THEMA
Priesterliche Ăbermacht
Der Klerikalismus und ein ĂŒberhöhtes Priesterbild spielen im Missbrauchskontext eine Ă€uĂerst problematische Rolle. Auch ich habe das am eigenen Leib und an der eigenen Seele erleben mĂŒssen. Es ist also höchste Zeit fĂŒr einen radikalen Wandel. Johanna Beck
Ich habe, nachdem ich fĂŒr zehn Jahre einen sehr groĂen Bogen um alles Katholische gemacht hatte, gerade meine jetzige Heimatgemeinde entdeckt und begonnen, wieder regelmĂ€Ăig in die Kirche zu gehen. Nach dem Gottesdienst unterhalte ich mich kurz mit dem Gemeindepfarrer. Er trĂ€gt ein schwarzes Hemd mit Priesterkragen. WĂ€hrend unseres GesprĂ€chs fĂ€llt mein Blick immer wieder auf sein Kollar und aus irgendeinem Grund â ich kann es mir selbst nicht erklĂ€ren â steigt in mir eine unbestimmte und unerklĂ€rliche Angst auf. Nein, keine Angst, sondern vielmehr Panik. Mein Puls fĂ€ngt an zu rasen, ich schwitze und mein ganzer Körper geht in den Fluchtmodus. Krampfhaft versuche ich, gegen dieses GefĂŒhl anzukĂ€mpfen und mir nichts anmerken zu lassen. Was um alles in der Welt ist nur los mit mir?
KLERIKALER TRIGGER
Heute â einen MHG-Studien-Erkenntnismoment und eine Therapie spĂ€ter â kann ich diese irritierenden VorfĂ€lle viel besser verstehen und einordnen: Kleriker mit Kollar zĂ€hlen zu meinen ultimativen Triggern. Trigger nennt man in der Psychologie SchlĂŒsselreize, die die Erinnerung an traumatische und hĂ€ufig verdrĂ€ngte Erlebnisse aufbrechen lassen und starke psychische und physische Reaktionen auslösen können. In meinem Fall war es der Anblick eines Priesterkragens, der meine fĂŒr lange Zeit verdrĂ€ngten Erinnerungen an den geistlichen Missbrauch und die sexualisierten Ăbergriffe, die ich als Kind und Jugendliche durch einen Priester erleben musste, erweckte und der diese rĂ€tselhaften Reaktionen bei mir verursachte.
Aber ich belieĂ es nicht bei einer rein psychologischen Aufarbeitung, sondern begann parallel dazu, Licht in meinen Fall zu bringen, sagte gegen den Priester von damals vor dem Kirchengericht aus und befasste mich â auch um meinen Fall besser verstehen und einordnen zu können â intensiv mit dem Thema Missbrauch in der katholischen Kirche. Im Zuge dessen kam in mir jedoch eine neue brennende Frage auf: Warum habe ich mich damals nicht gegen diesen Priester gewehrt?
Johanna Beck
Literaturwissenschaftlerin, studiert Theologie im Fernkurs; Mitglied im Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz und im Zentralkomitee der deutschen Katholiken sowie Gastmitglied der Synodalversammlung. Im MĂ€rz erscheint ihr Buch Mach neu, was dich kaputt macht. Warum ich in die Kirche zurĂŒckkehre und das Schweigen breche (Freiburg i. Br. 2022).
âOH, WIE GROSS IST DER PRIESTER!â
Die Antwort lautet: Ich wusste zu diesem Zeitpunkt gar nicht, dass ich mich wehren kann, ja darf â schon gar nicht gegen einen Kleriker! Das lag völlig jenseits meiner Vorstellungskraft! Ich bin in einer katholisch-fundamentalistischen Gruppierung aufgewachsen, in der noch in den 90er Jahren ein Priesterbild vorherrschte, das fĂŒr lange Zeit auch in der gesamten katholischen Kirche gang und gĂ€be war (und das in bestimmten Kreisen gerade eine beunruhigende Renaissance erlebt).
Priester wurden durch ihre vermeintlich wesensverĂ€ndernde Weihe den normalen, weltlichen Menschen entrĂŒckt und mit dem Nimbus der Heiligkeit, der moralischen Ăberlegenheit und der Unantastbarkeit versehen. Sie standen in der absolutistischen Kirchenhierarchie ganz weit oben und das Gottesvolk war ihnen zu völligem Gehorsam verpflichtet. DarĂŒber hinaus hatten sie durch ihre uneingeschrĂ€nkte Pastoralmacht, wie Michel Foucault sie bezeichnet hat, die völlige Herrschaft ĂŒber die Seelen und den Intimbereich ihrer GlĂ€ubigen inne. Das wichtigste Herrschafts- und Kontrollinstrument hierfĂŒr war das BuĂsakrament, sodass âder Beichtstuhl fĂŒr die Pastoralmacht fast wichtiger noch als der Altarâ (Bucher, 89) war.
Als âSchutzpatronâ dieses hochproblematischen Priesterbildes gilt Jean-Marie Vianney, der Pfarrer von Ars, von dem folgende Worte ĂŒberliefert sind: âOh, wie groĂ ist der Priester! Wenn er sich selbst verstĂŒnde, wĂŒrde er sterben. Gott gehorcht ihm. [âŠ] Nach Gott ist der Priester alles!â (zitiert nach Benedikt XVI.). Diese klerikalistische Vormachtstellung und dieses sakralisierte und ĂŒberhöhte Priesterbild stattete die GottesmĂ€nner mit einer immensen und unkontrollierten MachtfĂŒlle und somit auch mit umfangreichen Manipulations- und Zugriffsmöglichkeiten aus. All das stellte eine hochproblematische bis gefĂ€hrliche Kombination dar â wie ich es auch leidvoll erleben musste und es ebenso diverse Missbrauchsstudien in den letzten Jahren bewiesen haben. So fĂŒhrt beispielsweise die MHG-Studie an: âIn diesem Zusammenhang wird fĂŒr sexuellen Missbrauch im Kontext der katholischen Kirche der Begriff des Klerikalismus als eine wichtige Ursache und ein spezifisches Strukturmerkmal genannt. [âŠ] Klerikalismus meint ein hierarchisch-autoritĂ€res System, das auf Seiten des Priesters zu einer Haltung fĂŒhren kann, nicht geweihte Personen in Interaktionen zu dominieren, weil er qua Amt und Weihe eine ĂŒbergeordnete Position innehat. Sexueller Missbrauch ist ein extremer Auswuchs dieser Dominanzâ (MHG-Studie, Zusammenfassung, 10).
Ich wusste zu diesem Zeitpunkt gar nicht, dass ich mich wehren kann, ja darf â schon gar nicht gegen einen Kleriker!
DECKMANTEL
Das ĂŒberhöhte Priesterbild und der herrschende Klerikalismus sowie die damit einhergehende MĂ€nnerbĂŒndigkeit sind also nicht nur zunehmend mit einer demokratischen Gesellschaft unvereinbar, sondern auch nachweislich mitursĂ€chlich fĂŒr die vielen furchtbaren Missbrauchstaten im Rahmen und im Namen der katholischen Kirche. Zudem immunisierten die klerikalistischen Strukturen und der Priester-Nimbus die Geistlichen sowohl gegen jegliche Kontrolle ihrer Macht als auch gegen jegliche Kritik und Anschuldigungen von auĂen. Gerade im Missbrauchskontext fĂŒhrte dies erschreckend oft dazu, dass den Betroffenen â wenn sie ĂŒberhaupt den Mut und die Worte fanden, ĂŒber ihre Missbrauchserfahrungen zu sprechen â nicht geglaubt wurde oder sie sogar fĂŒr ihre Aussagen abgestraft wurden, denn âein Pfarrer tut so etwas nichtâ. Zudem weist die MHG-Studie darauf hin, dass âein autoritĂ€r-klerikalistisches AmtsverstĂ€ndnis dazu fĂŒhren kann, dass ein Priester, der sexuelle Gewalt ausgeĂŒbt hat, eher als Bedrohung des eigenen klerikalen Systems angesehen wird und nicht als Gefahr fĂŒr weitere Kinder oder Jugendlicheâ (MHG-Studie, Zusammenfassung, 11). Dies hatte regelmĂ€Ăig zur Folge, dass MissbrauchsfĂ€lle vertuscht und der Schutz des klerikalistischen Systems ĂŒber den Schutz der Opfer gestellt wurde und die Betroffenen somit an den Rand gedrĂ€ngt, ihr Schicksal und ihr Leid negiert und sie erneut verletzt wurden.
Angesichts dessen drĂ€ngt sich mir eine weitere schmerzvolle Frage auf: Was ist das nur fĂŒr eine Kirche, in der âes nicht so seinâ (Mk 10,43) sollte und in der es dann genau so beziehungsweise noch viel schlimmer gekommen ist? Ich habe darauf zwei Antworten: (1.) All das ist sicherlich NICHT âim Sinne des Erfindersâ! (2.) Es kann und es DARF kein âWeiter soâ geben!
Die himmelschreienden Zeugnisse der Betroffenen ĂŒber die dunkle Seite der katholischen Macht und die Empfehlungen der MHG-Studie, die in diesem Zusammenhang eine grundlegende âĂnderung klerikalistischer Machtstrukturenâ sowie âeine grundsĂ€tzliche Auseinandersetzung mit dem Weiheamt des Priesters und dessen RollenverstĂ€ndnisâ (MHG-Studie, Zusammenfassung, 14) anmahnt, dĂŒrfen nicht mehr weiter ignoriert oder gar negiert werden. Vielmehr mĂŒssen sie als handlungsleitend betrachtet werden. Ihrer Maxime folgend mĂŒssen zum einen die klerikalistischen, absolutistischen und mĂ€nnerbĂŒndigen Machtstrukturen in der Kirche endlich aufgebrochen und radikal reformiert werden. Macht und Leitung in der katholischen Kirche mĂŒssen generell reduziert, (geschlechter-)gerecht verteilt, kontrolliert, transparent gemacht und partizipativ gestaltet werden. Zum anderen muss das Priesteramt âentheiligtâ, vom Sockel geholt, geerdet und bei dieser Gelegenheit am besten generell neu â und natĂŒrlich im Zuge dessen auch geschlechtergerecht â gedacht werden.
Die jesuanische Form der MachtausĂŒbung dreht die herrschenden, missbrĂ€uchlichen Asymmetrien komplett um, denn hier geht es um die Macht der Machtlosigkeit, der Verletzlichkeit, der Augenhöhe und des Dienstes.
EVANGELIUMSGEMĂSSE MACHTFORMEN
In diesem Kontext erweist sich â wie so oft â ein Blick ins Evangelium als besonders hilfreich, denn wenn es um die Machtfrage geht, so ist das Evangelium ein Lehrbuch par excellence: âWer bei euch groĂ sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller seinâ (Mk 10,43â44). Die jesuanische Form der MachtausĂŒbung dreht die herrschenden, missbrĂ€uchlichen Asymmetrien komplett um, denn hier geht es um die Macht der Machtlosigkeit, der Verletzlichkeit, der Augenhöhe und des Dienstes. Wobei Dienst natĂŒrlich kein bloĂes Etikett sein darf, das die eigentliche Macht kaschiert, vernebelt und somit jeglicher Kontrolle entzieht, wie es in der Kirche viel zu lange der Fall war. âDienstâ muss Ausdruck einer wirklich demĂŒtigen, gewaltlosen, menschenfreundlichen und respektvollen Leitungsform sein.
MĂGLICHE AUSWEGE
Einen guten und wichtigen Schritt in die richtige Richtung stellt der Synodale Weg dar, der als Reaktion auf die Ergebnisse der MHG-Studie ins Leben gerufen wurde und dessen Gast-Mitreisende ich bin. Er ist eine der wenigen â und vielleicht letzten â Chancen, grundlegende VerĂ€nderungen in der den Machtmissbrauch tragenden DNA der Kirche (vgl. Bischof Heiner Wilmer: âDer Missbrauch von Macht steckt in der DNA der Kirche.â) herbeizufĂŒhren. Gerade die fundierten und wegweisenden Texte des Forums âMacht und Gewaltenteilungâ entwerfen eine Kirche, wie sie sein könnte, ja sein sollte. Allerdings sind die BeschlĂŒsse des Synodalen Weges bekanntlich nicht bindend, weshalb es letzten Endes in den HĂ€nden der Bischöfe liegt, ob, wie und in welchem Umfang sie die BeschlĂŒsse in den jeweiligen BistĂŒmern umsetzen. Werden sich die Bischöfe also weiterhin an ihre Macht und an verletzende, ungerechte und missbrauchsbegĂŒnstigende Strukturen klammern und somit die Botschaft, die sie eigentlich verkĂŒnden sollen, weiter verdunkeln? Oder sind sie bereit, sich selbst zu entmachten und an der Gestaltung einer demokratischeren, (geschlechter-)gerechteren, sichereren, evangeliumsgemĂ€Ăeren und zukunftsfĂ€higeren Kirchenform mitzuwirken? Diese Fragen können allein die Bischöfe beantworten.
So liegt es auch in den HĂ€nden von uns GlĂ€ubigen, ob wir dieses Machtspiel weiter mittragen und somit am Leben halten oder ob wir den Vertretern des klerikalistischen Systems Kirche schlichtweg die Macht entziehen: Indem wir uns daran erinnern, dass wir alle WĂŒrdentrĂ€ger*innen sind.
Und auch der Theologie kommt in diesem notwendigen VerĂ€nderungsprozess eine tragende Rolle zu, denn es bedarf einer gegenwartssensibleren und missbrauchsunanfĂ€lligeren Theologie des Amtes: weg von einer gefĂ€hrlichen Ăberhöhung, hin zu einer reflektierten Erdung. In diesem Zusammenhang betont der Wiener Pastoraltheologe Johann Pock: âDie Theologie des Amtes braucht eine Ausfaltung und Aktualisierung. Diese muss wegfĂŒhren vom reinen Blick auf âWeiheĂ€mterâ hin zu den DienstĂ€mtern in ihrer PluralitĂ€t: Ămter von Frauen und MĂ€nnern; Ămter mit Weihe, Beauftragung, Sendung; Ămter mit zölibatĂ€rer oder anderer Lebensform. Der Ausgangspunkt hat bei der gemeinsamen Taufberufung zu liegen, nicht bei der âbesonderenâ Berufung zum Priestertumâ (Pock, 183). Im Zuge dessen wĂ€re es zudem an der Zeit, entklerikalisiertere und inklusivere Liturgieformen zu entwickeln.
Last but definitely not least wĂ€re da die in der gemeinsamen Taufberufung schon angeklungene und nicht zu unterschĂ€tzende Rolle des gesamten Gottesvolkes. Denn um Macht innehaben und ausĂŒben zu können, bedarf es auch eines GegenĂŒbers, das dieses âSpielâ mitmacht und das sich dieser hochproblematischen Machtform freiwillig unterwirft. So liegt es auch in den HĂ€nden von uns GlĂ€ubigen, ob wir dieses Machtspiel weiter mittragen und somit am Leben halten oder ob wir den Vertretern des klerikalistischen Systems Kirche schlichtweg die Macht entziehen: Indem wir uns daran erinnern, dass wir alle WĂŒrdentrĂ€ger*innen sind. Indem wir uns nicht mehr gehorsam fĂŒgen, sondern freimĂŒtig Widerstand leisten, uns selbst ermĂ€chtigen und gemeinsam fĂŒr eine bessere Kirche kĂ€mpfen â im Wissen darum, dass Gott auf der Seite der Erniedrigten und OhnmĂ€chtigen steht und nicht davor zurĂŒckschreckt, âdie MĂ€chtigen vom Thronâ (Lk 1,52) zu stĂŒrzen.
LITERATUR
Benedikt XVI., Schreiben zu Beginn des Priesterjahres anlĂ€sslich des 150. Jahrestages des âDies Natalisâ von Johannes Maria Vianney; abrufbar unter: https://www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/letters/2009/documents/hf_ben-xvi_let_20090616_anno-sacerdotale.html.
Bucher Rainer, Transformationen der Pastoralmacht, in: Dessoy, Valentin/Hahmann, Ursula/Lames, Gundo (Hg.), Macht und Kirche, WĂŒrzburg 2021, 85â102.
Dessoy, Valentin/Hahmann, Ursula/Lames, Gundo (Hg.), Macht und Kirche, WĂŒrzburg 2021.
MHG-Studie, Zusammenfassung [Version 13.8.2018]; pdf-upload unter: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-Endbericht-Zusammenfassung.pdf.
Pock, Johann, PrĂ€vention als Ziel der Priester-Aus- und -Weiterbildung. Der Beitrag der Theologie, in: PrĂŒller-Jagenteufel, Gunter/Treitler, Wolfgang (Hg.), Verbrechen und Verantwortung. Sexueller Missbrauch von MinderjĂ€hrigen in kirchlichen Einrichtungen, Freiburg i. Br. 2021, 162â189.
[Links zuletzt eingesehen am 20.12.2021]
Klerikalismus: Vom Leben und gelebt werden
Ok, ich bin Kleriker. Das lÀsst sich nicht so einfach Àndern und das will ich auch nicht verleugnen. Aber wie klerikal bin ich? Kann ich da...