, auf die ich mich freute und die ich dankbar annahm, auch wenn es mir danach oft schlecht ging. Doch das ging vorüber. Marion arbeitete oft mit Symbolen und Bildern, und für mich war diese Entdeckung faszinierend. Die Rückkehr zu Mythen und Märchen tat mir gut. An die Stunden, in denen ich einen symbolischen Zugang zu meinen Problemen fand, erinnere ich mich besonders gern. Als ich versuchte, meinen inneren Zustand zu malen, zeichnete ich spontan einen hohen türlosen Turm, aus dem, ähnlich wie in »Rapunzel«, oben eine Frau herausschaut. Ich hatte mich in mich selbst zurückgezogen, lebte einsam, aber sicher hinter dicken, schützenden Mauern. Ich genügte mir selbst, hatte mich aber auch isoliert. Im Turm war es gemütlich und warm, ich hatte alles, was ich brauchte, es gab mehrere Etagen und eine Wendeltreppe, Platz genug für meine Katzen und alles, was mir am Herzen lag. Kontakt mit der Außenwelt war zwar möglich, doch ich konnte nicht heraus und keiner konnte zu mir herein. Ich zeichnete meinen Turm viele Male. Immer lag er auf einer Insel mitten im Meer. Später wurde er auch ein Bild für meinen Körper, in dem ich gefangen bin und den ich erst verlassen kann, wenn ich sterbe. Er gehört zu mir, aber er macht mir mit zunehmendem Alter immer mehr Probleme. Die Frau darin fühlt sich zeitlos, doch der Turm kommt in die Jahre und wird zunehmend reparaturbedürftiger. Sobald der Turm in Gefahr ist, bekommt die Bewohnerin große Angst.
Den seelischen Turm habe ich inzwischen verlassen, den körperlichen natürlich nicht. Es gibt übrigens eine reale Entsprechung zu meinem inneren Turm: In Irland entdeckte ich zu meiner großen Überraschung die alten Rundtürme und stand plötzlich unverhofft vor Türmen, die genau so aussahen wie mein Fantasiegemäuer. Ich empfand ein überwältigendes Glücksgefühl. Dort hatte man sich früher vor Feinden in Sicherheit gebracht, mit langen Leitern, die man dann entfernt oder hochgezogen hatte. Den schönsten Turm fand ich auf dem Friedhof von Glendalough. Es gibt sogar ein Foto von mir vor »meinem« Turm. Schade, dass ich nicht hineinkonnte, ich hätte gern aus luftiger Höhe herabgeschaut.
Während der Therapie fand ich viele Seelen- und Körpertiere, zum Beispiel mein »Herztier«. Seit dem ersten Panikanfall ist mir mein Herz besonders unheimlich. Es versetzt mich in Unruhe, wenn es stolpert, springt oder aus Furcht zu rasen beginnt. Früher verbrachte ich viel Zeit damit, es besorgt zu beobachten und darauf zu achten, ob es nicht etwa aus dem Takt geriet. Im Laufe meines Lebens wurde mein Herz mehrfach untersucht, weil man nicht sicher war, ob es nicht vielleicht doch körperliche Ursachen für meine Probleme gab. An meinem sensiblen Herzen scheiterte auch der Versuch, autogenes Training zur Entspannung einzusetzen. Sobald ich bewusst auf meinen Herzschlag achtete, schlug mein Herz Alarm und brachte mich in gefährliche Nähe eines Angstanfalls. Ich beobachtete meinen Körper ohnehin ständig, und vor allem dem Herzen tat das nicht gut. Unmöglich, sich so zu entspannen.
Meine damalige Hausärztin sah mein Problem und brach das Experiment ab. Offenbar sind Methoden, bei denen man sich selbst verstärkt beobachten muss, für Körperängstliche nicht nur ungeeignet, sondern sogar schädlich. Trotzdem erinnere ich mich gern an die Stunden mit Dr. Brand. Die Sätze, mit denen sie das autogene Training begann, habe ich mir bewahrt: »Ich bin ganz ruhig. Gedanken kommen und gehen. Geräusche dürfen sein.« Sie schafften es gelegentlich sogar, mich nachts zu beruhigen. Mein Herz sei völlig in Ordnung, versicherte mir Dr. Brand nach dem EKG. Trotzdem blieb es mir unheimlich.
Marion zeigte mir einen ganz anderen Weg, der wie für mich gemacht war. Ich sollte mir vorstellen, wie mein Herz als Tier aussähe. Ein merkwürdiger Gedanke! Mir fiel spontan ein kleiner Affe ein, der eigentlich ungestört herumhüpfen möchte und sich durch zu viel Kontrolle gestört fühlt. Zu Hause zeichnete ich ihn, zwischen Lianen und Baumwurzeln. Seitdem ist mein Herz kein Blut pumpender Hohlmuskel mit Kammern und Vorhöfen mehr, sondern mein Herztier, ein freundlicher kleiner Schimpanse. »Mein Herz ist ein Affe« heißt das bunte Bild, das bei uns im Flur hängt. Dem Affen kann ich gut zureden, ich kann ihn sogar beruhigen, wenn er gar zu wild wird. Ich weiß inzwischen, dass es »nichts Schlimmes« ist, wenn mein Herz manchmal »stolpert«, und weiß auch, dass Herzangstkranke äußerst selten wirklich herzkrank werden.
Während der Therapie lösten sich viele emotionale Knoten. Das Schönste war, dass ich endlich Freude und Begeisterung zeigen und mich überschwänglich bedanken konnte. Merkwürdigerweise hatte ich das vorher nie gekonnt. Selbst Herzenswünsche hatte ich als Kind nie äußern können. Zuerst fühlten sich die neuen Fertigkeiten fremd an, ich musste sie trainieren wie Muskeln, doch es ging immer besser. Irgendwann konnte ich sogar Ärger und Zorn ausdrücken, konnte mich wehren, wenn man meine Privatsphäre verletzte und mir wehtat,...

Table of contents

  1. [Titelinfo]
  2. Menü
  3. Inhaltsübersicht
  4. Widmung
  5. Erbsenprinzessin
  6. Spezifische Ängste
  7. Schwarzmeer und Schaukelsturz
  8. Kriegstrauma und delegierte Angst
  9. Liebeskummer und Espenlaub
  10. Unwetter und Tornados
  11. Prüfungsangst und Klaustrophobie
  12. Klassenkämpfe und Lampenfieber
  13. Zwangsjacke und »Kummerbund«
  14. Therapie und ferne Ziele
  15. Körperängste
  16. Fährfrau und Schreibhemmung
  17. Vorhöllen und Altersschwächen
  18. Sterben und Tod
  19. Kobolde und Sorgenketten
  20. Tiger im Vorzimmer
  21. Kleines Schlussplädoyer
  22. Danke
  23. Literatur
  24. Impressum
  25. Informationen zum Buch
  26. Informationen zur Autorin