DIE FLÖTENKINDER
Der HERR hat mir geholfen, darum wollen wir singen und spielen, solange wir leben, im Hause des HERRN!
Jesaja 38,20
Poch, poch … Es klopft an die gelb-grün gestrichene Holztür meines kleinen Appartements. Ich öffne die Tür und blicke in die etwas schüchtern lächelnden braunen Augen von Anurhada und Lilima: „Sister …“ Sie halten mir ihre zur Schale geformten zarten Hände hin, gefüllt mit fünf bunten Bonbons. Ihr Abschiedsgeschenk, unendlich kostbar, für sie und für mich!
Nach einer intensiven Unterrichtswoche, Blockflöte und Notenlehre, erlebten wir eine spannende Abschlussveranstaltung vor sämtlichen Lehrern und Schülern, mindestens fünfhundert Menschen drängten sich im Innenhof der Schule dicht an dicht.
Zwei Mädchen, Padma und Tanusha, begrüßen das Publikum und führen dann durch die einzelnen Programmpunkte des Festes. Ich staune über ihr selbstbewusstes Auftreten und gekonntes Moderieren. Herrliche Tänze in farbenprächtigen Kleidern werden von einigen Mädchen souverän aufgeführt, coole Choreografien von smarten Jungs in Jeans, Dankesreden über den Unterricht von Flötenschülerinnen gehalten, ebenso von Bischof Jeevan Komanapalli.
Dann kommen die Lieder auf der Blockflöte dran. Aufgeregt und fröhlich trappeln einhundertzwanzig nackte Füße auf die Bühne nach vorne, drängeln und schieben sich auf den knappen Quadratmetern hin und her, finden schließlich ihre abgesprochene Position und warten gespannt auf mein Einsatzzeichen. Es wird still und ich gebe das Tempo des flotten Begrüßungsliedes mit Schnipsen und Zählen an, „1-2-3-4“.
„Hello everybody, hello everybody …“, schallt es aus sechzig kraftvollen Kinderkehlen. Dann kommt der Wechsel: Jedes Kind greift nach seiner Blockflöte und spielt die Melodie wie selbstverständlich mit. Es folgen „Jesus Christ is Lord, Hallelujah, he loves you and me“ und andere Lieder. Die Kinder spielen und singen begeistert, sind rhythmisch sicher, und führen die eingeübten Tanzschritte mit Leichtigkeit aus. Hinzu kommen die zu den Texten passenden, von uns gemeinsam überlegten Bewegungen. Den Abschluss bildet das erklärte Lieblingslied aller: „Dancing in the lovely rain“. – Es gibt viel Applaus für alle Darbietungen. Was für ein Fest und welche Wertschätzung für diese wunderbaren Kinder!
Manche Lebensgeschichten der Kinder haben mich tief berührt. Zum Beispiel Joshna, die als Kleinkind von ihrer Mutter verlassen und ihrem alkoholkranken Vater überlassen wurde. Ihr Großvater nahm sie schließlich auf, versorgte sie sieben Jahre und brachte sie später in dieses Mädchenheim. Ein wunderschönes Mädchen mit einem tiefernsten, schüchternen Blick in den dunklen Augen. Oder Uma, Anurhada und eine weitere Schwester, die alle drei von ihrer Mutter im Kinderheim abgegeben wurden. Der Vater ebenfalls Alkoholiker.
Die Verabschiedung am nächsten Tag ist herzlich und es fließen einige Tränen. Nach rund drei Stunden Autofahrt komme ich an in Visakhapatnam, dem nächsten Einsatzort für die Blockflötenworkshops. Mit viel Hallo der Kinder, einem großen Willkommensplakat und dem süß duftenden traditionellen Blumenkranz werde ich empfangen. Hier in Visakhapatnam gibt es ebenso Kinder mit sehr traurigen Schicksalen. Zum Beispiel Divia, die als Zweijährige miterlebte, wie ihr Vater vor ihren Augen die Mutter tötete, nur knapp von der Großmutter vor ihm gerettet und dann zu Bischof Singh gebracht wurde.
Am nächsten Tag starte ich sechs Zehnergruppen mit jeweils einer Stunde Unterricht pro Tag. Ich habe einen Schulraum mit Tafel und einem Keyboard zur Verfügung. Sechzig neue klangvolle Namen sind zu lernen, Namen wie aus 1001 Nacht: Pravalika, Akshaya, Prema, Steeven Raj, Harsha Vardhan, Ganesh, Bushan, Sardhya … Sobald ich mir die Namen merken und ein Mädchen oder einen Jungen mit seinem Namen ansprechen kann, strahlen sie oder lachen sich auch mal über meine lustige Aussprache kaputt. An diesem Ort sind alle Schüler Anfänger, und ich verteile die nagelneuen schönen Blockflöten, die ohne Kontrolle, dem Herrn sei Dank, durch den Zoll am Flughafen in Delhi gingen. Für einige Kinder ist es wie Weihnachten: Sie fragen noch am nächsten und darauffolgenden Tag immer wieder, ob sie die Flöten wirklich behalten dürfen.
Die ersten selbst erzeugten Töne auf der Flöte sind ein Erlebnis: Mahesh pustet vorsichtig in die Öffnung am Mundloch des Flötenkopfes, ein leiser Ton formt sich. Sofort setzt er erschrocken die Flöte ab. Aber dann strahlt er über beide Ohren: Er selbst hat dieses Instrument zum Schwingen gebracht! Dann gibt es kein Halten mehr. Ein neuer, lauterer Ton erklingt, weitere folgen, tiefe kehlige, hohe, schrille, bis es quietscht. Unterschiedlichste Klänge füllen den Raum, lebendig und laut. Zwischendurch erschallt das Lachen der Kinder, und offenes Staunen. Herrlich ist es, ihre Freude zu erleben.
Matthew, Lehrer und Musiker, übersetzt meinen Unterricht von Englisch auf Telugu. Aber nach kurzer Zeit verstehen wir uns alle mit Zeichensprache, benötigen nur wenige Worte. Kishore, ebenfalls Musiker und Lehrer, hilft beim Organisieren der Kindergruppen für diesen ExtraUnterricht. Sie werden jeweils aus ihrem Klassenraum geholt und stehen pünktlich bereit.
Mit Singen, Klatschen, Rhythmusspielen und Übungen lernen die Kinder wie die Weltmeister. Nach vier Tagen spielen sie bereits vier Lieder. Eifrig und konzentriert trainieren sie mit ihren geschickten Händen die Griffwechsel. Morgens gegen 5.45 Uhr höre ich schon die ersten Kinder in verschiedenen Ecken des Geländes üben. Das fröhliche Durcheinander der Melodien in der Morgensonne erfüllt den neuen Tag, die Wiesen und Schlafsäle – und mein Herz mit großer Freude und Dankbarkeit.
Die äußeren Umstände des Unterrichtens sind in vieler Hinsicht anders als bei uns: Die drei Ventilatoren im Raum erzeugen ständigen Lärm. Draußen schüttet es wie aus Kübeln, was zu häufigem Stromausfall führt. Plötzlich ist es dunkel, das Keyboard stumm und die Ventilatoren fallen aus. Zwischendurch kommt auch mal ein Hund zu Besuch, läuft durch den Klassenraum nach vorne, um mich kennenzulernen. Ein anderes Mal sehe ich ein ausgewachsenes Schwein quiekend über den Schulhof rennen, gefolgt von einem kläffenden Straßenköter.
Die Abschlussveranstaltung nach dieser Unterrichtswoche findet in der Kirche statt. Die Kinder haben sich vorbereitet und wieder wunderschön herausgeputzt: die Mädchen mit ihren seidigen Kleidern und den hübschen Frisuren ihrer glänzend schwarzen Haare, die Jungs mit bunten Hemden und coolen Jeans. Es gibt eine Generalprobe, bei der wir den Auf- und Abgang auf die Bühne proben. Die Kinder werden nach Größe sortiert und so aufgestellt, dass jedes Kind zu sehen ist. Eine gewisse Nervosität ist zu spüren, aber auch ein glücklicher Stolz über diese Aufführung in der großen Kirche, vor vielen Hundert Zuhörern.
John Paul stöpselt das Keyboard ein, das heißt, er nimmt zwei offene Kabel und sticht diese in die zwei Löcher der geflickten Steckdose. Funken blitzen auf und es knistert unangenehm. Ich versuche mich mit meinen nackten Füßen möglichst fern von diesen Drähten und ungewöhnlichen Steckprovisorien zu halten, was aber beim Keyboardspielen und Pedalbedienen kaum möglich ist. Die Jungs lächeln nur, als sie mein Erschrecken feststellen. Für sie ist dieser Umgang mit Elektrizität das Normalste der Welt.
Die Kirche ist voll. Alles passt wunderbar zusammen, die Lieder, die Bibelstellen und Ansprachen, die Gebetszeit, und ich staune über „meine“ wunderbaren, konzentrierten Schüler, die alle Einsätze hinbekommen, toll flöten und mit herrlichen Gesangsstimmen die große Kirche erfüllen.
Dieses Bild vor Augen, denke ich: Ja, Lernen kostet Kraft, bedeutet Arbeit, Anstrengung – aber daraus entstehen Frucht und Freude, und in diesem Fall herrliche Musik! Wenn Gott uns unterrichtet, kostet es manchmal Kraft und Anstrengung, die Schule des Lebens kann sehr hart sein. Aber wenn wir lernbereit sind, entsteht daraus Frucht! Er lehrt uns aus Liebe!
Rana Lakshmi sagte auf der Verabschiedungsfeier mit bescheidenem Stolz: „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Flöte spielen lernen könnte. Aber jetzt kann ich zu Hause erzählen, dass ich dieses Instrument spielen kann.“
Die Regenzeit in Indien klingt langsam aus, der Regen trommelt mit weniger Wucht auf das Blechdach vor meinem Zimmer. Die Luft scheint mit unzähligen winzig kleinen Wassertröpfchen gefüllt zu sein. Dem Regen folgen wieder Wachstum und Frucht. Dies wünsche ich den Kindern in Tamaram, Visakhapatnam, Rajahmundry und Narsapur: dass Jesus weiter seine Liebe, dass Gott seinen Heiligen Geist auf sie regnen lässt, sodass sie wachsen und Frucht bringen können. Und dass das Flötespielen sie weiter mit Freude und Selbstbewusstsein erfüllt, sie weiterhin die Lieder singen und im Herzen bewegen.
„Dancing in the lovely rain, water on the ground and grain,
raindrops tickling in my face, like a symbol of saviour’s grace!“, höre ich Anurhada singen. – Tanzen im lieblichen Regen, Wasser aufs Erdreich, für gute Ernte, Regentropfen kitzeln mein Gesicht, wie ein Symbol der Gnade des Retters!
Esther Hucks lebt mit ihrem Mann in Siegen, ist Musikerin, Musikpädagogin und Nethanja-Freundin. Schon zweimal ist sie mit vielen gespendeten Flöten im Gepäck nach Indien gereist, um den Kinderheimkindern mit Flötenunterricht eine Freude zu bereiten.