Sein-an-sich und Existierendes
Meine ersten Gedanken gelten der Grundlage unserer Existenz. Worin ist sie eingebettet, oder noch weiter gegriffen, woraus ist sie emergiert?
Ausgangspunkt meiner Ăberlegungen ist das âSein-an-sichâ. Darunter verstehe ich einzig Umfassendes, nicht Denkbares, alles Ermöglichendes. Dieses verorte ich vor dem Urknall.
Letzterer wiederum ist der Ausgangspunkt alles bisher und in unbestimmter Zukunft in unserem Universum befindlichen Existierenden. Dieses Existierende, das auch uns Menschen umfasst, ist von groĂer Vielfalt und wird von uns, auch bei Verwendung von Hilfsmitteln der verschiedensten Art, mit denen wir unsere natĂŒrlichen körperlichen und geistigen Begrenzungen erheblich erweitern können, nur unvollstĂ€ndig erkannt. Die Differenz zwischen diesem âSein-an-sichâ und dem von jeweils begrenzt erkennend Existierenden Erkannten nenne ich in Anlehnung an HEIDEGGER6 âontologische Differenzâ.
Dem Begriff âontologische Differenzâ bin ich erstmals wĂ€hrend meiner Schulzeit begegnet.7 Er hat mich seither nicht mehr losgelassen und stand auch Pate bei einem meiner anderen BĂŒcher.8 Aus meiner Sicht gibt es unendlich viele ontologische Differenzen, je nachdem, von welchem Existierenden wir ausgehen. Denn das Sein eines jeden Seienden, um in der Terminologie HEIDEGGERs zu bleiben, ist fĂŒr mich das âSeinan-sichâ.
Zum Ursprung hin betrachtet bĂŒndeln sich nĂ€mlich diese Differenzen, unserem derzeitigen VerstĂ€ndnis entzogen, ĂŒber die erste Planckzeit und den Urknall ins âSein-an-sichâ. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand von dort nĂ€hert sich menschliches oder/und nicht-menschliches Bewusstsein der ErklĂ€rung dieser Differenz. Die Relevanz dieses Umstandes fĂŒr den Gedanken der Nachhaltigkeit wird spĂ€ter erörtert.
Mit dem Begriff des Existierenden vermeide ich den des âSeiendenâ, denn letzterer könnte eine unmittelbare Teilhabe am âSein-an-sichâ suggerieren, die derzeit nicht darstellbar ist. Auch verengt er möglicherweise die Betrachtung zu sehr auf den Menschen. Das erkennend Existierende kann jedoch nicht auf diesen begrenzt werden und bleiben.
Auf dem Weg vom âSein-an-sichâ zu uns heute erkennenden Menschen (als materiell-biologisch-bewusst Existierenden) wurden mehrere Schwellen ĂŒberwunden. ZunĂ€chst der Urknall, danach die Planck-Zeit (tp â 5,391 .10-44s), wobei sich die VorgĂ€nge in der Zeitspanne zwischen Urknall und Planck-Zeit unserem derzeitigen VerstĂ€ndnis entziehen, das Auftreten des biologischen Lebens und schlieĂlich das Auftreten des Bewusstseins als vorlĂ€ufigem Endpunkt der Entwicklung des biologischen Lebens.
An dieser Stelle ist es noch erforderlich, zwei weitere Begriffe einzufĂŒhren, nĂ€mlich die der Natur und der Kultur.
Natur kann in unterschiedlicher Hinsicht interpretiert werden.9 Ich beschrÀnke mich hier auf zwei Interpretationen.
ZunĂ€chst verstehe ich unter Natur alles Existierende, wie es sich nach den fĂŒr dieses Universum gĂŒltigen Gesetzen unter stĂ€ndigem Werden und Vergehen entwickelt.
Bezogen auf das jeweilig Existierende verstehe ich hier unter Natur dann dessen individuelle Eigenschaften, wie sie sich aus seiner Genese ergeben. Diese Eigenschaften nenne ich PrÀdikate.
Ăber den Begriff der Natur hinaus geht die menschliche Kultur. An dieser hat jeder Mensch Anteil. In ihrer Summe ist sie jedoch weit mehr als das in den Individuen ReprĂ€sentierte. Sie entwickelt möglicherweise im kulturellen Produkt âdigitales Netzâ eine eigenstĂ€ndige Existenz. Auf diese Problematik wird spĂ€ter eingegangen.
Sein-an-sich
Ich schlieĂe mich der Argumentation HEIDEGGERs10 zur Notwendigkeit der Frage nach dem âSeinâ grundsĂ€tzlich an und ĂŒbertrage sie auf die Notwendigkeit der Frage nach dem âSein-an-sichâ. Diese ist ebenfalls nicht nur zulĂ€ssig, sondern erforderlich.
Die Natur des âSein-an-sichâ jenseits des Urknalls beschreibe ich hier in Form einer Negation, denn sie entzieht sich menschlichem VerstĂ€ndnis. Letzteres ist an Raum, Zeit und Struktur gebunden. Das âSein-an-sichâ ist im Gegensatz dazu
- raumlos,
- zeitlos und daher auch
- strukturlos.
WÀre dem nicht so, könnten wir es erkennen.
Es ist nicht leicht, sich auf eine solche Beschreibung einzulassen. Insbesondere, da wir einer Zeitlichkeit unterworfen sind, liegt die Frage, woher nun wiederum dieses âSein-an-sichâ kommen mag, nur zu nahe. Dies ist jedoch eine Frage auf der Basis der vier Dimensionen (Raum und Zeit), in die menschliche Existenz, menschliches Erkennen und menschliches Erfahren eingebettet sind. Letztere vermögen derzeit nicht einmal die Schwelle der ersten Planck-Zeit zu ĂŒberschreiten, wie dann jene zu dem âSein-an-sichâ in seiner TotalitĂ€t? Der Gefahr eines untauglichen ErklĂ€rungsversuchs auf der Basis unseres eingeschrĂ€nkten Erkenntnis- und Erfahrungsvermögens entziehe ich mich durch die negative Beschreibung des âSeins-an-sichâ. Es ist in unserem Sinne ânichtâ und damit omnipotent. Keine rĂ€umliche Ausdehnung, keine verstrichene Zeit und keine Struktur haben das âSein-an-sichâ in seiner Omnipotenz eingeschrĂ€nkt. Es ist daher auch weder endlich noch unendlich.
Es gibt Menschen, die dieses Nichts hinter unserer Existenz als solches akzeptieren, andere nennen es Gott, Allah, Jahwe oder wie auch immer.
Existierendes
Eine zentrale Frage der Menschheit seit dem Auftreten ihres Bewusstseins ist die nach dem âWoherâ und âWohinâ. Physiker weltweit versuchen mit erheblichem Aufwand, den Ursprung unseres Universums zu verstehen. Weit in ihren Erkenntnissen fortgeschritten sind sie jedoch noch weit von der letzten ErklĂ€rung entfernt.
Die Frage nach dem âWohinâ bleibt vor dem Hintergrund der Kontingenz der menschlichen Entwicklung offen. Letztere folgt Möglichkeiten, die sich ergeben oder geschaffen werden. Um die damit verbundenen Chancen weiterer Erkenntnis und Erfahrung zu nutzen, muss diese Entwicklung nachhaltig sein. Es mĂŒssen zu jedem auch in der Zukunft liegenden Zeitpunkt die Voraussetzungen fĂŒr erkennendes und erfahrendes, damit zumindest derzeit wesentlich menschliches, Leben gegeben sein. Insofern ist die Kontingenz menschlicher Entwicklung in Verbindung mit dem Streben nach zusĂ€tzlicher Erkenntnis und Erfahrung die LetztbegrĂŒndung der Nachhaltigkeitsidee.11
In dieser Abhandlung starte ich mit der Aussage, dass alles Existierende im Urknall und der darauffolgenden Entwicklung emergierte. Es leitet sich auf eine (derzeit noch) unklare Weise aus dem âSein-an-sichâ ab. In Raum und Zeit entwickelt es seine eigenstĂ€ndige Natur. Den nachstehenden Betrachtungen hinterliegen folgende AusprĂ€gungen des Existierenden:
- Materiell Existierendes
- Materiell-biologisch Existierendes
- Materiell-biologisch-bewusst Existierendes
- AbhÀngig-materiell-Existierendes
- AbhÀngig-materiell-bewusst Existierendes
- Materiell-bewusst Existierendes
Die AusprĂ€gung âmateriell-biologisch-bewusst Existierendesâ umfasst neben dem Menschen und bestimmten Spezies auch den Hybridmenschen. Die des âabhĂ€ngig-materiell Existierendenâ insbesondere Roboter und das digitale Netz, soweit diese vom Menschen beherrscht werden. Das materiell-bewusst Existierende nenne ich in diesem Rahmen in Anhalt an N. BOSTROM12 auch synonym Superintelligenz. Es ist vom Menschen unabhĂ€ngig.
Totipotenz
Die Phase vom Urknall bis zum Ende der ersten Planck-Zeit und damit einer Planck-LĂ€nge beschreibe ich als totipotent. In dieser Totipotenz ist das Entstehen nicht nur eines, sondern vieler Universen denkbar. Unsere physikalischen Erkenntnisse versagen in diesem Zeitraum. Es steht auch nicht zu erwarten, dass fĂŒr diesen Zusammenhang entwickelte Theorien, etwa die String-Theorie als eine der jĂŒngsten ReprĂ€sentantinnen der âTheory of Everythingâ, in absehbarer Zeit empirisch verifiziert werden können.13 Daher sind fĂŒr mich fĂŒr diese Phase zumindest heute auch metaphysische Ăberlegungen zulĂ€ssig. Fest steht, nicht zuletzt durch den Umstand, dass ich dieses Buch schreibe, dass unser Universum entstanden ist. Die Frage nach anderen, ebenso wie die, ob diese sich Ă€hnlich, wie das unsere oder völlig anders entwickelt haben, wird hier ausgeklammert.
Pluripotenz
Die Pluripotenz unseres Universums gebiert Existierendes mit grundsÀtzlich unterschiedlicher Natur. Eine erste Gliederung kann, wie vorstehend schon skizziert, grundlegend nach den PrÀdikaten materiell, biologisch und bewusst geprÀgt erfolgen.
Materiell Existierendes
Diese Betrachtung greift etwa 13,8 Milliarden Jahre zurĂŒck. Besonders hervorzuheben sind die zunehmend langen ZeitrĂ€ume, die zwischen den verschiedenen Entwicklungsstufen des Universums, dessen Entwicklung auch heute noch anhĂ€lt, bestehen.
Nach der ersten Planck-Zeit ist, wie bereits ausgefĂŒhrt, unser Universum grundsĂ€tzlich festgelegt. Seine Entwicklung danach verlief nach SMOOT14 etwa wie folgt15:
5,391.10-44 Sekunden, Temperatur 1032 Kelvin
Epoche der groĂen Vereinheitlichung. Starke, schwache und elektromagnetische Kraft sind ununterscheidbar vereint.
10-34 Sekunden, Temperatur 1027 Kelvin
Die starke trennt sich von der elektro-schwachen Kraft. Das Universum ist ein Plasma aus Quarks, Elektronen und anderen Teilchen. Seine Ausdehnung wird durch die Gravitation verlangsamt.
10-10 Sekunden, Temperatur 1015 Kelvin
Die elektromagnetische und die schwache Kraft trennen sich. Ein Ăberschuss von einem Milliardstel an Materie gegenĂŒber der Antimaterie ist entstanden. Quarks können zu Protonen und Neutronen verschmelzen. Teilchen haben Substanz gewonnen.
1 Sekunde, Temperatur 1010 Kelvin
Neutrinos entkoppeln, daraufhin vernichten sich Elektronen und Positronen, wobei aber ein Rest an Elektronen ĂŒbrigbleibt.
3 Minuten, Temperatur 109 Kelvin
Protonen und Neutronen können sich zu Kernen verbinden, da ihre Bindungsenergie gröĂer ist als die Energie der kosmischen Hintergrundstrahlung. Es kommt zu einer raschen Synthese leichter Kerne (Deuterium), dann von schweren Elementen wie Helium bis hin zu Lithium.
300.000 Jahre, Temperatur 3.000 Kelvin
Materie und Hintergrundstrahlung entkoppeln, als Elektronen sich mit Protonen zu neutralen Atomen verbinden. Das Universum wird transparent fĂŒr die kosmische Hintergrundstrahlung.
1 Milliarde Jahre, Temperatur 18 Kelvin
Materieansammlungen entstehen, die zu Quasaren, Sternen und Protogalaxien werden. Im Innern der Sterne bilden sich durch die Verbrennung der ursprĂŒnglichen Wasserstoff- und Heliumkerne schwere Kerne wie Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff un...