TEIL 1: 21. JAHRHUNDERT, VISION UND WIRKLICHKEIT
Ich setze die Virtual-Reality-Brille ab und schaue in das stolze Gesicht meines Nachbarn. âWahnsinn, oder?â sagt er. Die Begeisterung glĂ€nzt in seinen Augen. Er hat seinen Kindern die neueste AusrĂŒstung fĂŒr ihre Spielekonsole besorgt, und nun können sie vom eigenen Zimmer aus in völlig neue Welten aufbrechen. Das wollte er mir zeigen.
Also habe ich gerade einen virtuellen Ausflug in eine Unterwasserwelt hinter mir. Alles wirkte tĂ€uschend echt, sogar die Schatten und Lichtreflexe waren ĂŒberzeugend. Ăber Kopfhörer habe ich statt der HintergrundgerĂ€usche des Kinderzimmers dem Rauschen und Blubbern des Wassers gelauscht.
âJa, WahnsinnâŠâ gebe ich zurĂŒck, und mein Nachbar fĂ€hrt mit seiner Demonstration fort. Wahnsinn, denke ich, die Technik hat uns ĂŒberholt. Ohne diese Brille finde ich mich in einem renovierten Altbau wieder, Laminat am Boden, Putz an den WĂ€nden. Wenn ich aus dem Fenster schaue, fliegen dort keine futuristischen Fahrzeuge zwischen den GebĂ€uden.
Stattdessen sehe ich die kopfsteingepflasterte DorfstraĂe vor meinem eigenen Haus â ein denkmalgeschĂŒtzter Hof aus der Mitte des letzten Jahrtausends. Der Fassaden-Putz hat Risse und muss mal wieder saniert werden. Hundert Meter weiter verlĂ€uft eine Bahnlinie, und die schweren GĂŒterzĂŒge erschĂŒttern regelmĂ€Ăig den ganzen Ortskern.
Ich staune, wie intensiv mir dieser virtuelle Ausflug vor Augen fĂŒhrt, dass unsere materielle Welt abgehĂ€ngt wird â vielleicht schon abgehĂ€ngt wurde. Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts haben wir noch Utopien entwickelt und völlig ungezwungen Ideal-StĂ€dte der Zukunft geplant. Heute im 21. Jahrhundert ĂŒberlassen wir dies der Unterhaltungs-Industrie.
Mit âwirâ meine ich diejenigen, die sich der stetigen VerĂ€nderung und Verbesserung unserer gebauten Umwelt verschrieben haben: Architekten, Ingenieure, Planer und alle, die den Zustand unserer Welt nicht so akzeptieren wollen, wie er ist. Wir sind zu langsam und bleiben hinter denen zurĂŒck, die alternative, virtuelle RealitĂ€ten anbieten.
WĂ€hrend mein Nachbar mir zeigt, welche anderen Traumwelten er neben dem Korallenriff noch anzubieten hat, denke ich daran, wie stolz ich Architekten erlebe, die ihre EntwĂŒrfe als fotorealistische Renderings zeigen â unbewegte atmosphĂ€rische Bilder einer noch zu bauenden RealitĂ€t.
âBauenâ ist das SchlĂŒsselwort, das mich erkennen lĂ€sst: das Virtuelle ist keine Konkurrenz fĂŒr die materielle Welt. Virtuelle Szenarien mĂŒssen sich schlieĂlich nicht mit den Naturgesetzen auseinandersetzen, auch wenn diese simuliert werden. Fliegende Autos - kein Problem im Cyberspace.
âDu musst bloĂ aufpassen, dass Du nicht vor irgendwelche WĂ€nde rennstâ rĂ€t mir der Nachbarssohn, bevor ich mich an einer Runde virtuellem Tennis versuchen darf. So ganz ausblenden lĂ€sst sich die materielle Wirklichkeit dann offenbar doch nicht. Das ist aber wohl eine Frage der Zeit.
Durch diese Erfahrung erkenne ich: die wachsende Beliebtheit und die tĂ€uschend echte Erscheinung der kĂŒnstlichen Welten zeigen uns, dass unsere materielle Welt einiges vermissen lĂ€sst. Was immer es ist â der Ausgleich wird nicht nur in der VR gesucht, sondern auch auf anderen Plattformen, die vor allem das Internet zu bieten hat.
Und die Entwickler dieser Angebote zeigen uns, die wir die Verantwortung fĂŒr die AttraktivitĂ€t unserer gebauten Umwelt tragen, ganz deutlich: wir bleiben mit dem, was wir heute leisten und zeigen, weit hinter den Möglichkeiten der Technik zurĂŒck.
Mit 0:6 im ersten Satz geschlagen, schaue ich noch einmal wehmĂŒtig aus dem Fenster. Es ist mittlerweile dunkel drauĂen, und das orangefarbene Licht der Laterne lĂ€sst die StraĂe wie ein Bild aus ferner Vergangenheit erscheinen. Erst ein vorbeirollendes Auto verrĂ€t, dass auch auĂerhalb dieses Raums die Zeit nicht stehen geblieben ist.
Bevor ich die Brille wieder aufsetze, um zumindest im zweiten Satz zu punkten, packt mich der Ehrgeiz: das können wir doch besser! Es gibt so viel zu tun, um unsere gebaute Umwelt in das einundzwanzigste Jahrhundert zu holen und fit fĂŒr das zweiundzwanzigste zu machen. Es gibt so viele Möglichkeiten, so viele kreative und schlaue Köpfe. Wenn wir all diese Energie und Schaffenskraft, die heute diese virtuelle Zufluchten erzeugt, nutzten oder zumindest zum Vorbild nĂ€hmen, um den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen â was könnten wir alles erreichen?
Aufschlag. Ich hole weit aus und dresche mit Schwung die Leuchte von der Zimmerdecke. So ganz reibungslos funktionieren reale und virtuelle Welt wirklich noch nicht zusammen, denke ich, wÀhrend ich den verbogenen Lampenschirm wieder zurechtbiege.
ARCHITEKTEN HEUTE
Das Erlebnis mit der VR-Brille lĂ€sst mich nicht los. Ich denke noch Tage spĂ€ter darĂŒber nach, was diese Entwicklung fĂŒr uns Architekten bedeutet.
Waren wir nicht seit jeher diejenigen, die mit Skizzen und Modellen ihre Ideen entwickelt und ihren Bauherren prĂ€sentiert haben? Ist es nicht unsere Aufgabe, Gedanken zuerst zu Bildern und dann zu gebauter Wirklichkeit werden zu lassen? Wird es fĂŒr uns zum Problem, wenn andere es besser verstehen, Vorstellungen in erfahrbare Erlebnisse zu verwandeln?
Im BĂŒro holt mich die RealitĂ€t ein. WĂ€hrend ich Detailzeichnungen von Baukonstruktionen prĂŒfe und Leistungsbeschreibungen fĂŒr Handwerker aufsetze, ist keine Zeit fĂŒr Luftschlösser. Hier geht es um harte Fakten und prĂ€zise Technik. So schön sich eine Dachlandschaft auch gestalten lĂ€sst â wenn sie kaum zu bauen ist und es dann noch durchregnet, habe ich als Planer versagt.
Als ich eine Lösung fĂŒr einen etwas anspruchsvolleren Regenrinnen-Anschluss finde, erwische ich mich bei einem selbstzufriedenen Gedanken: wir Architekten könnten sicherlich auch tolle digitale Fantasielandschaften entwickeln, aber diese VR-Designer könnten bestimmt nicht wie wir die ganze Bautechnik bewĂ€ltigen.
âDas mag stimmen, doch der Vergleich hinktâ, rufe ich mich innerlich zur Ordnung. NatĂŒrlich tragen wir Architekten ein Korsett, das unsere gestalterische Freiheit einschnĂŒrt. Es besteht aus den konkreten Anforderungen unserer Bauherren, den Naturgesetzen und den einschlĂ€gigen Regeln fĂŒr das Bauen. Damit mĂŒssen wir umgehen. Die VR-Designer nicht.
Einen kurzen Moment lang beneide ich die Designer fĂŒr ihre Zwanglosigkeit, bevor ich mich daran erinnere, weshalb ich mich dafĂŒr entschieden habe, Architekt zu sein. Ich denke an das Licht im Pantheon, den Blick vom Empire State Building, die faszinierenden Formen der Sagrada Familia und die PrĂ€zision des Eiffelturms.
Abbildung 1: o.l.: Pantheon; u.l. Empire State Building; o.r. Eiffelturm, u.r. Sagrada Familia
âWirkungâ, sage ich mir. Darum geht es. Das kriegen die VR-Designer besser hin als wir heutzutage. Wenn wir die Anforderungen aus unserem Korsett bewĂ€ltigen, dann haben wir damit erst das Minimum dessen erfĂŒllt, was von uns als Architekten erwartet wird.
Mit dieser Erkenntnis fĂ€llt es mir auf einmal schwer, dem Dachdecker zu beschreiben, was er wie bauen soll. Die Texte im Leistungsverzeichnis wirken so schroff, technisch und ohne jede Leidenschaft fĂŒr das gewĂŒnschte Ergebnis.
Ich frage mich, wie die Baumeister es damals angestellt haben, ihre beeindruckenden Bauwerke zu schaffen. Bauwerke, die auch heute noch eine Faszination bei ihren Besuchern auslösen, gegen die jedes Film- und Videospiel-Erlebnis verblasst.
Mein Blick schweift ĂŒber meine beiden Monitore, ĂŒber exakte CAD-Zeichnungen und mein Programm fĂŒr die Organisation der Handwerker-Ausschreibung. Wir sind heute technisch so viel weiter als unsere VorgĂ€nger. Bedeutet âweiterâ auch âbesserâ?
Abends durchstöbere ich das Internet auf der Suche nach gebauten Beispielen aus den letzten Jahrzehnten. Bauten mit einer Wirkung, die mit der jener Ikonen der alten Meister vergleichbar sein soll. Meine Kriterien: persönliches Empfinden beim Betrachten der Bilder â und die Besucherzahlen.
Ich komme zu dem Ergebnis, dass die Sensation der Superlative die Nase vorn hat â damals wie heute. FrĂŒher staunte die Welt ĂŒber den Eiffelturm und heute ĂŒber den Burj Khalifa. Aber muss es immer höher, weiter und ausgefallener sein? Was ist mit der Liebe zum Detail?
Ich beschlieĂe, den Faktor âWirkungâ bei meiner Arbeit stĂ€rker zu berĂŒcksichtigen und meine Kollegen kĂŒnftig zu fragen, welche Wirkung sie mit ihren EntwĂŒrfen erzielen wollen. Auf die Reaktionen bin ich gespannt.
Abbildung 2: Burj Khalifa
ARCHITEKTEN SINDâŠ
âIch möchte das Material zeigen. Stell Dir nur mal vor, wenn die Abendsonne tief steht und das warme Licht durch die groĂen Fenster den rauen Schiefer streiftâŠâ, schwĂ€rmt mein Kollege.
Ich hatte ihn gefragt, welche Wirkung er mit seiner Wandgestaltung aus Naturstein im Wohnbereich eines Einfamilienhauses erzielen wolle. Solche Fragen habe ich in den letzten Tagen hĂ€ufiger gestellt, ohne mich dazu nĂ€her zu erklĂ€ren. Das war auch nicht nötig. Es kommt offenbar selten vor, dass die Bautechniker und Ausschreibenden die Entwerfer nach ihren Vorstellungen fragen. Das ist zwar grundsĂ€tzlich schade, aber dadurch haben sich meine Kollegen ĂŒber mein Interesse umso mehr gefreut.
Falsch verstanden haben sie mich trotzdem. Ausnahmslos hatten sie mir die MaterialitĂ€t und die geometrische Gestaltung ihrer EntwĂŒrfe erklĂ€rt. Fast immer ging es um Licht-Szenarien und Texturen, um die klare Linie ohne Schnörkel und lĂ€stige ĂbergĂ€nge. Manchmal wollte jemand etwas vermeintlich Neues ausprobieren und hat ein Gimmick eingeplant: eine GlasflĂ€che im Boden oder einen naturbelassenen Baumstamm als borkige InnenstĂŒtze.
Höchstens in einem Nebensatz gingen sie darauf ein, worauf es mir hauptsÀchlich ankam: welche Wirkung soll der Entwurf auf diejenigen haben, die das gebaute Ergebnis sehen, betreten, erfahren? Nicht was der Sender im Sinn hat, zÀhlt, sondern was beim EmpfÀnger ankommt.
Unser Kollege Daniel Libeskind hat mal in einem Interview gesagt: âMit der Macht der Architektur ist es wie mit der Macht des Wortes â wie sie funktioniert ist nur schwer zu sagen. Ich weiĂ nur, dass sie sehr direkt wirkt, man muss nicht lesen können, muss nicht gebildet sein.â1
Dieses Zitat ist eines meiner liebsten. Es erklĂ€rt das Dilemma, das sich ergibt, wenn wir die Gedanken an die Wirkung unserer Arbeit vernachlĂ€ssigen. Unsere Mitmenschen sind normalerweise weniger fokussiert auf das Spiel aus Licht, Form und Material. Sie beachten raffinierte GebĂ€ude-Details nicht so bewusst wie wir. Oft zĂ€hlen nur das BauchgefĂŒhl und der erste Eindruck, wenn es um die Bewertung dessen geht, was wir Architektur nennen.
Es ist fĂŒr uns schon schwer zu akzeptieren, dass sich auch totale Laien zur Architektur Ă€uĂern und ihre EindrĂŒcke hemmungslos mitteilen dĂŒrfen. Wenn diese Laien dann auch noch unsere Auftraggeber sind, wird es fĂŒr uns richtig anstrengend. SpĂ€testens in dieser Situation sollte man als Architekt die eigene Einstellung auf den PrĂŒfstand stellen: sind wir Missionare fĂŒr unsere Architektur, Dienstleister fĂŒr unsere Kunden, oder ein bisschen von beidem?
Ich kann mich noch gut an einen Urlaub in Barcelona erinnern, bei dem wir auch den berĂŒhmten Pavillon von Ludwig Mies van der Rohe besucht hatten. Als wir endlich davorstanden, widerstrebte es meiner Frau, ihn zu betreten. Sie fand dieses Gebilde aus Platten und Scheiben weder attraktiv noch interessant, auch im Zusammenhang mit der kontrastierenden Umgebung. Auch ich war erstaunt darĂŒber, wie sehr sich die wahre Erscheinung dieses Wallfahrtsorts fĂŒr Architekten von dem unterscheidet, was man allgemein von Fotos kennt. TatsĂ€chlich war diese Ikone der Architektur-Moderne die einzige Touristen-Attraktion, fĂŒr deren Betreten wir an keiner Schlange anstehen mussten. Das zeigt uns deutlich: anspruchsvolle Gestaltung gefĂ€llt nicht jedem â und das ist auch gut so.
Abbildung 3: Barcelona-Pavillon
Denn bei der Bewertung von Architektur zĂ€hlt jede Stimme gleich. Egal ob Kind oder Greis, gefeierter Architekt oder völliger Architektur-Laie â alle haben ihr GefĂŒhl beim Erfahren unserer gebauten Werke. Und wenn sie ihre EindrĂŒcke mit uns teilen, dann ist das eine sehr wertvolle Quelle fĂŒr unseren Erfahrungsschatz. Wir können dann lernen, mit welchen Mitteln sich welche Wirkung erzeugen lĂ€sst â und mit welchen nicht. NatĂŒrlich ist es leichter, stattdessen unseren Mitmenschen die Kompetenz abzusprechen.
âDer hat ja keine Ahnungâ, schimpft mein Kollege. Sein Bauherr mochte seine Idee mit dem Schiefer nicht und will lieber eine glatt verputzte Wand. Denn da könne man besser Möbel davor vorstellen.
Wie oft kommt so etwas im Alltag der Architekten vor? Wir haben jedes Mal die Wahl: Missionar, Dienstleister, oder der Kompromiss. Wie wollen wir uns positionieren? Irgendwo zwischen Diktator und Sklave liegt die Rolle des Architekten. Kann es sein, dass das Finden von Kompromiss-Lösungen einen wesentlichen Teil unserer Arbeit ausmacht?
Schon diese Frage mag auf manche Idealisten wie Ketzerei wirken. âGute Architektur und Kompromisse, das passt nicht zusammen! Das lernt man doch schon als Student an der Hochschuleâ, höre ich die Fanatiker rufen. Und wenn das stimmt, dann mĂŒssen wir Architekten unfehlbar sein, um unsere Arbeit richtig zu erledigen. Das ist ein ziemlich hoher Anspruch, oder?
1 (Libeskind, 2008)
ABHĂNGIG
Als ich mit einem erfahrenen Bautechniker meine DetailplĂ€ne bespreche, fĂŒhle ich mich alles andere als perfekt. An jeder Konstruktionszeichnung gibt es etwas anzumerken, und der alte Hase hat auch etliche VerbesserungsvorschlĂ€ge fĂŒr mich.
âGehâ nicht davon aus, dass die Bauarbeiter das auf der Baustelle millimetergenau so zusammenbauen, wie Du das hier so schön zeichnestâ, rĂ€t er mir. Damit hat er wohl Recht. Auf der Baustelle weht ein anderer Wind als im BĂŒro. Und auch wenn wir Architekten makellose Arbeit liefern könnten â ein Bauprojekt absolviert man nicht im Alleingang.
Ist es nicht so, dass wir tĂ€glich mit einer Vielzahl von anderen Menschen umgehen, die wir allesamt fĂŒr den Erfolg unserer Projekte brauchen? Handwerker, Ingenieure, Beamte, und natĂŒrlich unsere Bauherren. Sie alle haben Ideen und Vorstellungen fĂŒr unser Projekt â und wir mĂŒssen bewerten, welche dav...