KAPITEL 1
EINFÜHRUNG
Wer anfängt auf die eigene Psyche zu schauen, und dafür Unterstützung in Büchern und im Internet sucht, wundert sich vielleicht, wieso immer wieder von der Kindheit die Rede ist. Davon, dass das, was damals gelernt wurde, auch im Leben der Erwachsenen immer noch eine große Rolle spielt. Das ist für Neulinge wenig verstehbar und wird von manchem als eine fixe Idee der Psychologen und Psychotherapeuten gesehen. Bei einer sehr unglücklich verlaufenen Kindheit vielleicht noch nachvollziehbar, aber bei einem normalen Verlauf? Wieso sollte ein erwachsener Mensch, mit seinem ganzen geistigen Potenzial und seiner Lebenserfahrung, nicht in der Lage sein, das, was er als Kind gelernt hatte, hinter sich zu lassen?
Einfache Antwort: Weil dies mit der Konstruktion unserer Psyche zu tun hat und Intelligenz und Lebenserfahrung wenig daran ändern. Hier teilen alle Erwachsenen das gleiche Schicksal. Egal, ob die Kindheit mehr oder weniger belastend verlaufen war, alle bleiben für den Rest ihres Lebens Gefangene dessen, was damals schwierig war. Wer aktiv daran angeht, dem zu entkommen, merkt bald, wie schwierig das ist. In Eigenregie gelingt es nur wenigen und oft ist für das Umschreiben der eigenen Psyche ein immenser Aufwand notwendig, zum Beispiel mit einer Psychotherapie.
Alle belastenden Erfahrungen haben für unsere Psyche einen besonderen Stellenwert.
Belastende Erfahrungen werden nie gelöscht
Unsere Psyche behandelt belastende Erfahrungen in besonderer Weise. Insbesondere solche, die am Anfang des Lebens erlebt werden. Ganz einfach deshalb, weil alles, was als belastend erlebt wird, zukünftig möglichst vermieden werden soll. Daher werden die Lasterfahrungen der Kindheit auch noch viele Jahre später als Bezugspunkt verwertet. Auch alles, was damals als Entlastung oder Lösung diente, wird seither als Handlungsvorlage genutzt. Mit diesen „Bewältigungsmustern“ werden wir uns im Kapitel 4 näher befassen.
Von den guten Erfahrungen der frühen Jahre werden die schlechten nicht überschrieben. Das erklärt auch, weshalb Personen, die sich nur an gute Aspekte ihrer Kindheit erinnern, dennoch unter nicht erinnerten, belastenden Geschehnissen leiden können. Klar, dass es diesen Menschen schwerfällt, einen Bezug zwischen den Gegenwartsproblemen und ihrer Kindheit herzustellen. Dennoch ist er gegeben. Bei genauem Hinsehen zeigt sich sogar, dass die meisten Gegenwartsprobleme dadurch verursacht werden. Die Belastungen aus den ersten Jahren wirken sich auch noch Jahrzehnte später auf das alltägliche Handeln, Fühlen und Denken aus. So war es zumindest bei allen meinen Patienten, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt hatte.
Es braucht dazu keine ausgesprochen schlechte Kindheit. Auch wenn vieles ansonsten gut läuft, kann einiges als so belastend erlebt werden, dass es solche Spuren hinterlässt. Von den Eltern unbemerkt und vom Kind selbst bald vergessen. Hier sollten sich also auch die angesprochen fühlen, die sich an keine Lasten erinnern können und vielleicht sogar vollkommen überzeugt sind, eine sehr gute Kindheit gehabt zu haben. Wer sich in seiner Gegenwart mit wiederkehrenden Problemen herumschlagen muss, kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass es dafür einen Hintergrund in der eigenen frühen Geschichte gibt. Sind die Gegenwartsprobleme größer, waren auch die Lasten in der Vergangenheit entsprechend größer.
Viele meiner Patienten waren anfangs noch überzeugt, eine von Lasten freie und großartige Kindheit gehabt zu haben. Auch wenn sich bei allen diese Annahme schon nach wenigen Sitzungen aufgelöst hatte, spricht dieser Umstand dafür, wie gut unsere Psyche programmiert ist. Sie ist in der Lage, Erkenntnisse und Handlungsvorgaben eines Kindes so in das Leben eines Erwachsenen einzubauen, dass dieser nichts davon mitbekommt.
Vielleicht hat die Idee, eine gute Kindheit gehabt zu haben, auch eine Funktion. Wer sich die eigene Kindheit schön redet, wird die Ursache seiner Probleme nur in der Gegenwart suchen. Die wahren Hintergründe bleiben unerkannt und ein Neuaufbau der unbewussten Programmierung geschieht nicht oder nur zufällig. Folglich bleibt alles so wie es ist.
Die eigene Psyche verschleiert die Wahrheit und behindert die eigene Entwicklung? Denen, die sich daran stören, dass ich hier die Psyche als eine sich absichtsvoll in den Weg stellende Instanz beschreibe, möchte ich sagen, dass wir noch öfter darauf stoßen werden, dass sie sich äußerst konservativ zeigt und jede Veränderung des gewohnten Verhaltens zu verhindern versucht.
Ein Konstruktionsfehler?
Menschen können lebenslang lernen. Das wissen die meisten und nutzen es auch. Lernen Sprachen, eignen sich Wissen an und lernen neue Fertigkeiten. Auch bezüglich der eigenen Person kann man einiges verändern, hier lernt man vor allem durch neue Erfahrungen. Aber an die frühen, durch die Lasten der Kindheit erfolgten Programmierungen, kommt man damit nicht mehr heran. Ohne fremde Hilfe und großen Aufwand ist es ausgesprochen schwer, hier etwas zu verändern.
Das liegt an einem Konstruktionsprinzip unserer Psyche. In den hunderttausenden von Jahren, in denen sich die Psyche zu dem entwickelt hatte, was sie heute ist, waren wir vielfältigen und großen Gefahren ausgesetzt. Und weil unsere Psyche in erster Linie ein Hilfsmittel zum Überleben ist, spielt das Erkennen und die Berücksichtigung von Gefahren eine dominante Rolle. Es haben sich komplexe Sicherungsmechanismen entwickelt, die uns verlässlich schützen, uns aber leider auch bei der Entwicklung und Entfaltung der eigenen Person im Wege stehen und sich nicht ohne weiteres überwinden lassen.
Mit Psychotherapie gelingt es aber schon. Nicht immer, aber oft. Was ist das Geheimnis von diesem Weg?
Warum gelingt eine Psychotherapie?
Selbstverständlich gibt es auf die Frage, warum Psychotherapie wirkt, nicht nur eine Antwort, sicher wirken eine ganze Reihe von Faktoren. Aber der wichtigste scheint mir zu sein, dass die Patienten in die Lage versetzt werden, gute Erfahrungen in ihr Leben zu bringen. Dabei reicht es nicht, lediglich beliebige gute Erfahrungen zu sammeln. Für den psychischen Umbau müssen auch sehr spezifische, auf die jeweilige Person genau zugeschnittene, positive Erfahrungen in das Leben geholt werden. Und die muss man dann auch in hinreichender Intensität erleben.
Wie, so einfach? Das Prinzip ist zwar einfach, aber die Umsetzung ist ausgesprochen schwierig. So schwer, dass erfahrene Psychotherapeuten erforderlich sind.
Wäre unsere Psyche ein kleines bisschen anders aufgebaut, wäre es vermutlich kein Problem, aus den Lasten der Kindheit herauszukommen. Auch ganz ohne professionelle Begleitung. Denn gemäß des eben angedeuteten einfachen Heilungsprinzips bräuchte man nur genau solche guten Erfahrungen zu sammeln, die den Lasten der eigenen Kindheit entgegengesetzt sind. Wurde man als Kind nicht genug beachtet, müsste man sich nur hinreichend Beachtung und Anerkennung in seine Erwachsenenwelt holen, diese bewusst und intensiv genießen und dann wäre das entsprechende Kapitel der Kindheit nach gewisser Zeit abgeschlossen.
Dass dieses Prinzip funktioniert, zeigt die Trauma-Psychotherapie. Bei einigen Methoden1 aus diesem Bereich wird mit genau diesem Mittel gearbeitet. Damalige Belastungen werden mit genau passenden, positiven Erfahrungen im Kopf in Berührung gebracht. Dadurch werden die Erinnerungen umgeschrieben und entschärft. Ich habe viele Jahre Erfahrungen mit Traumatherapie gesammelt und weil dieses Arbeitsprinzip der Traumatherapie so faszinierend einfach ist, habe ich angefangen danach zu suchen, warum es nicht auch im ganz normalen Alltag und von ganz alleine funktioniert.
Jeder Mensch sucht schon sein Leben lang
Dabei ist interessant, dass die meisten oder vielleicht sogar alle Menschen schon ihr ganzes Leben lang, sehr viel Energie dafür aufbringen, solche, genau zu den Lasten der eigenen Kindheit passenden, positiven Erfahrungen zu suchen. Wer nicht gehört wurde, versucht sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Wer zu viel allein war, schart Menschen um sich und wer nur für seine Leistung beachtet wurde, hofft darauf, endlich um seiner selbst willen gesehen zu werden.
Aber wenn dann die positiven Antworten kommen, und die Betroffenen endlich erleben, gehört zu werden, begleitet zu sein oder als Person gesehen zu werden, nehmen sie diese Zuwendung nicht an. Das positive Erleben wird abgewürgt, nicht zugelassen oder zumindest in seiner Intensität vermindert. Deshalb gibt es auch nicht diese tiefen Veränderungen, wie sie in der Traumatherapie erreicht werden. Beschäftigt mit ihrer Suche sind Menschen scheinbar blind für die Erfüllung derselben. Folglich ändert sich nichts und alles bleibt beim Alten. Und auch morgen betreiben sie ihre Suche wieder genauso wie vorher.
Wir suchen und finden, aber ernten nicht
Intuitiv machen wir Menschen zwar alles richtig, aber wir erreichen unser Ziel nicht. Wir suchen zwar das Richtige und finden es auch hin und wieder, aber wir ernten es nicht. Und weil die heilsamen guten Erfahrungen nur beschränkt zugelassen werden, geschieht auch die Heilung der Wunden der Kindheit nicht. Und weil das so ist, werden die alten Schutzsysteme, also die in der Kindheit gelernten Bewältigungsmuster, weiter und weiter benötigt. Ein Bewältigungsmuster, welches jeden Tag verwendet wird, wird dadurch auch innerlich in seiner Bedeutung bestätigt. Ein endloser Kreis.
Ich möchte unterstreichen, dass wir hier auf automatisch und unbewusst ablaufende Prozesse schauen, ausgelöst von unbewussten Systemen in der Psyche. Und zwar von solchen, die jeder normale Bürger in seinem Kopf hat. Ich schreibe nicht über psychisch kranke oder sonst irgendwie auffällige und ungewöhnliche Personen, sondern über ganz normale Menschen. Es geht nicht um abnormes und seltenes Geschehen, sondern um ganz alltägliche Vorgänge. Jeder, der danach sucht, kann diese Prozesse jeden Tag beobachten.
Was da genau abläuft und wieso unsere Psyche uns paradoxerweise bei der Nutzung guter Erfahrungen im Wege steht, werde ich in diesem Buch erläutern. Ich werde auch zeigen, was zu tun ist, um die errichteten Hindernisse zu erkennen und zu umschiffen.
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Der Ansatz, den ich hier vorstelle, ist in meiner Praxis erprobt und mittels des vorliegenden Buches mache ich ihn der Öffentlichkeit zugänglich. Das geschieht, um vielen Menschen die Möglichkeit zu erschließen, sich guten Erfahrungen anders als bisher zu öffnen und diese als Weg zu psychischem Wachstum und zur Heilung alter Wunden zu nutzen.
Den wirklichen Zauber von guten Gefühlen erleben viele niemals oder nur
für sehr kurze, meist einmalige Momente. Weil die eigene Psyche im Weg
steht. Sie erlaubt es nicht.
Dabei sind positive Erfahrungen der wichtigste und stärkste Schlüssel zur Stärkung und zur Veränderung der eigenen Person. Jeder, dem es gelingt, positives Erleben in hinreichender Dichte und Intensität in sein Leben zu bringen, spürt bald, wie sich sein Alltag in eine gute Richtung wandelt. Besonderen Wert lege ich dabei auf die „hinreichende Dichte und Intensität“ von guten Gefühlen. Sich hin und wieder mal gut zu fühlen, gelingt vielen Menschen, aber der wirkliche Zauber bleibt unerreicht. Auch, weil kaum einer weiß, wie schwer es schwer ist, da tatsächlich hinzukommen.
Die Aufgabe ist nicht leicht. Wer alte Wunden heilen und sein Leben tiefgehend ändern möchte, muss viel dafür tun. Allein die gute Absicht führt nicht zum Ziel. Weil die eigene Psyche im Weg steht. Sie erlaubt es nicht. Aber es nicht unmöglich, wenn man weiß, worauf es ankommt.
Ich muss etwas weiter ausholen
Gerne würde ich es meinen Lesern leichter machen, aber um das notwendige Hindergrundwissen soweit zu verdeutlichen, dass möglichst viele meinen Lösungsweg und die daraus abgeleiteten Aufgaben auch nachvollziehen können, muss ich etwas weiter ausholen und einige Prozesse und Systeme in unserer Psyche näher beleuchten. Wichtige Themen sind unter anderem:
- Die Bedeutung der unbewussten Systeme bei der Lenkung des Menschen, hier insbesondere die Rolle des Autonomen Nervensystems;
- Psyche als Überlebenseinrichtung;
- Die Veränderungen in unserem Kopf in Stressmomenten;
- Das Geschehen in der Kindheit und die Auswirkungen ...