1.1Teilhabe durch barrierefreie Informationstechnik: Grundverständnis und Perspektiven
Arne Frankenstein
Baer/Markard in von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Rn. 534 m.w.N.
Degener Die UN-Behindertenrechtskonvention, Grundlage für eine neue inklusive Menschenrechtstheorie, Vereinte Nationen 02/2010 S. 57 − 63
Eichenhofer Angemessene Vorkehrungen als Diskriminierungsdimension im Recht, Menschenrechtliche Forderungen an das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, 2018
Frankenstein Das Menschenrecht auf selbstbestimmte Lebensführung als Wesensmerkmal einer inklusiven Gesellschaft, in Dietze/Gloystein/Moser/u.a. (Hrsg.), Inklusion – Partizipation – Menschenrechte: Transformationen in die Teilhabegesellschaft? 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention – Eine interdisziplinäre Zwischenbilanz, 2020, S. 121 − 129
Frankenstein Universelles Design und Zugänglichkeit der Arbeitsplätze, in Wansing/Welti/Schäfers (Hrsg.), Das Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderungen. Internationale Perspektiven, 2018, S. 227 − 245
Theben Barrierefreiheit, in Deinert/Welti (Hrsg.), Stichwortkommentar Behindertenrecht, 2. Aufl., Baden-Baden 2018, S. 124 − 132
Welti Zum Verständnis von Barrieren und Barrierefreiheit aus rechtswissenschaftlicher Sicht, in Schäfers/Welti, Barrierefreiheit – Zugänglichkeit – Universelles Design. Zur Gestaltung teilhabefördernder Umwelten, 2021, S. 9 − 22
Welti Rechtliche Grundlagen einer örtlichen Teilhabeplanung, in Lampke/Rohrmann/Schädler (Hrsg.), Örtliche Teilhabeplanung mit und für Menschen mit Behinderungen, 2011, S. 55 − 68
Welti/Groskreutz/Hlava/Rambausek/Ramm/Wenckebach (Hrsg.) Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. BMAS-Forschungsbericht 445, 2014
Welti/Groskreutz Betriebliche Barrierefreiheit als Aufgabe der Schwerbehindertenvertretung, Arbeit und Recht 2016 S. 105 − 108
1.Teilhabe als gesellschaftliches Grundprinzip
2.Das Recht als Motor einer Entwicklung: Herstellung von Barrierefreiheit als Pflicht, um Teilhabe sicherzustellen
3.Barrierefreie Informationstechnik: Wo stehen wir aktuell? Errungenschaften und Herausforderungen der barrierefreien Informationstechnik
4.Effektivierung dringend erforderlich: Anforderungen an die weitere Entwicklung
1.Teilhabe durch barrierefreie Informationstechnik: Grundverständnis und Perspektiven
Teilhabe als gesellschaftliches Grundprinzip
Spätestens mit der Grundgesetzänderung im Jahr 1994, durch die das besondere Benachteiligungsverbot behinderter Menschen in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) als ausdrücklicher Bestandteil der Verfassung verankert wurde, hat sich ein Paradigmenwechsel im Umgang mit behinderten Menschen vollzogen, der mit der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) durch die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2009 weitere inhaltliche Konkretisierungen erhalten hat. Das medizinische Modell von Behinderung, bei dem sich der Blick einseitig auf die gesundheitlichen Beeinträchtigungen als individuelles Defizit richtete, wird seitdem – rechtsverbindlich – durch das menschenrechtliche Modell von Behinderung ersetzt.1 Danach entsteht die Behinderung nicht zuvorderst durch die Beeinträchtigung, sondern durch gesellschaftliche Strukturen. Nicht, dass jemand blind ist, verursacht Aussonderung oder Benachteiligung, sondern die Diskriminierungen und die Vorenthaltung von Menschenrechten, die entstehen, wenn die Gesellschaft, um nur ein Beispiel zu nennen, keine Leitsysteme zur selbstbestimmten Orientierung blinder oder hochgradig sehbehinderter Menschen baut – oder keine digitalen Systeme, die mit entsprechender Technik gleichberechtigt genutzt werden können. Damit ist ein klarer Handlungsauftrag verbunden, dem der föderale Staat im Mehrebenensystem, in dem er sich organisiert hat, für alle2 behinderten Menschen nachzukommen hat.
Fürsorge als Prinzip des sozialen Rechtsstaats gilt heute als tradiert, weil es das Risiko der Entmündigung und Bevormundung in sich trägt.3 Ihr gegenüber steht die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe als Grundprinzip unserer Verfassung und, soweit es um behinderte Menschen geht, der UN-BRK. Denn Autonomie, Selbstbestimmung und die Freiheit, gleichberechtigt an der Gesellschaft teilzuhaben und eigene Entscheidungen zu treffen, werden allgemein als Bestandteile der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) aufgefasst. Dieser Bezugsrahmen macht klar, dass die Berücksichtigung der Belange behinderter Menschen als Querschnittsaufgabe in allen Handlungsfeldern immer auch im Zusammenhang mit der Verwirklichung des höchstens Rechtsguts unserer Verfassung steht. Rechtmäßiges Verwaltungshandeln hat sich an ihr auszurichten.
2.Das Recht als Motor einer Entwicklung: Herstellung von Barrierefreiheit als Pflicht, um Teilhabe sicherzustellen
Warum ist Barrierefreiheit in diesem Zusammenhang so wichtig? Weil durch sie zu einem erheblichen Teil die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe operationalisiert wird. Nach Art. 9 UN-BRK verpflichtet sich Deutschland, dass behinderte Menschen den vollen Zugang zur physischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwelt, zu Gesundheit und Bildung sowie zu Information und Kommunikation haben, damit sie alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll und gleichberechtigt genießen können.
Die Europäische Union (EU) hat im Jahr 2010 die UN-BRK ratifiziert. Insoweit nimmt sie am Anwendungsvorrang des EU-Rechts und dem Gebot richtlinienkonformer Auslegung teil. Zudem hat die EU selbst die Weiterentwicklung des Rechts der Mitgliedstaaten durch eigene Rechtsakte bewirkt, so durch die VO EG 1107/2006 über die Rechte von behinderten Flugreisenden und von Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität, durch die VO EU 1177/2010 über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr, durch die VO 181/2011 über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr und durch die VO 1371/2007 über die Fahrgastrechte im Eisenbahnverkehr. Für den Bereich der digitalen Barrierefreiheit ist vor allem die Richtlinie 2016/2102 über den barrierefreien Zugang zu Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen zu nennen. Unter den Anwendungsbereich öffentlicher Stellen fallen dabei nicht nur Behörden im engeren Sinne, sondern auch privatrechtliche organisierte Rechtsträger, wenn sie zu dem Zweck gegründet sind, im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nichtgewerblicher Art zu erfüllen. Damit bewirkt die Richtlinie, dass die Verpflichtung zur Barrierefreiheit mehr als zuvor in den privaten Bereich hineinwächst. Dass die Herstellung von Barrierefreiheit nicht dem öffentlichen Sektor allein überlassen ist, sondern die sukzessive Weiterentwicklung auch den privaten Bereich betreffen muss, soweit er öffentlich zugänglich ist oder genutzt wird (Art. 9 Abs. 2 lit. b UN-BRK), zeigt auch die EU-Barrierefreiheits-Richtlinie 2019/882 (European Accessibility Act). Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, Vorgaben zu machen, um Produkte und Dienstleistungen umfassend barrierefrei zu gestalten. So muss z.B. der gesamte Online-Handel barrierefrei werden, lediglich Kleinstunternehmen sind von dieser Verpflichtung nicht erfasst.4
Auf Grundlage dieser umfassenden Verpflichtungen sind im Bund und in den Ländern einfachgesetzliche Vorgaben ergangen, die das höherrangige Recht umsetzen. Sie finden sich in den Behindertengleichstellungsgesetzen und E-Government-Gesetzen des Bundes und der Länder, im Vergaberecht und vielen anderen einfachgesetzlichen Rechtsquellen.5
3.Barrierefreie Informationstechnik: Wo stehen wir aktuell? Errungenschaften und Herausforderungen der barrierefreien Informationstechnik
Wenn allein rechtliche Regeln schon ihre Durchsetzung bewirken würden, könnte man sich mit Forderungen an den Gesetzgeber begnügen und sich im Übrigen entspannt zurücklehnen. Allein: So ist es nicht! Recht ist immer nur so stark wie seine Durchsetzung. Wo könnte man dies besser sehen als in der der Herstellung von Teilhabe und Barrierefreiheit im digitalen Bereich?
Die Praxis zeigt, dass allenthalben nichtbarrierefreie Verfahren entwickelt, vergeben und an den Start gebracht werden. Das Problem betrifft alle digitalen Angebote:
- –Fachverfahren, die behinderte Beschäftigte von der Nutzung im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit ausschließen oder Auszubildende an einer sachgerechten Vermittlung der Ausbildungsinhalte hindern. Die derzeitige Praxis zeigt, dass auch Fachverfahren, die an vielen Arbeitsplätzen eingesetzt werden, nicht barrierefrei sind und Anpassungen oft nicht in Aussicht stehen. Sicherlich ist zuzuges...