1. Ideen
27.07.2020
«Das Schlimmste ist, dass alles Denken zum Denken nichts hilft; man muss von Natur richtig sein, sodass die guten EinfÀlle immer wie freie Kinder Gottes vor uns dastehen und uns zurufen: Da sind wir!» (Goethe, Eckermann, 24.02.1824)
Im heutigen Sprachgebrauch wird gerne das Denken dem FĂŒhlen als Gegenteil gegenĂŒbergestellt â als gĂ€be es dabei keine GefĂŒhle und umgekehrt. Wie wir bei der historischen Betrachtung aber sehen, gibt es diesen Gegensatz ursprĂŒnglich nicht â denken schliesst das Empfinden, das Wahrnehmen mit ein. Das merken wir zum Beispiel, wenn wir an jemanden denken, den wir sehr lieben, oder an jemanden, den wir absolut nicht leiden können: Die begleitenden GefĂŒhle beim Drandenken sind deutlich wahrzunehmen. Und denken ist lösungsorientiert, also direkt mit dem Handeln verbunden, wie beim Vorgang des Ăberlegens deutlich wird. Das gemeingermanische Verb «denken» gehört mit der Sippe von «dĂŒnken» (= den Anschein haben, meinen) zu der indogermanischen Wurzel «*teng-» â empfinden, denken, kennen, wissen, wahrnehmen, erkennen. Denken bedeutet geistig arbeiten, ĂŒberlegen. Ăberlegen hat sich ergeben aus immer wieder umdrehen beziehungsweise neu legen, aus einem anderen Blickwinkel betrachten, um zu einem Ergebnis zu kommen. Indem sprachinhaltlich Denken und FĂŒhlen getrennt werden, wird uns suggeriert, wir mĂŒssten diese beiden ZustĂ€nde getrennt voneinander erleben können. Da das nicht möglich ist, empfinden wir eine Art von Inkompetenz, eine UnfĂ€higkeit, gesetzten MassstĂ€ben zu genĂŒgen.
ZurĂŒck zu unserer Betrachtung der Begriffe: Der Gedanke ist folglich das Ergebnis des Denkens â also eine Kombination aus Empfindungen, EinfĂ€llen, Wahrnehmungen, Erkenntnissen und so weiter; und das GedĂ€chtnis bezeichnet das Denken an frĂŒher Geschehenes und Erfahrenes, die Erinnerung.
06.08.2017
Sie tauchen im Bewusstsein auf wie Wolken am Himmel. Gehören meine Ideen mir? Gehören sie nicht allen? Haben nicht etwa die Ideen anderer dafĂŒr Pate gestanden? Eltern, Lehrer, Freunde, Gelesenes, vielleicht sogar Widersacher, alle haben dazu beigetragen, das Substrat gelegt, auf dem die eigenen Ideen gedeihen? Und falls sie wahr sind, in der Annahme, ihnen sei ein solcher Anspruch eigen, dann gehören sie ohnehin allen, denn Wahrheit ist unpersönlich.
03.05.2020
Eine Notatsammlung sollte nicht nur eigene Gedanken enthalten, sondern auch solche aus anderen Quellen, in deren Kontext Erstere entweder entstanden sind oder eine Geistesverwandtschaft aufzeichnen. Nur im Vergleich von Angelesenem und Erdachtem kann ich die verschiedenen noologischen Synthetisierungsprozesse beobachten.
16.03.2020
Weil ich auch spĂ€ter noch in meinen Erinnerungen und Ăberlegungen wĂŒhlen will. Es ist faszinierend, wie sich die eigene Meinung ĂŒber die Jahre Ă€ndert. Vieles bekommt eine andere Tiefe.
Der österreichische Autor Arthur Schnitzler empfand das Tagebuchschreiben als ein «wohltuendes GefĂŒhl, mit jemandem zu plaudern, der einem nicht widersprechen kann», er bezeichnete aber das Tagebuch als «Spucknapf seiner Stimmungen» und Goethe meinte «Jeden Tag hat man Ursache, die Erfahrung aufzuklĂ€ren und den Geist zu reinigen» (Maximen und Reflexionen).
04.03.2019
Unser Gehirn verarbeitet pro Sekunde etwa 400 Milliarden Schaltimpulse. Davon sickern rund 2000 der verarbeiteten Informationen zum Bewusstsein durch â eine Art Destillat oder ein reprĂ€sentativer Querschnitt. Das entspricht einem VerhĂ€ltnis von 400 Milliarden zu 2000. Ca. 60 000 Ideen sollen tĂ€glich durch unseren Kopf gehen und gar manchen Reigen tanzen. Aus 100 Milliarden Neuronen geboren, jedes 10 000-fach mit seinem Nachbarn verbunden, also mehr interaktive Verbindungen als Himmelskörper im Weltall. Die Informationen, die in unser Bewusstsein sickern, sind Schlussfolgerungen von etlichen spezialisierten Mechanismen. Manche sammeln Sinnesinformationen aus der Welt, andere analysieren und bewerten sie, prĂŒfen Ungereimtheiten, fĂŒllen LĂŒcken aus (dichten oft willkĂŒrlich hinzu und spekulieren) und versuchen zu ermitteln, was das alles zu bedeuten hat (Vasanta, 2007, S. 114). Und niemand scheint sich Gedanken darĂŒber zu machen. Es gehört zu den unbedachten und ungenannten SelbstverstĂ€ndlichkeiten des Menschseins, ausser der neuronale Reigen mutiert zum Veitstanz. Dann wird der oder die Betreffende pharmakologisch oder physisch aus dem Gemeinwesen ausgeschlossen.
04.07.2020
Das Fragment, nicht die Abhandlung kommt der Wirklichkeitserfahrung am nĂ€chsten. Das Fragment setzt sich immer mehr durch als der angemessenere, wahrere Ausdruck, dies unter anderem wegen des Verlusts des Glaubens an die philosophischen Systeme. «Sinn oder Bedeutung können wir in der reinen Soheit des Territoriums nur durch Fragmentierung schaffen, denn Bedeutung heisst hindeuten, und hindeuten ist Zweiheit. Das ist der Prozess der Symbolisierung. Eine Landkarte, jedes Symbol entsteht durch Grenzziehung, durch Teilung.» (Wilber, 1996, S. 236) Dieser Akt der Symbolisierung geschieht aber im Unbewussten, weshalb Levi-Strauss das Unbewusste als den Ort des Symbolischen definiert und Jacques Lacan behauptet, es sei strukturiert wie eine Sprache. Dies, weil unsere Wörter und Symbole zutiefst dualistisch sind und DualitĂ€t dazu fĂŒhrt, dass etwas unbewusst wird (nach Wilber, 1996, S. 236). Und ĂŒber dieses Unbewusste sagt Fromm, dass es stets «den ganzen Menschen mit all seinen Möglichkeiten fĂŒr Licht und Dunkelheit reprĂ€sentiert; es enthĂ€lt stets die Grundlagen fĂŒr die verschiedenen Antworten, die der Mensch auf die Frage des Lebens geben kann. (âŠ) Das Unbewusste ist der ganze Mensch â abzĂŒglich des Teils, der seiner Gesellschaft entspricht.» (Fromm, 1972, S. 135)
05.03.2019
Die Menschheit als Ganzes scheint Ă€hnlich zu funktionieren wie das einzelne Gehirn. Offenbar findet jedes Neuron seinen Gegenpart in einem anderen, jeder Neuronenverband in einer Gesellschaftsstruktur, sodass Menschengruppen wie von einem Ăbergehirn gesteuert agieren. Eine solche Idee ist nicht neu. Bereits Hobbes bezeichnete in seinem Leviathan den Staat als «kĂŒnstlichen Menschen», der wie eine Maschine aus einzelnen Teilen zusammengesetzt ist. Eine solche Idee des Staates als Agglomerat von einzelnen Körpern mag auf den ersten Blick weit hergeholt sein, aber wenn wir bedenken, wie sich die Gehirne der Massen synchronisieren können, sei es auf Popkonzerten, wo alle unisono laut und mit denselben rhythmischen Bewegungen ihre Phrenesie austoben, oder uns Heere vorstellen, deren Soldaten einander befeuern, um in verbundener Eintracht fĂŒr das Vaterland in den Tod zu gehen. Ob sich Gehirnzellen synchronisieren oder interpersonell Gehirne gleichschalten, der Unterschied ist kein qualitativer, sondern ein quantitativer: «[A]ll unsere inneren Rhythmen lassen sich auch gruppendynamisch synchronisieren. Denselben Stimuli ausgesetzt, gleichen sich innerhalb einer Gruppe Atmung und Herzfrequenzen aneinander an, wir werden wie quasi ein Körper in einem Raum.» (Schrott & Jacobs, 2011, S. 317) Wir werden an Spinozas Begriff des «conatus» erinnert, des Bestrebens nach Erhaltung des eigenen Seins, dem alle Mitglieder der organisierten Gesellschaft, die wir menschlichen Körper nennen, unterworfen sind. Dieser Einklang hat seinen Ursprung in unseren Spiegelneuronen. Deren Rolle in Menschengruppen erlĂ€utern die Neurophilosophen Rizzolatti und Sinigaglia: «Das unmittelbare Verstehen in erster Person der Emotionen der anderen, das vom Spiegelneuronenmechanismus ermöglicht wird, ist ⊠die notwendige Voraussetzung fĂŒr das empathische Verhalten, das einem Grossteil unserer interindividuellen Beziehungen zugrunde liegt.» (Rizzolatti & Sinigaglia, 2008, S. 191) Es sei nebenbei bemerkt, dass Hobbesâ Ăberzeugung, dass der Mensch sich von Natur aus nicht durch Wohlwollen charakterisiert, unter diesem Aspekt obsolet wird. Anstatt «homo homini lupus» mĂŒsste es wohl heissen «homo homini speculum». Ebenfalls fragwĂŒrdig wird Schopenhauers Konzept des «Willens», und jene Ăberzeugung, dass der Mensch dieses unvernĂŒnftige, böse Prinzip durch moralisches Handeln und Mitleid, also durch «Willensverneinung» ĂŒberwinden muss, denn der Mensch ist von Natur aus aufgrund des Spiegelneuronenmechanismus empathisch veranlagt.
Die Tatsache, dass der Resonanzmechanismus der Spiegelneuronen prĂ€reflexiv ist, erklĂ€rt, warum Menschenmassen unter UmstĂ€nden gegen jede Einsicht RattenfĂ€ngern folgen und auch, warum Individuen, ohne sich dessen bewusst zu werden, sich deren Gefolge annĂ€hern und plötzlich auch in deren Gleichschritt fallen. WĂ€hrend die Vernunft in einer Anfangsphase vielleicht noch hĂ€tte «einschreiten» können, ist sie spĂ€testens dann ĂŒberrumpelt. Forscher am University College London (UCL) konnten kĂŒrzlich nachweisen, dass unser Gehirn in diesem Stadium blind gegen jedes Gegenargument wird und wir nicht mehr in der Lage sind, unsere Meinung zu Ă€ndern (Max Rollwage et al., 2020). SpĂ€testens dann aber dĂŒrfte Hobbes Bild des wölfischen Menschen wieder seine Berechtigung finden.
06.08.2017
Gedanken gleichen Schmetterlingen. Wir brauchen die Schmetterlingsnetze der Sprache, um sie einzufangen. Das Wort aber tötet sie in gewisser Weise. Wir können die Schönheit der Wortschöpfungen nur mehr als Formaldehydkonserve oder als in einem Schaukasten aufgespiesste Leiche eines einst flatternden Wesens betrachten. Erwin Schrödinger braucht die Metapher des Seidenspinners, um dasselbe PhĂ€nomen zu beschreiben: «[D]ie AusprĂ€gung des Gedankens in das mittelbare und merkbare Wort gleicht der Arbeit des Seidenspinners. Erst durch diese Formung erhĂ€lt der Stoff seinen Wert. Aber am Licht des Tages erstarrt er, wird ein Fremdes, nicht mehr Formbares. Wir können damit denselben Gedanken zwar leichter und nach Wunsch zurĂŒckrufen, aber wir können ihn vielleicht nie wieder in derselben UrsprĂŒnglichkeit erleben wie vorher. Darum bleiben die letzten und tiefsten Erkenntnisse immer voce meliora.» (Schrödinger, 1963, S. 22) In seinem Dialog Phaidros erfahren wir von Platon, dass der Ă€gyptische König Thamus Vorbehalte gegen die Erfindung der Schrift durch Theut hatte, denn er bemerkte: «Von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei.» Und im 2. Korintherbrief lesen wir: «Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.» Diesem Mangel unterliegt auch die bildende Kunst. Es war Leonardo da Vinci, der mit dem Begriff componimento inculto seinen Versuch beschrieb, die erstarrte Form in der Malerei zu ĂŒberwinden. Die Form ist nichts anderes als das Produkt eines illusorischen Moments, ein Standbild, das mit dem Wandel des Wirklichen inkommensurabel bleibt. Deshalb kann authentische kĂŒnstlerische Form nie abgeschlossen sein und muss immer auch ihre Selbstzerstörung oder Dekonstruktion mitthematisieren. Bei Leonardo waren es das stetige Ăndern seiner Kompositionen â wie dies dank der infraroten Reflektografie nachgewiesen werden konnte â, seine unvollendeten Werke sowie seine Abneigung gegen den formalen Perfektionismus.
03.04.2018
MĂŒhsam, verklumpten Ideen ihre ursprĂŒngliche Form wiederzugeben. Diese Klumpen erinnern an die Mistkugeln des altĂ€gyptischen «Cheper», die SphĂ€ren, die der MistkĂ€fer aus vegetarischem Dung rollte. Vergraben dienten sie ihm als Nahrungsquelle, die er natĂŒrlich wieder zerlegen musste. Doch hier stellt sich wieder das Huhn-Ei-Problem. Verklumpen sich die Ideen oder entstehen sie erst aus der amorphen Masse? Die Frage hat auch eine theologische Dimension. Die Mistkugel, die der SkarabĂ€us vor sich herrollt, stand im alten Ăgypten fĂŒr die göttliche Sonne, aus der die Welt entstand. Ideen als göttliche Funken? Heute denkt man eher an Sisyphus, der das Sinnlose vor sich herschiebt.
04.04.2018
Die Gedanken sind der grösste Feind des Magens und der SexualitÀt.
09.04.2018
KĂ€mpf nicht dagegen an, wehr dich nicht, betrachte nur das vorĂŒbergehende Schauspiel deiner Gedanken. Lass sie einfach in dein Bewusstsein hinein und wieder hinaus wandern. Den einen oder anderen kannst du zum Verweilen einladen. Auch darunter verstehe ich Freiheit.
18.04.2018
Das Gehirn, eine Gedankenpumpe (Valentino Braitenberg), die fortwĂ€hrend etwas aus der Tiefe nach oben schöpft, das sonst niemand registrieren wĂŒrde. «Meistens ist es mit Gefahrenabwehr beschĂ€ftigt, doch wenn es uns gelingt, das Gehirn in den Default-Modus zu schalten und die Hirnwellen einen sanft wogenden Ozean niederfrequenter Wellen bilden, können aus ihm Lichter hochfrequenter Aufmerksamkeitswellen herausragen, (âŠ) ein Hirnwellenmeer der Leere, aus dem vereinzelt Felsen der absoluten und interesselosen Aufmerksamkeit herausragen. (âŠ) Zen-Buddhisten koppeln die vorderen von den hinteren Hirnarealen ab und trennen dadurch die Sinneswahrnehmungen von ihrer Bedeutung. Es gelingt ihnen also, die Welt bedeutungsleer zu machen und sie in ihrem Sosein zu betrachten: unaufgeregt, funktionslos und objektiv.» (Birbaumer & Zittlau, 2018, S, 15â18)
12.05.2020
Wir brauchen einen Resonanzraum fĂŒr das Abenteuer des Denkens, ein GefĂ€ss fĂŒr die Gedanken, die uns plötzlich kommen und die zunĂ€chst noch nicht uns gehören. Sie sind unerschöpflich und bedrĂ€ngen uns mit ihrer Sprunghaftigkeit. Manchmal bleiben sie uns fremd, dann sind sie wiederum trivial, oder sie bohren sich wie ein Stachel in unsere Vorstellungswelten hinein. FĂŒr den Geist heisst es, sich ihnen entgegenstellen, sie mustern und entweder Gefallen an ihnen finden oder sie wegscheuchen. Doch das gelingt kaum, denn hĂ€tten wir den Widerspruch nicht, unsere Gedankenpumpe wĂŒrde stillstehen. In seiner Schrift Sic et non beschĂ€ftigt sich AbĂ€lard mit den WidersprĂŒchen in der Bibel und sieht den Zweifel als Antrieb fĂŒr Forschung und Erkenntnis.
15.05.2020
Manchmal stossen wir auf Beobachtungen, die unsere Denkweise verĂ€ndern. Zeitweilig passiert das Gegenteil: Wir stellen fest, dass unsere gegenwĂ€rtige Auffassung die Bedeutung einer frĂŒheren Beobachtung verĂ€ndert. Manchmal, wenn wir GlĂŒck haben, fĂŒhrt die Neubewertung einer Beobachtung zu einer Fokussierung unseres Denkens (nach Damasio, 2005, S. 223). Es kommt aber auch bei regelmĂ€ssig abwechselnder BeschĂ€ftigung mit zwei verschiedenen Gedankenkreisen vor, «dass in demselben Intellekt lange Schlussketten fast ohne Kontakt nebeneinander herlaufen. Die Herstellung des Kontakts (die nicht selten zu wichtigen neuen Erkenntnissen fĂŒhrt) hat dann einen sehr Ă€hnlichen Charakter wie der rege Gedankenaustausch zwischen zwei verschiedenen Individuen.» (Schrödinger, 1963, S. 56) Wundersam dabei ist unsere FĂ€higkeit, aus Ideen Ideen höherer Ordnung zu gewinnen und Hierarchien zu bilden. Spinoza spricht in diesem Zusammenhang von der «Idee von Ideen». Die Vorstellung der Rekategorisierung von Ideen finden wir auch in den Schriften von Platon und Aristoteles.
27.04.2018
«Wenn man lange genug gegen jemanden oder gegen etwas denkt, wird man ein Gefangener dieses Denkens und liebt diese Knechtschaft schliesslich.» (Emil Cioran)
12.05.2018
«Barthesâ lebenslanges Interesse am PhĂ€nomen der Leere, des Neutralen und Bedeutungslosen ist wohl erst vor dem Hintergrund der nicht enden wollenden Erzeugung von Sinn zu verstehen. Der Semiologe lebt von der unaufhörlichen Zeichenproduktion der Gesellschaft, aber im gleichen Augenblick, in dem er die Machenschaften des Sinns aufdeckt, entwirft er auch die Utopie eines Nullpunkts: eines Ortes, an dem der LĂ€rm der Botschaften vorĂŒbergehend zum Stillstand kĂ€me, ohne dass dieser Stillstand selbst sogleich wieder die Form einer Botschaft annehmen wĂŒrde.» (Peter Geimer: «Der gute Wein und die Machenschaften des Sinns», NZZ, 07.11.2015) Das will auch der Meditierende.
12.05.2018
Was treibt meine Gedankenpumpe an? Es ist die Verwunderung vor den Wundern der Existenz und deren vielen unlösbaren WidersprĂŒchen. Es sind gerade diese UnwĂ€gbarkeiten, die unser Denken beflĂŒgeln. Es ist auch die Abscheu vor jener oberflĂ€chlichen Weltbetrachtung und Reduktion des Menschlichen auf ein paar ErklĂ€rungen der Allwissenden. Heute griff ich aus purer Lust und Launigkeit in mein BĂŒchergestell und zog blindlings ein BĂ€ndchen heraus: Pascals Gedanken. Ich schlug eine beliebige Seite auf und las: «Die ganze sichtbare Welt ist nur ein unscheinbarer Strich im weiten Kreis der Natur. Keine Idee reicht an sie heran, wir können unsere Gedankenbilder noch so sehr ĂŒber die vorstellbaren RĂ€ume hinaus ausweiten, wir bringen doch nur Atome im Vergleich zu den wirklichen Dingen hervor. (âŠ) Wenn der Mensch zu sich selbst zurĂŒckgekehrt ist, soll er bedenken, was er ist im Vergleich zu dem, was ist, er soll sich als Verirrter betrachten, und er soll von dieser kleinen Kerkerzelle aus, wo er seine Heimatstadt gefunden hat â ich meine das Universum â, es lernen, die Erde, die Königreiche, die StĂ€dte, die HĂ€user und sich selbst nach ihrem richtigen Wert zu schĂ€tzen. Was ist denn ein Mensch im Unendlichen.» (Pascal, 1997, S. 130â140; 199/72) Ich blĂ€ttere weiter und lese: «Daher glaube ich, dass es Triebfedern in unserem Kopf gibt, die so angeordnet sind, dass man, wenn man die eine berĂŒhrt, auch die entgegengesetzte berĂŒhrt.» (Pascal, 1997, S. 328â329; 519/70) Hier klingt zunĂ€chst Heraklit (544â483 v. Chr.) an, der im Kampf der GegensĂ€tze die Antriebskraft aller Entwicklung sieht, wobei er einrĂ€umt, dass allen VerĂ€nderungen in der Natur eine harmonische göttliche Ordnung zugrunde liegt, die er als Weltvernunft («Logos») begreift. GemĂ€ss Jakob...