II.Kasuistik 1: Im Sinkflug (Alik & Nure) â Ukraine
âDas gebeugte Knie
und die
hingehaltenen HĂ€nde
sind die beiden UrgebÀrden
des freien Menschen!â
Alfred Delp6
Ăber Kiew erhob sich ein strahlender, eisiger Februarmorgen. Die Maschine aus MĂŒnchen befand sich im Sinkflug, der Himmel bescherte keine Wolke, die Sicht auf die Stadt blieb tadellos.
Alik saĂ an einem Fenster einer Maschine aus Deutschland und sah voller Verzweiflung auf die nĂ€her rĂŒckenden GebĂ€ude, neben ihm seine Ehefrau Nure, auf der anderen Seite des Ganges die zwei Kinder. In wenigen Minuten wird die Maschine auf der Landebahn aufsetzen, die Familie wird nach neun Jahren wieder ukrainischen Boden unter ihren FĂŒĂen verspĂŒren. In Kiew wird sie niemand erwarten, niemand abholen und niemand wird die vierköpfige Familie in seine Arme schlieĂen. Alik blickt in diesen fĂŒr ihn und seine Ehefrau fĂŒrchterlichen Augenblicken der völligen Ungewissheit in eine fĂŒr ihn dunkle Zukunft. Die Familie befindet sich nicht freiwillig in dieser Maschine. Es handelt sich um einen Abschiebeflug aus Deutschland, in diesem Winter.
Hinter Alik und seiner Familie liegen neun Jahre Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, Jahre der Hoffnung, der Ablehnung, des Kampfes, der Verzweiflung, der Auflehnung, wiederum der Hoffnung und schlieĂlich der Resignation.
Bis zur endgĂŒltigen Landung und dem Ausstieg bleiben ihm noch wenige Minuten eines mehrstĂŒndigen Zwischenlebens, eines Lebens zwischen Deutschland und der Ukraine, die letztlich sĂ€mtliche Hoffnungen, TrĂ€ume und PlĂ€ne zunichte machen werden âŠ
Die Ehe zwischen Alik und Nure entspringt einer jahrelangen Jugendliebe. Beide entstammen sie mit ihren Herkunftsfamilien dem Volk der Kurden und gehören der Glaubensgemeinschaft der Jesiden an. Diese Glaubensgemeinschaft kennt verschiedene Kasten, Alik gehört der Kaste der Muriden an, Nure jedoch einer anderen Kaste. Eine Heirat zwischen verschiedenen Kasten ist nach den Vorschriften der Jesiden nicht zulÀssig. Die Liebe war stÀrker, geheiratet haben sie im Jahr 2011 dennoch. Er ist zu diesem Zeitpunkt 19, Nure 18 Jahre alt.
Nachdem Alik den Wehrdienst aus gesundheitlichen GrĂŒnden nicht ableisten musste, fand er â noch ohne abgeschlossene Berufsausbildung â Arbeit als Schreiner, in der NĂ€he von Slaviansk, denn die Probleme in ihren Heimatdörfern waren im Grunde vorgezeichnet. Konkrete Ăbergriffe gab es nicht, aber Drohungen wegen der unerlaubten EheschlieĂung.
Alik wird spĂ€ter â im Jahr 2014 erst â dem ihn untersuchenden Psychiater berichten, dass er als junger Ehemann die Angst kennengelernt habe. Seit der EheschlieĂung habe sich die bestĂ€ndige Angst wie eine Geschwulst in seinen Körper gefressen. Die junge Ehe ist schon bedroht, bevor sie ĂŒberhaupt erst begonnen hat. Das Heimatdorf der Ehefrau haben sie zwischenzeitlich verlassen. ZurĂŒck lĂ€sst Alik seine Eltern, einen noch minderjĂ€hrigen Bruder und mehrere Verwandte mĂŒtterlicherseits.
Nure erklĂ€rt spĂ€ter in der Ă€rztlichen Sprechstunde, dass mögliche Ăbergriffe ihrer Familie stets im Raum gestanden hĂ€tten. Es sei durchaus nichts Ungewöhnliches, dass Frauen in einer aus religiösen GrĂŒnden unerlaubt geschlossenen Ehe von Mitgliedern ihrer eigenen Familie oder aber von Mitgliedern der jesidischen Gemeinde getötet wĂŒrden.
Die erste Zeit des Zusammenlebens funktioniert leidlich. Auch in der NĂ€he von Slaviansk ist die Bedrohung noch greifbar. Dennoch schauen beide in die Zukunft, grĂŒnden eine Familie. 2013 wird der Ă€lteste Sohn Timur geboren. Bis zum FrĂŒhjahr 2014 kann sich die junge Familie ĂŒber Wasser halten. Weitere Kinder sind geplant. Zu diesem Zeitpunkt nimmt der einigermaĂen stabile Verlauf des Lebens ein jĂ€hes Ende.
In der Ostukraine herrscht seit dem FrĂŒhjahr 2014 in den Oblasten Donezk und Luhansk ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, in dem schwer bewaffnete prorussiche Separatisten gegen die offiziellen ukrainischen SicherheitskrĂ€fte kĂ€mpfen. Die Separatisten haben sich in Teilen der beiden Oblaste in den nicht anerkannten âVolksrepublikenâ Donezk und Luhansk konstituiert7.
Nach den Angaben der United Nations Human Rights Monitoring Mission in Ukraine (HRMMU) gab es seit Beginn des Konfliktes von Mitte April 2014 bis zum 15.11.2015 im Konfliktgebiet der Ostukraine mindestens 29.830 zivile und militÀrische Opfer (9098 Tote und 20.732 Verletzte).
Von diesen Entwicklungen ahnen Alik und Nure zu diesem Zeitpunkt noch wenig, wohl aber von der ihnen im FrĂŒhjahr 2014 zuteil werdenden Bedrohung â sie verĂ€ndert von jetzt auf gleich ihren gesamten Lebensentwurf.
An einem Dienstagmorgen befindet sich Alik in seinem Haus, kurz vor Aufnahme seines Arbeitsweges zur Schreinerei, als er auf der zum Anwesen fĂŒhrenden StraĂe SchĂŒsse vernimmt, kurz darauf auch EinschlĂ€ge an der Front des Hauses. Als er, noch eben geistesgegenwĂ€rtig, auf die StraĂe spĂ€ht, sieht er fĂŒnf vermummte und bewaffnete MĂ€nner auf die HaustĂŒr zukommen. Auf Kommando öffnet er, die MĂ€nner geben ihre IdentitĂ€t nicht preis, fordern ihn jedoch auf, mit ihnen zu kommen und sich militĂ€risch zu engagieren. Er verweist auf seine Untauglichkeit, gibt an, keinerlei militĂ€rische Grundausbildung erfahren zu haben. Das sei unerheblich, teilt man ihm mit, die Ukraine benötige MĂ€nner, die fĂŒr die neuen Republiken kĂ€mpften. Angstbesetzt kann er kaum reden, die Stille wird unaushaltbar. Die Bewaffneten verlassen das GrundstĂŒck.
Nure, die zu diesem Zeitpunkt nicht im Hause weilt, berichtet er zunĂ€chst nichts von dem Vorfall, will sie von Belastungen und weiteren Ăngsten fernhalten. Fortan leidet Alik unter erheblichen Ein- und Durchschlafstörungen, erleidet ZitteranfĂ€lle der Arme und HĂ€nde, SchweiĂausbrĂŒche und Angstattacken, fĂŒrchtet erneut um sein Leben.
Zwei Tage spĂ€ter wiederholt sich die annĂ€hernd gleiche Prozedur, die Vermummten kĂŒndigen an, ab jetzt regelmĂ€Ăig erscheinen zu wollen. Beim zweiten Mal tragen die MĂ€nner Uniformen, die er nicht kennt und nicht identifizieren kann. Nunmehr weiht Alik Nure in die VorgĂ€nge ein. Das Paar verbringt Tage und NĂ€chte der Angst, Alik will und kann seine Arbeitsstelle nicht verlieren. Nure ist wieder schwanger.
Das Szenario wird bedrohlicher. Alik teilt den in regelmĂ€Ăigen AbstĂ€nden vorsprechenden Soldaten mit, dass er als Jeside nicht kĂ€mpfen wird. Daraufhin wird er das erste Mal geschlagen. Weitere SchlĂ€ge werden folgen. Nachdem die MĂ€nner einmal seine Frau unsanft zur Seite stoĂen und ihren schwangeren Zustand missachten, dann auch das Kleinkind Timur bedrohen, fĂ€llt die folgenschwere Entscheidung.
Da sich die Hoffnung auf ein Ende der BedrĂ€ngnis nicht erfĂŒllt, beschlieĂen beide im Mai 2014 ihre Ausreise. Innerhalb der Ukraine wollen sie nicht bleiben. Sie kennen die Berichte ihrer Verwandten, dass Jesiden auch in anderen Teilen der Ukraine benachteiligt wĂŒrden, von Ausgrenzung und Abwertungen, von Arbeitslosigkeit und Inakzeptanz bedroht.
Noch im Mai 2014 begeben sie sich in die Hauptstadt der Ukraine und finanzieren sich mit dem letzten zurĂŒckgelegten Ersparten und einem von der Familie von Alik genĂ€hrten Geldbetrag den Flug nach Deutschland.
Nach ihrer Ankunft in Deutschland werden sie der Erstaufnahmeeinrichtung zugewiesen. Erstmals leben sie auf engem Raum mit Angehörigen zahlreicher Nationen. Die RĂ€umlichkeiten sind beengend, Konflikte sind vorprogrammiert, alles scheint zu zerflieĂen, die Hoffnung, das Leben, die Zukunft. Alik verliert die Kontrolle, den Boden unter den FĂŒĂen, wird von Angstattacken ĂŒberrollt. Erste medizinische Hilfe muss in Anspruch genommen werden.
SchlieĂlich werden sie umverteilt, in eine Gemeinschaftsunterkunft mit weiteren 600 Asylsuchenden, es gibt HĂ€user fĂŒr MĂ€nner, Frauen und Familien. Die Familie stellt einen Asylantrag.
Vorerst am Zielort, erfÀhrt Alik von den Möglichkeiten der Àrztlichen Versorgung in der Unterkunft. Er meldet sich zur psychiatrischen Sprechstunde, der Psychiater kommt 14-tÀgig zu festen Sprechstundenzeiten in die Einrichtung.
Endlich kann er sich öffnen, kann mit dem Arzt vertrauensvoll reden, ĂŒber seine Ăngste, seine Schlafstörungen, seine ZitteranfĂ€lle, seine Gewichtsabnahme, seine sich kontinuierlich entwickelnde Depression. Nure begleitet ihn manchmal zu den Sprechstunden, wenn sie das Kind versorgt weiĂ.
Das wöchentliche GesprĂ€ch in der Medizinischen Abteilung wird nun fĂŒr Alik ein lebensspendender Begleiter. Oft wiederholt sich der gleiche Ablauf. Wird er nach seinem psychischen Befinden befragt, kann er die ersten Minuten stets nur angeben:
âIch habe solche Angst ⊠bitte, Herr Doktor, ich habe solche Angst ⊠bitte, ich habe solche Angst!â
Die verordneten Psychopharmaka helfen nur bedingt, auch die zusĂ€tzliche Bedarfsmedikation stabilisiert nur annĂ€hernd. Entscheidend bleiben die GesprĂ€che, Alik spricht ĂŒber die ZukunftsĂ€ngste und die Hoffnungslosigkeit, die Perspektivlosigkeit und immer wieder ĂŒber die alles zersetzende Angst.
Die VerhÀltnisse in der Unterkunft werden unertrÀglich, die Familie sieht sich auch ethnischen Konfliktszenarien ausgesetzt. Rangeleien und Beschimpfungen treten auf, Alik gerÀt an die Grenzen seiner StabilitÀt.
Auf Empfehlung des behandelnden Psychiaters darf die Familie schlieĂlich im Jahr 2015 â kurz nach der Geburt der Tochter Alicia â die Unterkunft verlassen und im EinverstĂ€ndnis mit der Asylbehörde in eine winzige, vom Helferteam der Gemeinschaftsunterkunft vermittelte Wohnung umziehen. Der erste Schritt in Richtung einer doch noch lebenswerten Zukunft scheint geschafft. Alik wird eine Arbeit als Hilfskraft in einer Schreinerei vermittelt. Die wöchentlichen GesprĂ€che bei dem Psychiater kann er mittlerweile auf 14 Tage entzerren. Dann kommt es zu einer langsamen, jedoch spĂŒrbaren Verbesserung des psychischen Zustandes, Angstattacken treten nur noch selten auf. Der behandelnde Psychiater dokumentiert eine deutliche Stabilisierung.
Im Jahr 2016 setzt das Bundesamt fĂŒr Migration und FlĂŒchtlinge diesem hoffnungsgeprĂ€gten Bild ein jĂ€hes Ende. Mit Bescheid der Asylbehörde wird der Familie die FlĂŒchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, die AntrĂ€ge auf Asylanerkennung werden abgelehnt, auch der subsidiĂ€re Schutzstatus wird nicht zuerkannt. Alik wird aufgefordert, mit seiner Familie die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen.
Die Ohnmacht ist zurĂŒckgekehrt, der Kampf beginnt erneut â zunĂ€chst in der Seele von Alik. Von Angstattacken und ZitteranfĂ€llen gepeinigt, verliert er endgĂŒltig den Boden unter den FĂŒĂen. Die Ăngste steigern sich bis zur UnertrĂ€glichkeit. Alik kĂ€mpft sich durch AlptrĂ€ume, in der Nacht ist er davon ĂŒberzeugt, sogleich von Uniformierten abgeholt zu werden, die Fantasien werden grenzenlos. Er schreit, zittert, weint und bekommt Herzrhythmusstörungen. Der behandelnde Psychiater weist ihn schlieĂlich zur stationĂ€ren Behandlung in eine psychiatrische Klinik ein. Dort wird 14 Tage behandelt, dann medikamentös eingestellt. Nachdem die Ărzte ihm bescheinigen, nicht suizidal und fremdgefĂ€hrdend zu sein, wird er entlassen. Alik fĂŒhlt sich noch wie betĂ€ubt. Er kehrt in die Wohnung zurĂŒck.
Mittlerweile hat der von ihm beauftragte Rechtsanwalt Beschwerde gegen den Bescheid der Asylbehörde eingelegt. Der Psychiater erstellt eine gutachterliche Stellungnahme, legt die ĂŒberdauernde psychische Störung von Alik dar, geht auf die ZusammenhĂ€nge seiner Ăngste ein, beschreibt den Krankheitsverlauf und spricht sich aus Ă€rztlicher Sicht fĂŒr ein Abschiebeverbot aus.
Nun folgt eine mehrmonatige Odyssee, geprĂ€gt von einem Leben zwischen den Welten, Unsicherheiten, Hoffnungen, enttĂ€uschten Szenarien und wieder erneuten Hoffnungen. Die psychische StabilitĂ€t kehrt nicht zurĂŒck.
Mehrere Bescheide folgen aufeinander, von Verwaltungsgerichten, vom Verwaltungsgerichtshof, von behördlichen Stellen.
Die Familie gibt nicht auf, der Rechtsanwalt bleibt bemĂŒht, bleibt aktiv. Der behandelnde Psychiater setzt seine Ă€rztlichen Interventionen fort. Die weiteren Monate sind geprĂ€gt von schier unaushaltbaren ZustĂ€nden der Ungewissheit. Mittlerweile bildet auch Nure eine anhaltende Depression aus, kann zeitweise die Kinder kaum noch versorgen.
Das Jahr 2019 bleibt ein Jahr der stetigen Auseinandersetzungen mit den Asylbehörden, dem Einreichen Ă€rztlicher Atteste und Gutachten, Gerichtsterminen und dem Kampf gegen die Ăngste, die alle zu verschlingen drohen. Selbst die ReisefĂ€higkeit wird Alik von Ă€rztlicher Seite abgesprochen.
Im Februar 2020 ereilt die Medizinische Abteilung ein verzweifelter Anruf. Es meldet sich Alik, welcher mitteilt, er sei mit seiner Frau und den Kindern von den Behörden abgeholt worden, aus der Wohnung herausgeholt worden und befinde sich nunmehr auf dem Weg zum Flughafen. Es gebe keine Hoffnung mehr, man werde jetzt abgeschoben, er sende einen Hilferuf, er wolle nicht mehr leben, alles sei sinnlos geworden. Dann legt er auf. Wenig spÀter meldet sich Nure,...