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KAPITEL
DER JUNGE WARREN BUFFETT
Legenden ranken sich gern um Menschen, die in ihrem Leben etwas Außergewöhnliches geleistet haben. Insbesondere faszinieren uns Bröckchen aus ihren frühen Lebensjahren, und wir fragen uns, ob wir, wenn wir genau hinschauen, Hinweise darauf finden, wie sie zum Erfolg gelangt sind.
Viele populäre Geschichten umschwirren Warren Buffett, der allgemein als bester Investor der Welt bezeichnet wird. Die meisten kennen Sie wahrscheinlich:
Als er sechs Jahre alt war, verkaufte er an einem Tisch auf dem Gehsteig Süßigkeiten, Kaugummi und Limonade. Im Lebensmittelladen seines Großvaters kaufte er für 25 Cent einen Sechserpack Coca-Cola und verkaufte die einzelnen Flaschen für fünf Cent – mit 20 Prozent Gewinn beziehungsweise Rendite. Ein Jahr später wünschte er sich vom Weihnachtsmann ein Buch über Anleihen. Im Jahr danach wollte er mehr und las die Bücher seines Vaters über die Börse. Mit elf Jahren kaufte er seine erste Aktie. Mit 17 Jahren kaufte er zusammen mit einem Freund für 25 Dollar einen gebrauchten Flipperautomaten und stellte ihn in einem Friseursalon auf. Von dem Erlös kauften sie zwei weitere Flipper. Ein Jahr danach verkauften sie ihr Unternehmen für 1.200 Dollar.
Es gibt aber auch eine Geschichte, die Sie vielleicht nicht kennen, und wahrscheinlich ist sie die aufschlussreichste von allen.
Als der elfjährige Warren Buffett die Benson-Zweigstelle der Omaha Public Library durchstöberte, stieß er auf ein besonders aussehendes Buch mit silbern glänzendem Umschlag – „One Thousand Ways to Make $1000: Practical Suggestions, Based on Actual Experience, for Starting a Business of Your Own and Making Money in Your Spare Time“ von F.C. Minaker, im Jahr 1936 veröffentlicht von der Dartnell Corporation (Tausend Möglichkeiten, 1.000 Dollar zu verdienen: Auf wirklicher Erfahrung basierende praktische Vorschläge, wie man sein eigenes Unternehmen gründet und in seiner Freizeit Geld verdient). Wie damals üblich gab Frances Mary Cowan Minaker nur ihre Initialen an, um ihr Geschlecht zu verschleiern.
Stellen Sie sich einen Jungen in Omaha im US-Bundesstaat Nebraska in den 1940er-Jahren vor. Es gab keinen Fernseher, keine Videospiele, keine Personal Computer und keine Smartphones. Es gab zwar Radiosendungen und überaus selten an Samstagnachmittagen einen Film im Kino, aber die Unterhaltung der meisten Menschen und von Warren war die Lektüre – Zeitungen, Zeitschriften und Bücher.
Und nun stellen Sie sich vor, wie der junge Warren von der Bücherei nach Hause läuft, seinen neuen Schatz fest umklammert, ins Haus platzt, sich in einen Sessel fallen lässt, das Buch auf Seite 1 aufschlägt und in eine neue Welt des Geldverdienens eintaucht – eine Welt, die er bislang weder vollständig verstanden noch zu schätzen gewusst hatte.
Minakers Buch ist dick (408 Seiten) und umfassend. Neben Hunderten konkreter Vorschläge für neue Unternehmen bietet es klare, geradlinige Lektionen über Geschäftstüchtigkeit, Werbung, Verkaufsförderung, Kundenbetreuung und vieles mehr. Es strotzt vor Geschichten über Menschen, die eine gute Idee zu einem guten Unternehmen gemacht haben, und das manchmal mit atemberaubendem Erfolg.
Manche Namen kennt man bis heute:
Die mitreißende Geschichte von James C. Penney, der bei seiner ersten Arbeitsstelle magere 2,27 Dollar im Monat verdiente. Er legte sein kleines Kapital mit zwei Partnern zusammen und eröffnete am 14. April 1902 das erste „J.C. Penney“-Geschäft. Im ersten Jahr erzielte es 28.891 Dollar Umsatz und James’ Gewinnbeteiligung lag bei knapp über 1.000 Dollar.
Warren blätterte weiter und las die Geschichte des 23-jährigen John Wanamaker, der seinen Schwager Nathan Brown dazu überredete, ihre mickrigen Ersparnisse zusammenzulegen und in ihrer Heimatstadt Philadelphia ein Geschäft für Herrenbekleidung zu eröffnen. Vor ihnen lag die Aussicht auf einen landesweiten Bürgerkrieg, hinter ihnen lagen die Reste der Bankendepression des Jahres 1857, die zu massiver Arbeitslosigkeit und zum fast vollständigen Ruin von Herstellern und Großhändlern geführt hatte. Unbeirrt öffneten sie am 27. April 1861 die Türen. Acht Jahre später war Wanamaker & Brown der größte Einzelhändler der Vereinigten Staaten für Herrenkonfektion.
Während seine Tagträume wuchsen, las Warren weiter.
Als er zu Seite 153 kam, musste er vermutlich breit grinsen. In Kapitel 6 geht es darum, ein Geschäft am Straßenrand zu eröffnen – etwas, das der Jungunternehmer bereits seit mehr als fünf Jahren machte. Kapitel 10 enthält Dutzende Ideen für Dienstleistungsunternehmen, unter anderem das Aufstellen von Billardtischen mit Münzautomat in Geschäften und Kneipen. Aus heutiger Sicht sehen wir die gerade Linie von dieser Story zu Warrens Flippergeschäft sechs Jahre später.
Im selben Kapitel 10 namens „Selling Your Services“ findet sich eine andere Geschichte, die noch mehr Einfluss auf Warrens Denken hatte. Folgendes geschah:
Im Jahr 1933 kaufte ein Mann namens Harry Larson im örtlichen Drugstore ein, als ihn jemand (man weiß nicht genau, wer) fragte, wie viel er wiege. Harry drehte sich um und erblickte eine Münzwaage. Er warf einen Penny ein, erfuhr sein Gewicht und ging zur Zigarrentheke. In den wenigen Minuten, die er anstehen musste, benutzten sieben weitere Kunden die Pennywaage. Das weckte Harrys Aufmerksamkeit, und er beschloss, mehr darüber herauszufinden. Der Ladenbesitzer erklärte ihm, dass die Waagen gemietet waren und dass seine Gewinnbeteiligung von 25 Prozent monatlich circa 20 Dollar betrug (in heutigem Geld etwa 384 Dollar) – 75 Prozent gingen an das Unternehmen, dem die Waage gehörte.
Harry erzählte Minaker, damit habe alles angefangen. Er nahm 175 Dollar, die er gespart hatte, kaufte drei Waagen und erzielte schon bald einen monatlichen Gewinn von 98 Dollar. „Eine ganz schöne Rendite“, notierte er ironisch. Doch das, was Warren faszinierte, war das, was Harry als Nächstes tat. „Ich kaufte insgesamt 70 Münzwaagen. […] 67 kaufte ich von den Pennys, die die ersten drei abgeworfen hatten. […] Ich verdiente genug, um die Waagen zu bezahlen, und konnte auch ganz gut davon leben.“1
Das – ein Penny nach dem anderen – ist das Wesen des Zinseszinseffekts. Häufig denkt man dabei nur an Verzinsung im engeren Sinne. Wahrscheinlich kennen Sie den berühmten Ausspruch von Albert Einstein: „Der Zinseszins ist das achte Weltwunder. Wer ihn versteht, verdient ihn; wer ihn nicht versteht, bezahlt ihn.“ Aber im Kern geht es um ein breiteres, leistungsfähigeres Konzept: Gewinn verwenden, um weiteren Gewinn zu erzielen. Harry Larson begriff dies instinktiv, und das Gleiche galt für einen jungen Mann namens Warren Buffett.
Viele Jahre später bezog er sich auf die Münzwaagen, als er seine Denkweise beschrieb: „Die Waage war leicht zu verstehen. Ich kaufe eine Waage und kaufe vom Gewinn weitere Waagen. Sehr bald habe ich 20 Waagen, und die Leute wiegen sich 50-mal am Tag. Ich dachte mir: Da ist Geld zu holen. Der Zinseszinseffekt – was könnte es Besseres geben?“2 Genau dieses Denkmodell bildete den Umriss und die Architektur dessen, was später aus Berkshire Hathaway wurde.
Und damit ist der Bogen zurück zu Minakers Buch geschlagen, das Warren Buffett tiefgreifend beeinflusst hat. „One Thousand Ways to Make $1000“ wird seinem Titel zwar nicht buchstäblich gerecht, aber dem Geiste nach durchaus: Ich zähle 476 neue Geschäftsideen. Viele davon wirken in unserer heutigen hochtechnisierten Welt wie der Handel mit Kutscherpeitschen, aber andere sind bemerkenswert vorausschauend. Jedoch liegt der wahre Wert des Buches für uns Heutige in den grundlegenden Prinzipien, die es vermittelt. Minaker legt in ihrem nüchternen, belehrenden Stil wichtige grundlegende Konzepte über Geld dar. Insbesondere möchte sie, dass der Leser die geistige Einstellung – das grundsätzliche Temperament – versteht, die er braucht, um seine Dollarziele zu erreichen. Zusammengenommen bilden diese Passagen über das Wesen des Geldverdienens die Grundbausteine, die zur Bildung von Warren Buffetts Geldverstand beitrugen.
„Der erste Schritt zur Gründung eines eigenen Unternehmens“, schreibt Minaker, „besteht darin, sich damit auszukennen. […] Lesen Sie deshalb alles, was über das Geschäft geschrieben wurde, das Sie zu gründen beabsichtigen, um die gesammelte Erfahrung von anderen zu bekommen, und beginnen Sie Ihre Planung dort, wo die anderen aufgehört haben.“ Sie betont, dass man über beide Seiten der Frage alles herausfinden soll: wie man Erfolg hat und wie man nicht pleitegeht. Etwas über ein Geschäftsfeld zu lesen sei so, als säße man mit einem Geschäftsmann in dessen Empfangszimmer und bespräche seine Probleme mit ihm. „Nur diejenigen, die meinen, sie wüssten alles, was es zu wissen gibt – und dazu noch mehr – finden einen solchen Ideenaustausch unklug“, schreibt sie. Was wirklich unklug sei, schreibt sie, sei, Hunderte von Dollar (in heutigem Geld wahrscheinlich Hunderttausende oder gar Millionen) auszugeben und dann festzustellen, dass die Idee nicht funktioniert – und jemand anders sie bereits ausprobiert und darüber geschrieben hat, sodass man hätte erfahren können, „warum genau das keine gute Idee ist“.3
Um ihren Lesern einen Anstoß zu ihren Recherchen zu geben, listet Minaker im Anhang des Buches auf 35 Seiten Bücher, Zeitschriften, Periodika, Broschüren und amtliche Publikationen zu dem Thema auf, wie man ein Unternehmen gründet und betreibt. Insgesamt gibt es 859 Verweise darauf, wie man im gewählten Geschäftsfeld erfolgreich sein kann.
Diese Lektion ging an Warren nicht vorbei. Der größte Raum in der Chefetage des Firmensitzes von Berkshire Hathaway in Omaha ist nicht Buffetts Büro, sondern die Referenzbibliothek. Darin stehen Reihen von Aktenschränken, die mit Geschichten von Unternehmen angefüllt sind. Diese Schränke enthalten alle alten und neuen Jahresberichte aller bedeutenden börsennotierten Unternehmen. Buffett hat sie alle gelesen. Daraus hat er nicht nur gelernt, was profitabel funktioniert hat, sondern vor allem auch, welche Unternehmensstrategien versagt und Verlust gebracht haben.
Der zweite Schritt der Entwicklung von Geldverstand ist einfach auszudrücken, aber für die meisten Menschen schwer umzusetzen. Er lässt sich in einem Wort zusammenfassen: machen. Oder, wie Minaker es griffig ausdrückt: „Man fängt an, Geld zu verdienen, indem man anfängt.“4 Hunderttausende Menschen haben schon davon geträumt, ein eigenes Unternehmen zu gründen, schreibt sie, haben es aber nie getan, weil sie blockiert waren. Sie haben gewartet, dass sich die geschäftlichen Prognosen bessern, vielleicht haben sie darauf gewartet, dass sich ihre eigenen Aussichten bessern, oder sie haben einfach auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Minaker schreibt, dass sie oft den Anfang hinausschieben, „weil sie nicht klar nach vorn blicken können“. Dies beinhaltet die Warnung, sich bewusst zu sein, dass man den besten Zeitpunkt nie im Voraus kennt und dass das Warten auf ihn bloß eine Art ist, sich in der Sicherheit des Nichtstuns zu verstecken.
Eine weitere Art, wie sich dieses Phänomen äußert, ist laut Minaker, dass Menschen in Starre verfallen, weil sie zu viel Zeit damit verbringen, sich Rat von anderen zu holen. „Wenn man ausreichend viele Menschen um Rat fragt“, so schreibt sie, „tut man fast mit Sicherheit am Ende nichts.“5 Oberflächlich mag es scheinen, als widerspräche dies der ersten Maxime (alles lernen, was man kann), aber in Wirklichkeit ist es eine Frage des gesunden Menschenverstands und der Ausgewogenheit. Die richtige Balance zu finden, sich zu informieren und dann zu wissen, wann es ans Machen geht, ist ein wesentliches Element des Geldverstands.
Wer sich mit Warren Buffett beschäftigt hat, erkennt Minakers Ratschlag problemlos wieder. Ja, Buffett bespricht große Ideen mit seinem langjährigen Geschäftspartner Charlie Munger. Es stimmt aber auch, dass Buffett nicht den ganzen Tag am Telefon verbringt, wenn er glaubt, dass Berkshire einen guten Kauf tätigen kann. Niemals verschiebt er eine endgültige Entscheidung, weil die Börse gestiegen oder gefallen ist, weil die Wirtschaft wächst oder schrumpft oder weil steigende oder fallende Zinsen vorhergesagt werden. Wenn ein Unternehmen gut ist und zu einem guten Preis zu haben ist, schreitet Warren Buffett zur Tat – er „macht einfach“.
Neben ihren Ratschlägen bietet Minaker auch überzeugende Inspiration: „[Mit seinem neuen Unternehmen] in See zu stechen ist, als wäre man Kapitän eines Schiffes; man verlässt sich auf sein eigenes Urteilsvermögen und auf seine Fähigkeiten.“ Das bezeichnet sie als den befriedigendsten Teil des Lebens als Geschäftsmann oder Geschäftsfrau.6
Man kann sich gut vorstellen, wie der junge Warren diese Wahrheit erkennt. Von der Zeit an, als er mit sechs Jahren anfing, Süßigkeiten und Limonade zu verkaufen, war Warren Buffett sein eigener Chef. Er war standhaft zuversichtlich und liebte seine Unabhängigkeit. Als er die Highschool abschloss, war er der reichste 16-Jährige in Omaha. Er könnte durchaus der reichste aus eigener Kraft reich gewordene Teenager gewesen sein. Aber noch war er kein Millionär, wie er früher einmal geprahlt hatte, dass er es werden würde. Dafür musste er weiter die Schulbank drücken.
Im Jahr 1947 schrieb er sich an der Wharton School of Finance and Commerce der University of Pennsylvania ein. Obwohl ihn sein Vater zum Studieren drängte, ließ sich Warren nicht leicht motivieren. Er fand, er sei doch schon ziemlich gut und das College sei Zeitverschwendung. Er hatte ja schon mehr als hundert Bücher über Betriebswirtschaft und Geldanlage gelesen. Was konnte er da auf dem College noch lernen?
Damit hatte er recht. Nach zwei unbefriedigenden Jahren in Wharton war klar, dass er mehr über Bilanzierung ...