Tiberius
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Tiberius

Erinnerungen eines vernünftigen Menschen

Volker Ebersbach

  1. 386 pages
  2. German
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Tiberius

Erinnerungen eines vernünftigen Menschen

Volker Ebersbach

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Als Tiberius (42 v. Chr. - 37 n. Chr.) seine Memoiren verfasst, ist die Blütezeit Roms vorbei, und ein Zeitalter liegt in Asche. Auf der Insel Capri erinnert sich der vereinsamte und an einer schweren Krankheit leidende Kaiser von Rom an ein Leben, in dem er auf die Macht und die Frauen setzte und scheiterte. Immer auf der Suche nach Liebe, wusste er von den Frauen nie, ob sie Göttinnen waren oder Huren. Und doch konnte er nur dann er selber sein, wenn er in den Armen einer schönen Frau lag.56-jährig übernahm Tiberius von seinem Stiefvater Augustus einen Senat von Emporkömmlingen, die Werkzeuge des Kaisers waren und ihn mit Zuständigkeiten und Pflichten überbürdeten.Volker Ebersbach, profunder Kenner römischer Geschichte, legt einen literarischen Roman vor, in dem er Sachkenntnis, Spannung und psychologisches Gespür zu einem Lesevergnügen besonderer Art zu verbinden weiß. Sein Interesse gilt auch den inneren Machtstrukturen, ihren Vernetzungen, Bedingtheiten und Absurditäten. Die um 2000 Jahre zurückliegenden Ereignisse vermitteln überraschende und atemberaubende Bezüge zu unserem - nicht so fernen - Zeitalter."Tiberius" ist ein Buch über die Liebe und über die Macht, über Opfer und Täter.

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Information

Year
2022
ISBN
9783965216426
Edition
1

ERSTES BUCH

Wenn man die Herzen der Tyrannen aufschlösse, würde man Wunden und Hiebe entdecken.
Platon, Gorgias

I. LIVIA MATER

1 Ich bin der Nachfahr eigensinniger Ahnen, einer starken Mutter und eines schwachen Vaters. Das Gesicht meiner Mutter beherrscht meine frühesten Erinnerungen. Mnemosyne selbst, wollte ich sie bitten, mit göttlicher Kraft mein Gedächtnis zu schärfen, nähme ihre Züge an, und auch ihre Töchter, die Musen, erschienen mir, riefe ich sie, mit demselben strengen Lächeln. Nicht genug, dass es gegen meinen Willen, bevor überhaupt ein Wille in mir erwachen konnte, zum vertrautesten wurde – es begegnet mir noch jetzt, Jahre nach ihrem Tod, sooft ich morgens in den Spiegel schaue, sooft ich unter einem meiner Standbilder vorüberschreite, auf eine meiner Büsten zugehe und meinen Blick auf den weißen Marmor von Kopf und Hals hefte, der wie eine Wolkenerscheinung aus dem farbigen Marmor der Gewandfalten ragt. Ich habe alles von diesem Mutterantlitz, die breite, helle Stirn, die einen Freimut verspricht, wie ihn die flachen Augen darunter niemals einzulösen vermögen, die zarte, zwischen zwei so breiten Wangen zu zarte, wie in einer Einöde sich fast verlierende, von der Seite gesehen aber weit vorspringende Nase, den engen, schmallippigen Mund, starres Sinnbild wortkarger Vernunft, zum Schweigen besser geschaffen als zum Reden. Mindestens einmal am Tag erschrecke ich vor dieser übervertrauten, mir in fataler Ähnlichkeit lebenslang aufgezwungenen Maske. Die Lebenskraft, die Livia sich bis ins hohe Alter bewahrte, ließ mich kaum je im Zweifel, dass ich vor ihr sterben würde, und noch jetzt bezweifelt mein Herz verdrossen, dass sie tot ist. Ich habe einem inneren Widerstreben gehorcht, als ich davon Abstand nahm, zu ihrer Leichenfeier nach Rom zu reisen. Es kann auch zum Verhängnis ausschlagen, wenn man sich zu nichts zwingen lässt: Da ich das Antlitz der Toten nie gesehen habe, verfolgt mich der Blick der Lebenden, sich verjüngend und sich kräftigend Tag für Tag.
2 Es ist unter Römern üblich, sich vortrefflich zu finden. Dem Gebot der Bescheidenheit fügt sich der Selbstgewisse nur, indem er seine Vortrefflichkeit als ein Erbteil bezeichnet und jedes Lob an die Vorfahren verweist, denen er verdankt, was er ist. Meine Vorfahren, sowohl von der Mutter als auch vom Vater her, waren Claudier. Der patrizische Zweig dieses Geschlechtes, dem ich angehöre, sah es immer als freches Gaukelspiel der römischen Namensgebung an, dass es auch plebejische Claudier gibt, deren Ahnen, aus demselben Landstrich zwar, aber später, nach Rom zugewandert sind. Ich finde mich keineswegs vortrefflich. Ich sage nur: Ich habe Eigenschaften. Ob sie mir oder anderen zum Nutzen oder zum Schaden ausschlagen, hängt ganz von den Umständen ab, unter denen ich sie entfalte. Die Gelegenheiten und die beteiligten Personen entscheiden jeweils, und dies nur für sich, ob es sich um Vorzüge oder um Makel handelt, ob mein Verhalten gut oder schlecht, löblich oder tadelnswert sei. Ich behaupte sogar, dass ich ebenso viele Eigenschaften habe, wie es Menschen gibt, die sich Urteile über mich bilden. Allein schon die Zahl solcher Urteile, zu schweigen vom Rang der Urteilenden, lässt es zwecklos erscheinen, sich darum zu kümmern. Dass ich Linkshänder bin, hat mir als Kind Tadel und Schläge eingetragen. Aber ich finde, der Linkshänder hat mehr Anstand als alle, die der Rechten den Vorzug geben, denn wenn er jemandem, wie üblich, die rechte Hand gibt, ist es nicht die, mit der er sich auch den Hintern abwischt, zu schweigen davon, wie viele Handküsse die rechte Hand eines Herrschers über sich ergehen lässt. Dass meine Augen auch in finsterer Nacht etwas sehen wie die von Katzen und Eulen, lernte ich früh zu verheimlichen, denn es weckte bei meinen Mitmenschen einen mir lästigen Argwohn und üble Nachrede, als besäße ich eine tierhafte Natur. Kaum jemand hatte dabei die Güte, der Weisheit der Eule, die den Athenern heilig ist, zu gedenken, und wenn ich den gehässigen Vergleich mit der Katze hörte, hielt ich mir zugute, dass dieses Tier sich weit weniger zähmen lasse als der Hund. So folge ich dem Brauch des Römers, seine Eigenschaften von den Ahnen herzuleiten, auch nicht, um etwa meine Fehler zu entschuldigen, sondern es reizt mich, ihr Widerspiel zurückzuverfolgen in der langen Reihe derer, die mir etwas mitgegeben haben. Ähnlichkeit mit Eltern und Voreltern stellt mit Freuden fest, wer Vorbilder in ihnen verehrt. Wer aber, wie ich, dies nicht vermag, wie beharrlich er auch an diese Pflicht erinnert wurde, wer auf sein Herkommen eher scheel oder gar mit Hass blicken musste, den er anderen und sich selbst verhehlte, bis er die Scham darüber abstreifte, der lernt erst, wenn alle, die über ihn urteilen, jünger sind als er selbst, sich als ein Abbild der Seinen anzunehmen, ohne über den Wert desselben zu befinden.
3 Die Claudier sind in ihrem patrizischen Zweig immer leidenschaftliche Aristokraten gewesen. Neben den Aemiliern, Corneliern, Fabiern und Valeriern gehörten sie zu den Ersten Familien des römischen Senats. Zu allen Zeiten der Senatsherrschaft fand man sie unter denen, die den Herrschaftsanspruch des Adels am weitesten trieben. Mit ihrer göttlichen Abstammung ließen sie nie spaßen. Clausus soll unser Stammvater geheißen haben. Die Überlieferung sieht ihn als Sohn des Gottes Saturn, den die städtischen Priester nicht müde werden, in ihrem Eifer für alles Griechische, dem Kronos gleichzusetzen, dem Titanen, den der Himmelsherrscher Uranos mit der Erdmutter Gaia zeugte, der, um selbst Herr der Welt zu werden, seinen Vater mit scharfer Sichel entmannte, der seine Kinder fraß und, als die Reihe an Zeus kam, von seiner Gemahlin Rheia mit einem in Windeln gewickelten Stein getäuscht wurde. Sooft ich erzählen hörte, wie der Getäuschte von seinem herangewachsenen Sohn in den Tartarus gestürzt wurde, empfand ich mit dem jungen Rebellen, der sich durch eine beherzte Tat gegen den titanischen Vater zum Herrscher des Olymp aufschwang. Später, selbst Vater, träumte ich den Begnadigungen nach, von denen die Rede ging, sei es die Herrschaft des Kronos über ferne, uns unbekannte glückselige Inseln, sei es seine Flucht unter dem Namen Saturn nach Italien, wo er gemeinsam mit dem doppelgesichtigen Gott Janus über die früchtetragenden Fluren zu beiden Seiten des Tiber herrschte und lange vor der Gründung Roms auf dem Hügel Janiculus die Stadt Saturnia errichtete. An dieser kindlich liebreizenden Sagenwelt ist mir eins so angenehm und schmeichelhaft wie das andere. Denn auch ich liebe das Inseldasein und glaube, dass nur auf Inseln Glückseligkeit erlangt werden kann, und auch ich lebte, wiewohl mich nach einem Vater sehnend, beständig im Hader mit allem Väterlichen und in Furcht vor meiner eigenen Saat. Auch ich fühlte mich stets, wo immer ich mich aufhielt, selbst in den eignen vier Wänden, wie im Exil. Auch ich halte nicht Rom für ewig, sondern das italische Land und wäre, dürfte man solchen Geschichten Wahrhaftigkeit beimessen, stolz auf die Abstammung von einem Gott, der als Stadtgründer schon auftrat, als noch niemand die Namen Romulus und Remus genannt hatte, der in diesen endlos fruchtbaren Gefilden den Ackerbau und die Obstpflanzungen heimisch machte und die Weinberge schützte und glücklich vermählt war mit Ops, der Göttin des Reichtums, den man durch Säen und Ernten erwirbt.
4 Den Clausus soll Saturn mit Regilla gezeugt haben, einer Bergnymphe des Sabinerlandes, die denn auch der Ortschaft, aus der die Claudier späterhin nach Rom zogen, ihren Namen lieh: Regillum. Unser viel beschworener Vergilius Maro, den allerdings, wie jeden großen Dichter, nur diejenigen lieben, die nicht die Mittel hätten, ein Werk bei ihm zu bestellen, nennt diesen Clausus in der stattlichen Reihe von Heerführern, die Italien gegen die in Latium gelandeten Troer aufbietet. Kein Gefährte des götterfürchtigen Aeneas also war er, des Ahnherrn der Römer und namentlich des julischen Hauses, dem mein Vorgänger Augustus sich zurechnete, sondern ein Gefolgsmann des wilden, finsteren, grimmigen Turnus, den Juno in ehelicher Auflehnung gegen Jupiter dazu ausersehen hatte, die Gründung Roms, der Stadt der Städte, zu verhindern. In den ersten Jahren meiner Erziehung versuchten mich Gleichaltrige, die dem julischen Haus entstammten oder nahestanden oder ihren Stammbaum anderweitig auf die Aeneaden zurückführten, damit zu schmähen und zu hänseln, dass Turnus zuletzt unterlag. Das nahm ein Ende, als mein Vater starb und ich auf den Palatin, den Sitz der Julier, geholt wurde. Dort allerdings verwandelte sich, als ich die Schattenseiten dieses Wohlwollens zu spüren bekam, die Scham des Knaben in einen geheimen Stolz darauf, dass mein Stamm fest in der italischen Erde wurzelte, der des Imperators aber, der den Namen Caesars übernommen hatte und sich der Erhabene nennen ließ, in ein Häuflein Geschlagener zurückführte, die, griechischer Tücke erlegen, den Flammen Trojas entkommen waren. Wie schlecht haben sie die Gastlichkeit der Karthagerkönigin Dido vergolten! So dachte ich insgeheim, als ich dann Vergil aus seinem Werk vortragen hörte. Auch das Geschichtswerk unseres Titus Livius konnte nicht verschweigen, dass sie Fremdlinge waren, die ein Asyl, das sie durch Bitten nicht erwirkten, in Latium mit Waffengewalt ertrotzten, dass sie durch keinen Sieg überdauerten, sondern durch Anpassung, indem sie ihre asiatischen Gebräuche ablegten und mit uns, den alteingesessenen Italikern, verschmolzen.
5 Eine scheue Ehrfurcht vor unserer Bodenständigkeit, vor der Saat des ungebärdigen Turnus, der nur durch Götterbeschluss und im übrigen ebenbürtig im Zweikampf gegen Aeneas fallen musste, glaubte ich denn auch immer aus dem Wohlwollen herauszuspüren, das Augustus uns Claudiern entgegenbrachte. Die Besessenheit, mit der er, noch unter dem Namen Octavian, meiner Mutter nachstellte, obgleich er bereits zum zweiten Mal verheiratet war, legt man dem sonst so nüchternen, berechnenden, über jede Empfindung das Kalkül seiner Macht setzenden Kopf noch heute gern als die einzige feurige Aufwallung der Seele aus. Für mich steckt auch hinter dieser Affäre sein Ehrgeiz, und zwar ein dynastischer, der danach trachtete, gleichsam als zweiter Gründer Roms in seinen Nachkommen das Blut der Aeneaden und das der Italiker nochmals zu vermischen. Er wollte mit meiner Mutter den idealen römischen Weltherrscher züchten. Aber das ist ihm fehlgeschlagen. Die Ehe blieb kinderlos. Aus Zwiespältigem kommt nur Zwiespältiges oder nichts, wie auch ich es bitter erfahren musste. Er liebte meine Mutter zweifellos, aber mit der zügellosen Befriedigung der Begierde zugleich höheren Zwecken zu dienen, das ist nicht einmal Göttern gegeben. Könnte mir Rache noch etwas bedeuten, welchen Genuss hätte ich daraus ziehen dürfen, dass nun ich, ein Spätgeborener, Letztgebliebener ohne nennenswerte Nachkommen, ein Brunnen gleichsam, in dem alles Claudierblut zusammenfloss, über das Staatswesen verfüge, an dem unsere Vorväter zu bauen begannen, vor dessen Vollendung Julius Caesar erdolcht wurde und das sein Großneffe zu vollenden wähnte. Doch mein alter italischer, mein saturnischer Widerwille gegen die Helden, gegen die brudermörderischen Zwillinge Romulus und Remus, gegen die Stadt der Städte, gegen die Staatenschöpfer und Staatenlenker lehrte mich, zumal mir die Macht zufiel, als ich sie nicht mehr begehrte, dass ein Mächtiger das Gebilde, über das er herrscht, nur zutiefst verabscheuen, die Menschen, die sich ihm beugen, nur gründlich verachten könne.
6 Denn wir waren zuerst Bauern und Hirten. Ehe die troischen Helden kamen, ehe Turnus den Clausus und sein Gefolge aus den Sabinerbergen rief, waren unsere Heerscharen Ziegen und Schafe und Rinder. Wer mich, seit ich hier auf Capreae lebe, auf den Märkten Roms als den Bock auf der Ziegeninsel schmäht, weiß nicht, wie wenig mich das ärgert. Ehemals hielt ich mich für schwach, überzüchtet, lebensuntauglich, für das Verfallsprodukt einer zu langen Geschlechterfolge. Aber es war nur die schlechte Luft der Paläste, der verbrauchte Atem Roms, das Lügengewebe meiner Erziehung, was mich krank machte. Ich wand mich in Fesseln, die, mit Edelsteinen besetzt, als Schmuck gelten sollten, die sich bei jeder selbstständigen Bewegung strafften und verengten, meine Kraft in Schwäche, meinen Scharfsinn in Torheit, meine Festigkeit in Stumpfsinn verfälschten. In den Feldzügen, die ich für meinen Vorgänger befehligte, lernte ich mich anders kennen, auf Rhodos fand ich zu mir selbst. Immer war es die Ferne von Rom, an der ich gesundete. Und seit ich mich auf diesem durch die Urgewalten der Vorzeit von der titanischen Erde Italiens abgespaltenen Eiland festgesetzt habe, fern vom Gestank des Sudeltopfes mit Namen Rom, unangefochten sowohl von der wankelmütigen Menge als auch von ihren habgierigen, ränkesüchtigen Wächtern, weiß ich, wer all die nahezu acht Jahrzehnte lang in mir gesteckt hat: ein Bauer und Viehhirt, der die Erde und das Wachstum der Pflanzen liebt, dem nichts am Herzen liegt, als zu pflügen, zu säen, zu jäten, zu ernten, als zu striegeln, zu scheren, zu melken, der, wann und wo er eins zu fassen bekommt, ein Weib nimmt auf die Art, die Paxamos in seinem Dodekatechnon die Unschuld der Tiere nennt. Kenntnisse, Tugendhaftigkeit, Staatspflichten haben sich mir als ausgeklügelte Umwege der Ichsucht um den Willen Fremder bloßgestellt. Auch meinen Wunsch, in den Besitz der Macht zu gelangen, durchschaute ich, noch ehe er erfüllt wurde, als Einbildung, als übersteigerten Antrieb zur Notwehr, als den Irrglauben, mit einem Schlag alle Peiniger loszuwerden. In Wirklichkeit vervielfachte sich ihre Zahl auf die Gesamtheit der römischen Bürger. Denn was ich übernahm, konnte niemals meine Macht sein, sondern nur die Macht dessen, den auch ich tödlich gehasst hatte. Zu spät erkannte ich, dass mich nur nach Freiheit gelüstete, nach der selbstverständlichen meiner bäurischen Vorväter oder, da diese verloren war, nach einer neuen, die ich nicht hätte erwarten, sondern zurückholen müssen.
Denn es ist das Wesen der Freiheit, dass sie nicht gegeben, sondern genommen wird. Lange narrte mich das Trugbild einer Freiheit, an der ich durch meine Nähe zur Macht teilzuhaben glaubte, und wenn ich sie besser zu genießen hoffte, indem ich mich williger meinen Pflichten fügte, entwickelte ich nur viel Geschick, möglichst schmerzarm mein Joch zu tragen. Nun gehe ich durch die Gärten und Parks dieser Insel, durch meine zwölf nach den olympischen Göttern benannten Villen und weiß, was Freiheit ist. Aber die Kräfte, die ich brauchte, um sie ungebrochen und unverstümmelt zu genießen, habe ich an Familienrücksichten und Staatsgeschäfte verschwendet. Und sie wachsen nicht mehr nach.
7 Wir Claudier also dachten damals in Regillum an keinen Staat, weil die Erde, die uns gehörte, alles hervorbrachte, was wir benötigten, weil wir nichts zu verkaufen und nichts zu kaufen wussten und folglich kaum einen Begriff von Diebstahl hatten oder von Raub. Der Triumph des Aeneas über Turnus gab uns eine erste Ahnung, dass ein Held allein durch seinen Sieg das Recht erwirbt, ohne Vorwurf fremde Habe an sich zu bringen. Wir mussten lernen, dass ein so gegründetes Staatswesen nichts anderes will, als seinen ehrenwerten Raub vor anderen Helden zu behaupten. Seine räuberischen Spielregeln hatten wir zu begreifen, die festlegten, wie viel sich der Gewinner von fremder Hände Arbeit nehmen dürfe, ohne Vergeltung zu fürchten. Hilf dem Räuber rauben und nenne ihn einen Wohltäter des Menschengeschlechts, so wird er dein Wohltäter und macht dich reich, denn er, nur er hat genug, um zu geben! Wer einem Armen helfen möchte, verliert, was er hat, ohne den anderen zu retten, und kommt selbst in Schande. Armut ist ein Fass ohne Boden. Nicht einmal die edle Genügsamkeit, in der unsere italischen Vorväter Meister waren, noch ehe Epikurs Lehre zu uns fand und alsbald zur Rechtfertigung des Genusslebens verfälscht wurde, kann bestehen, sobald Reichtum in ihre Nähe gelangt. Sie wird zur Armut und lädt Schimpf auf sich. Sobald der Kreis, in dem das Notwendige ohne Mangel und Überschuss hervorgebracht und verbraucht wird, an einer einzigen Stelle sich öffnet, bleibt keine Wahl, als seine Habe in das räuberische Spiel einzubringen und auf kleine Gewinne zu hoffen, mit denen große erreichbar sind, oder zum Bettler zu werden.
8 So endete auch für uns Claudier das Goldene Zeitalter, als in den saturnischen Fluren die Stadt Rom von sich reden machte. Es gereicht dem Atta oder Attus Clausus, einem Nachfahren unseres Ahnherrn Clausus, zur Ehre, dass er noch die Vertreibung des letzten Königs Tarquinius Superbus abwartete, dessen Anmaßung selbst die räuberischen Spielregeln, von denen ich sprach, verletzte. Erst im zweihundertfünfzigsten Jahr der Stadt und im sechsten Jahr der Republik siedelte sich dieser Clausus mit seiner Familie und seinem Gesinde in Rom an, immerhin früh genug, um Patrizier zu werden. Die Claudier, die später nach Rom kamen, bestätigen im Grunde meine Beobachtung, dass Plebejer nur träge Träumer sind, die das Ende des Goldenen Zeitalters erst nicht wahrhaben wollen und dann glauben, es wieder errichten zu können. Meine Vorfahren erkannten rasch und klar, dass sie nur in der wachsamen Verteilung der Macht auf einen engen, gleichberechtigten Kreis der Besten und in deren Wetteifer um die geeignetsten Maßnahmen auf ihre Kosten kommen würden. So füllte sich meine Ahnentafel mit Männern, die sich um Rom verdient gemacht haben. Doch nicht wenige von ihnen lehnten sich gegen das Staatswesen auf, und das setzt voraus, dass sie als Spielregel durchschauten, was im Gewand göttlicher Satzung daherkam. Titus Tatius, der König der Sabiner, duldsam, friedfertig, gutgläubig, der den heimtückischen Frauenraub der Römer schließlich ohne weiteren Widerstand hinnahm und sich darauf einließ, mit Romulus gemeinsam zu regieren, obwohl der schon seinen Bruder umgebracht hatte, mag ihnen als Vorbild, sein nie aufgeklärter Tod während einer Opferhandlung hingegen als Warnung gegolten haben. Ich hatte Ursache, mich seiner zu erinnern und zu lernen: Je mehr der Tüchtige teilhat an der Macht, desto besser muss er vor ihr auf der Hut sein.
9 Es wundert mich daher nicht, wenn unser Zwölftafelgesetz den Appius Claudius Caecus als seinen Verfasser namhaft macht. Wo immer ich mich in die Last des Regierens fügte, verscheuchte ich die Seufzer, indem ich mich auf seine Gabe besann, dem, was gelten soll, gültige Gestalt zu geben. Seine Tatkraft war mir immer Vorbild. Diesem ersten Berühmten unseres Namens verdankt Rom seine älteste Wasserleitung, die Aqua Appia, und die frühesten Bauabschnitte der Appischen Straße. Es scheint, als hätte dieser seinem Beinamen zufolge blinde Mann mehr Weitsicht behalten als andere, als er dem Senat erfolgreich von einem Bündnis mit dem griechischen Tyrannen Pyrrhos abriet, der im Süden Italiens vordrang. Wer sein Gebiet erweitern will, darf nicht darauf rechnen, dass ein anderer seine Feinde unterwirft, denn der wird daran selbst zum gefährlichsten Feind, sondern er muss Straßen bauen, um selbst zu marschieren. Schon gar nicht sollte er sich an einen hängen, dessen tollkühne Unternehmungen, auch wenn sie einstweilen noch gelingen, nur verraten, dass er bereits im Netz der Hybris zappelt.
10 Claudius Caudex erhielt seinen Beinamen, weil er es gewagt hatte, mit einem Einbaum, wie ihn die halbwilden Fischer Lucaniens und Bruttiums damals noch benutzten, die von den Puniern besetzten Buchten Siziliens auszukundschaften. Danach tat der Wagehals, was bis dahin keinem Römer eingefallen war, als hätten die Irrfahrten des Aeneas seinen Nachkommen das Meer verhasst gemacht: Er rüstete eine Flotte aus und überquerte die Meerenge, über die in der Vorzeit die Seeungeheuer Skylla und Charybdis geherrscht haben sollen. Den Puniern fügte er so schwere Verluste zu, dass sie Sizilien aufgaben. Ein Claudier war es also, Nachkomme eines Bergvolkes aus dem Landesinneren, der die Römer an die Seefahrt erinnern musste, damit sie dem mächtigen Karthago ebenbürtig wurden. Seinem Verdienst fügte Claudius Nero, dem mein Vater und dessen Väter ihren Beinamen verdanken, ein veraltetes Wort für den Starken, Tüchtigen, Mannhaften, ein kaum geringeres hinzu, als er sich dem von Hispanien heranziehenden Heer Hasdrubals entgegenwarf, um es zu vernichten, bevor es sich mit dem seines Schwagers Hannibal, das in Apulien vorrückte, vereinigen konnte. Es scheint in der Natur der Kriegsläufte zu liegen, dass spätere Siege, die man die entscheidenden nennt, jene kleineren überstrahlen, die sie vorbereiteten. Die wenig erwähnte Schlacht am Metaurus, in der Hasdrubal sein Leben verlor, liegt im Zwielicht zwischen der Schmach von Cannae, die Hannibal den Weg vor die Tore Roms öffnete, und dem Triumph von Zama Regia, der es Scipio ermöglichte, den Karthagern einen römischen Frieden aufzuzwingen, wie er bald sprichwörtlich wurde.
11 Doch ich bin kein Geschichtsschreiber. Wie viele Konsuln, Zensoren, Diktatoren die Claudier aufzuweisen haben, wie viele große und kleine Triumphe, wie viele Ovationen sie feiern durften, lässt sich in den Annalen des Senats nachlesen. Um nicht ruhmredig zu scheinen, möchte ich lieber noch einige Claudier aufführen, deren mit Unwillen, wenn nicht mit Tadel gedacht wird. In ihnen ist die ungewöhnlich starrköpfige und herrische Art meines Geschlechtes zum Ausdruck gekommen, deren Erbteil ich nach und nach verstehen und sogar schätzen lernte. Es kümmert mich nicht, wenn ich mich hier dem Vorwurf aussetze, ich wolle selbst die Fehler meiner Vorfahren als Tugenden hinstellen. Wie an mir, so stelle ich auch an ihnen lediglich Eigenschaften fest. Claudius Regillianus, der dem gesetzesmächtigen Zehnmännerkollegium angehörte, begehrte eine freigeborene Jungfrau von überwältigender, zu Überwältigung herausfordernder Schönheit. Er versuchte sie denn auch, als sie ihn nicht erhörte, in seine Botmäßigkeit zu zwingen, indem er mit falschen Zeugen vor Gericht erschien, die er beeiden ließ, sie sei ein untergeschobenes Kind und in Wahrheit eine Sklavin, die er jederzeit kaufen dürfe. Das Vorkommnis wäre alltäglich zu nennen und gewiss nicht durch ein halbes Jahrtausend überliefert worden, hätten nicht seine Folgen den Zorn aller Patrizier heraufbeschworen: Die Plebejer, noch nicht lange durch einen fein gesponnenen Schleier aus Zugeständnissen und Drohungen zur Ruhe gebracht, nahmen den Übergriff erneut zum Anlass, die Stadt mit Unruhe zu erfüllen und aufs Forum zu ziehen. Denn dort war diese Virginia unter dem Messer ihres Vaters verblutet, der sie lieber dem Tod als der Schande überantworten wollte. Das rechnete man meinem Vorfahren hart an, hatte er doch eine Lage heraufbeschworen, in der ein gehobener Stand von einem niederen sittliche Lehren annehmen musste.
12 Dass man dem Claudius Russus die Statue verübelte, die er sich nach dem Vorbild Alexanders mit der Zierde eines goldenen Diadems errichten ließ, als käme ihm zu, der ganzen Welt zu gebieten, war vielen Römern noch bis in die Zeit meiner Geburt verständlich. Sonst hätte niemand Julius Caesar umgebracht. Dieser Mord entbehrte jeder Vernunft. Aber wie ist es um die Vernunft von Leuten bestellt, die heute jene Legende um das Diadem eines Claudiers als Hinweis auf meine Herrschaft deuten? Jedem Schmeichler, der mir mit diesem Unsinn kam, erzählte ich, wie mein Vorfahr Claudius Pulcher mit Zeichen und Wundern umging. Als bei feierlichen Auspizien die Hühner, denen der Aberglaube bis heute nachsagt, sie erhellten mit der Wahl bestimmter Körner die Zukunft, überhaupt kein Futter annahmen, ließ er sie ins Meer werfen, zu den Worten, wer nicht fressen wolle, müsse Wasser saufen. Nicht dass ich mich allen Vorzeichen verschlösse. Aber wer wie ich die Verflechtungen unserer Geschicke mit den Bahnen der Gestirne erkannt hat, gibt nichts auf Hühnerschnäbel. Leider setzte sich mein Ahne nur halbherzig und täppisch über die religiösen Vorurteile hinweg. Er hätte besser daran getan, die Auspizien gar nicht zu befragen und die darauffolgende Seeschlacht bei Drepanum zu gewinnen. So aber hob der Senat über ihn die Brauen und tadelte nicht nur seine Niederlage, sondern auch die Missachtung des bösen Omens, das er in der mangelnden Fresslust der Hühner erblickte. Dieser Pulcher jedoch wäre kein Claudier gewesen, hätte er sich damit zufriedengegeben. Im Bewusstsein seiner Unentbehrlichkeit als Kriegsherr angesichts eines näh...

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Ebersbach, Volker. Tiberius. 1st ed. EDITION digital, 2022. Web. 15 Oct. 2022.