1 Kontrolle abgeben. Loslassen
Ich liebe es bergauf zu fahren. Wenn ich am Berg fahre, bin ich voll und ganz bei mir selbst. Ich kann den Rhythmus selbst bestimmen, wann ich aus dem Sattel gehe, in welcher Neigung ich in die Kurve fahre, mich völlig auf meinen eigenen Atem konzentrieren und mich meinem selbst erzeugten Speed hingeben. Dann bin ich bei mir selbst. Angstfrei. Ich brauche kein Technik-Seminar, weil ich intuitiv die richtigen Abläufe wähle. Weil es mir Spaß macht. Weil ich im Flow bin.
Ich habe den Grundsatz im Kopf eingespeichert, dass ich jeden Berg erklimmen kann. Das Dumme ist nur, dass man jeden Berg, den man hochfährt auch wieder runterfahren muss. Dann kehrt sich schlagartig das so positive Gefühl des Hochfahrens ins komplette Gegenteil um. Wenn ich den Berg runterfahre, dann habe ich Angst. Die ganze Abfahrt besteht nur noch aus Kurven mit so einer extremen Steigung, dass ich mich frage, wie ich diese überhaupt hochgekommen bin. Hinter der Kurve lauern unzählige Gefahren, die ich vorher nicht einsehen kann. Ich weiß auch nicht, wie die Beschaffenheit der Straße in der Kurve ist. Ist es rutschig vom Regen des letzten Tages? Hat es in der Nacht gefroren und liegt vielleicht eine Eisschicht auf der Straße? Gefühlt brettere ich mit 70km/h den Berg runter. Habe ich da noch Kontrolle über mein Rennrad mit den so dünnen Reifen? Ich habe Angst vor Geröll auf der Straße, das mich, wenn ich die Steine im ungünstigen Winkel erwische, garantiert zu Fall bringt. Im Nacken höre ich die Autoschlange, die langsam hinter mir her rollt und nicht überholen kann. Die Autofahrer, die immer wieder das Gaspedal aufheulen lassen, um mir indirekt zu signalisieren, dass ich schneller fahren soll. Ich klammere mich an meinen Lenker. Die Vorder- und Hinterbremse fest gedrückt. Vor lauter Anspannung zittert meine Hand schon. Mein Rücken tut weh. Und schon wieder zieht ein scheinbar völlig angstbefreiter Rennradfahrer im Mega-Speed an mir vorbei und lehnt sich sogar noch auf den Lenker, um noch schneller zu sein. Ich schaue in die Kurve und sehe einen Bus, der sich langsam die Serpentine hochwindet. Natürlich auf meiner Fahrbahn. Wie um Himmels Willen soll ich an dem vorbeikommen, wenn wir genau in der Kurve aufeinandertreffen? Ein Motorradfahrer saust an mir vorbei und schneidet mich so sehr, dass mein Rennrad vom Fahrtwind ins Schwanken gerät. Ich fühle mich wie ein Reaktionsautomat, der der Situation völlig ausgeliefert ist und nur noch irgendwie das Tal erreichen will.
Völlig fertig komme ich nach 20 Minuten Abfahrt unten am Berg an. Aufgelöst, erschöpft und ausgelaugt. Ich fühle mich unsicher. Natürlich hatte ich schon mehrere Stürze beim Rennradfahren. Natürlich nur bei Bergabfahrten. Sobald ich abwärts fahre, sind diese Bilder wieder präsent. Ich bin quasi gefesselt in den negativen Erfahrungen, die mein Gefühl der Unsicherheit noch weiter verstärken. Dazu kommt das Gefühl, die vielen Herausforderungen auf der Strecke nicht absehen und planen zu können. Die unzähligen Möglichkeiten, die mich zu Fall bringen könnten, zehren schon vor der Abfahrt an meinen Nerven.
Will ich das Rennradfahren aufgeben, nur weil ich die Berge, die ich liebe, hochzufahren, auch wieder runterfahren muss? Nein. Es geht ums Loslassen. Es geht darum, sich diesen Situationen bewusst zu stellen und wachsam zu agieren. Es geht darum, die Angst mit der richtigen Technik zu kanalisieren. Darauf bin ich natürlich nicht selbst gekommen. Ich habe den Rennrad-Guide im Trainingslager um Hilfe gebeten. Er hatte schon lange darauf gewartet, dass ich ihn endlich anspreche, damit er mich mit seinem Erfahrungsschatz unterstützen kann. Ein Angebot, das ich dankend annahm. Ab diesem Zeitpunkt war unser Team-Guide mein „role model“ und ich sein permanenter Schatten. Er fuhr vor, ich habe mich an ihn drangehängt. Eins zu eins jede seiner Bewegungen nachgespielt. Bei jeder Bergabfahrt. In jeder Kurve. Ich fühlte mich wie befreit von jemandem zu lernen, der Experte auf diesem Gebiet ist und mir eine unglaubliche Sicherheit vermittelte.
Heute mag ich das Bergabfahren immer noch nicht. Aber ich habe gelernt, in diesen Situationen ganz bei mir zu bleiben, anstatt mich zu verkrampfen. Um Unterstützung werde ich jetzt häufiger bitten, wenn ich alleine nicht weiterkomme.
Wenn Sie sich in einer schwierigen Situation befinden, lassen Sie ganz bewusst los. Jede Kurve ist anders und birgt unterschiedliche Herausforderungen, die Sie vorher nicht absehen können.
Seien Sie Betrachter der Gesamtsituation. Es ist nur eine Kurve im Einklang mit einer wunderbaren Landschaft. Die Schwierigkeit relativiert sich dadurch.
Nutzen Sie Ihren Atem, um Ihren Puls zu steuern. Atmen Sie langsam aus, wenn Sie in die Kurve fahren. Somit geht Ihr Puls herunter und Sie sind konzentrierter.
Fokussieren Sie sich stets auf den höchsten Punkt, der aus der Kurve heraus führt und schauen Sie nicht in die Kurve hinein. Somit bleiben Sie handlungsfähig.
Lernen Sie von anderen und fragen Sie aktiv um Unterstützung. Es ist ein befreiendes Gefühl, Hilfe anzunehmen und etwas zurückgeben zu können.
2 Der volle Fokus auf nur eine Sache
Manchmal kommt es mir vor, als wären wir getrieben. Getrieben von den Erwartungen, die wir erfüllen wollen. Getrieben von unseren eigenen Zielen, die wir erreichen möchten. Die permanente Informationsüberflutung, die unbegrenzten Möglichkeiten und das konstante Gefühl, pausenlos up-to-date sein zu müssen. Wir schlüpfen morgens in unsere Rolle, die wir bis zur Perfektion den Tag übererfüllen. Und manchmal leben wir eine andere Rolle nach Feierabend weiter. Getrieben von unserem Tagesplan und den nicht enden wollenden „to do’s“, die von allen Seiten auf uns einströmen. Als würde man unter einem Wasserfall stehen. Oder eben im täglichen Hamsterrad einfach laufen.
Wäre es nicht unglaublich befreiend, für ein paar Tage aus diesem Hamsterrad auszusteigen? Sich nur auf eine Sache zu konzentrieren und den ganzen Tag seiner Leidenschaft nachzugehen? Diesen Luxus habe ich mir erlaubt: Eine Woche Trainingsurlaub auf Mallorca. Am Anfang fragte ich mich, ob mich eine Woche Rennradfahren überhaupt ausreichend auslasten würde. Vorsorglich packte ich jede Menge Fachliteratur für die Abendstunden sowie mein Terra-Band für weiterführende Kraftübungen ein. Um es kurz und knapp zu machen: Diese verweilten bis zum Ende des Urlaubs in der Ecke des Koffers, in der sie nach Mallorca gereist waren. Meine Gedanken beschränkten sich genau genommen für fünf Tage voll und ganz auf die primitiven Grundfragen der Maslowschen Bedürfnispyramide: Essen, Sport, Essen, Schlaf. Und glauben Sie mir, damit war ich schon voll und ganz ausgelastet. Es ist befreiend, während einer 6-Stunden-Rennradtour nicht permanent auf sein Handy schauen zu können. Es ist befreiend, nur mit der Kleidung auskommen zu müssen, die man für seine Tagesroute am Morgen eingepackt hat. Es ist befreiend, den ganzen Tag einem Guide folgen zu können und sich keine Gedanken über die noch bessere Route, die kürzere Abzweigung oder die noch perfekteren Straßenbedingungen machen zu müssen. Und ja, es geht. Man kann abschalten und sich voll und ganz nur einer Sache widmen. Das Erstaunliche: Die Welt gibt es danach noch. Wenn man den Blick für das Wesentliche geschärft hat, ist das Leben sogar noch um ein Vielfaches lebenswerter geworden. Nicht, dass jetzt der Eindruck entsteht, ich würde den Rest meines Lebens gerne auf der Couch verbringen. Nein, das ist es nicht. Es ist eher das Gefühl wie gut es tut, sich voll und ganz auf eine Sache zu fokussieren und diese in aller Intensität zu durchleben. Wie will man wahrnehmen, wie schön die Küstenstraßen auf Mallorca sind, wenn man permanent in Gedanken bei der Mail von heute Morgen ist? Wie will man die Sonnenstrahlen auf dem Gesicht spüren, wenn man permanent Angst vor einem Sonnenbrand hat? Wie will man flexibel auf neue Routenbedingungen, plötzlich auftauchendes Wild auf der Straße oder eine unerwartete Fahrradpanne reagieren, wenn man seinen Tag schon vorher bis ins letzte Detail geplant hat?
Eine der großen Faszinationen beim Rennradfahren ist, immer offen und wachsam zu sein, was die Route und der Tag bringen. Ja, es kann plötzlich wie aus allen Wolken regnen, obwohl die Wetter-App nur Sonnenschein angezeigt hat. Ja, der Reifen kann plötzlich unerwartet platzen, obwohl man vorher alle Vorkehrungen getroffen hat. Und ja, es kann sein, dass man den Hausberg heute nicht als Erster erklimmt, da einem der Körper seine Grenzen aufzeigt. Ist man offen und wachsam für diese Situationen, wird man diese mit Bravour meistern. Ganz ohne Schockmoment. Und auch ganz ohne Frustration und schlechte Laune, weil es anders gekommen ist als geplant.
Am Ende des Tages einer erfüllenden Rennradtour zählt doch nur eines, den ganzen Tag voll und ganz bei sich gewesen zu sein. Jede Situation in sich aufgesogen und in aller Gänze genossen zu haben. Mit völliger Hingabe nur für diese eine Sache. Haben wir den Tag so erlebt, dann kommen die Ideen zur Lösung der Herausforderungen spätestens unter der warmen Dusche ganz von alleine. Und die Flut an Mails, die wir dann auf unserem iPhone abrufen, können wir mit Abstand und Weitsicht bewerten und mit einem ganz entspannten Lächeln beantworten.
Fokussieren und priorisieren Sie sich. Je schwerer die Ausstattung, je ganzheitlicher die Planung, desto enger ist der Handlungsspielraum.
Gestatten Sie sich selbst, sich voll und ganz mit allen Sinnen auf nur eine Sache zu konzentrieren.
Achten Sie auf Ihre Ressourcen. Reservieren Sie sich einen fixen Slot für Ihre persönliche Ich-Zeit.
Seien Sie stets wachsam und offen für Neues, damit Sie einzigartige Chancen und neue Routen wahrnehmen können.
Bleiben Sie flexibel und geben Sie ein Stück Kontrolle ab. Somit können Sie Ihren Zielhorizont stets an die aktuellen Gegebenheiten anpassen.
© iStockphoto, 1001nights
3 Auf dem Rennrad sind alle gleich
Die Zeit bis zu meinem ersten Rennradurlaub wollte nicht vergehen. Ich zählte die Monate, Wochen und schlussendlich jeden einzelnen Tag. Endlich war es soweit: Ich brach zu meinem ersten Trainingsurlaub nach Mallorca auf und war aufgeregt wie ein Kind. Der Flug von Düsseldorf nach Mallorca hatte fünf Stunden Verspätung, es regnete in Strömen, als ich aus dem Flieger stieg, und die Rennrad-Einweisung am ersten Abend war natürlich schon abgeschlossen, als ich endlich im Hotel anka...