Ein langer Marsch. Arbeitsalltag im Flüchtlingsverein.
Teil 3
Ute Bock in Zitaten
„Ab und zu regen sich Leute über die Kinder auf, die da im Park einen Lärm machen. Im Park steht ein Hydrant, und wenn es heiß ist, füllen die Kinder die Sackerl für das Hundegacki mit Wasser auf und schießen damit herum. In der Nacht sitzen da die Besoffenen und grölen, dass man es drei Straßen weiter hört. Und das macht nichts? Es ist ein österreichisches Gegröle – das macht nichts.“
„Mich fragen die Leute ständig, ob ich nicht eine kleine Arbeit für sie habe, die wollen gar kein Geld, nur eine kleine Arbeit. Die sitzen den ganzen Tag herum und schauen in die Luft und werden verrückt. Ich hab in meinen Wohnungen gar nicht wenige, die eigentlich schon in die Psychiatrie gehören. Die warten jahrelang, dass man über sie zu einem Ergebnis kommt. Da wird man ja verrückt. Ich hatte eine armenische Familie, die kriegte nach neun Jahren Wartezeit das Bleiberecht. Der Vater ist jetzt in psychiatrischer Behandlung. Die Warterei zermürbt einen.“
„Einmal ist mir eine alte Frau gefolgt, mit Stock und Blindenschleife. Zwischen zwei Autos schleppte sie sich über die Gehsteigkante hinauf. Und dann, als sie mich sah, hob sie ihren Stock, drohte mir damit und schrie: Ihre Enkelkinder werden Sie einmal verfluchen für das, was sie tun! Da sagte ich zu ihr: Ich hab ja gar keine Enkelkinder … Gott sei Dank.“
Ute Bock hatte in ihrem Flüchtlingshaus im 2. Bezirk in Wien zwei neue Flüchtlingsfamilien untergebracht. In einem einzigen Raum mit zwei Fenstern wohnten 14 Menschen, davon viele Kinder, teilweise erst drei, vier, fünf Jahre alt. Mehrere Stapel Stühle türmten sich bis zur Decke, Matratzen standen aufgestellt an der Wand. Der Raum wurde tagsüber anderweitig verwendet, zum Beispiel ein paar Stunden für den Deutschkurs. Da mussten die Familien samt den Kindern raus.
Ute erzählte, dass sie einmal das Zimmer betrat, natürlich nachdem sie angeklopft hatte, und eines der Kinder, vielleicht sogar das kleinste, lag auf dem Fensterbrett des sperrangelweit offenen Fensters. Der kleine Körper hing schon mehr im Freien draußen als noch im Haus herinnen. Sie wollte schreien, hatte aber Angst, das Kind würde sich schrecken und erst recht hinunterfallen. Man befand sich schließlich im zweiten Stock. Es war kein anderer Mensch im Zimmer, geschweige denn ein Erwachsener. Ute ging ganz ruhig zu dem Kind, zog es herein und schloss das Fenster. Im selben Moment kam die Mutter des Kleinen ins Zimmer und nahm ihr Kind auf den Arm.
Ute Bock zischte mit zusammengepressten Lippen, um nicht in den Schimpfmodus zu verfallen: »Das Kind ist fast hinausgefallen.«
Die Mutter bedankte sich knapp, wie teilnahmslos ging sie mit ihm weg.
»Wo sind Sie denn gewesen?«, fragte Ute.
»Auf Toilette«, erhielt sie als knappe Antwort.
Auch solche Vorfälle gehörten zum Arbeitsalltag im Verein. Wenn alles improvisiert und auf engstem Raum stattfinde, komme so etwas eben vor, war Ute Bocks nüchterne Stellungnahme. Sie dachte sich ihren Teil, wollte aber durch Schimpfen oder Heruntermachen die ohnehin für die meisten schon angespannte Lage nicht noch verschärfen. Wann und wo es ging, pragmatisch zu bleiben, war ihre Devise.
Wenn sie bei den Menschen im Zimmer stand und die Kinder sie anlachten oder mit ihr spielten, ging ihr das Herz auf. Ja, die Lage war unzumutbar, aber wenn man das Beste daraus machte und es gelang, dass die Leute wenigstens nicht auf der Straße leben mussten, flackerte manchmal so etwas wie Zufriedenheit auf.
Bei so vielen Menschen auf engstem Raum kam es auch zu Körperkontakt. Ute aber wollte nicht gern berührt werden, Distanz war ihr wichtig. Nur die Kinder durften sie angreifen. Dagegen hatte sie nichts. Wenn ein Kind sie neckend anstupste, reagierte sie oft neckend zurück. »Tust du mit mir anbandeln?«, fragte sie das Kind und kitzelte es. Kinder konnten nicht nur Eis zum Schmelzen bringen, sondern auch als Vermittler in komplizierten, angespannten Situationen auftreten. Die Kinder lachten, Ute Bock musste auch grinsen, schon war die Atmosphäre aufgelockert.
Es gab eine Küche pro Stockwerk. Die Leute mussten ja auch essen. In der Früh kamen kleine Lieferbusse und brachten gespendete Lebensmittel in das Flüchtlingshaus. Die Frauen standen am Vormittag in der Küche und bereiteten, eines ihrer Kinder auf dem Arm, mit dem vorhandenen Essbaren etwas zu. Die Küche war winzig klein. Die Frauen wechselten sich ab.
All die Leute, Männer, Kinder, Jugendliche, hatten nichts zu tun, als auf ihre Termine bei den Asylbehörden zu warten oder später auf die Bescheide auf ihre Asylanträge. Aber sie konnten ja nicht den ganzen Tag nichts tun und nur herumsitzen. Deshalb wurden sie immer wieder von Ute und den anderen Vereinsmitarbeitern aufgefordert, hinauszugehen, sich im Freien aufzuhalten oder die Gegend, den Bezirk, den Stadtteil zu erkunden. Natürlich nur, wenn es das Wetter zuließ. »Geht hinaus, macht Bewegung, mischt euch unter die anderen Menschen«, wurde Ute nicht müde, die Leute immer wieder aufzufordern. Bei Schlechtwetter blieben alle im Haus, die Kinder spielten im Stiegenhaus und teilweise im engen Hof. Das konnte mitunter so laut und hallend werden, dass sich andere Familien mit weniger Kindern oder Einzelpersonen über den Lärm aufregten. Die Kinder würden Krieg spielen, hörte man dann Beschwerden, sie würden alles dreckig machen, an Türen klopfen und wegrennen.
Na ja, Ute nahm das nicht allzu ernst. So seien nun einmal Kinder in diesem Alter. Aber, das wusste sie genauso gut, manche Kinder aus Flüchtlingsfamilien konnten nicht normal reden, die konnten nur schreien, so als müssten sie Flugzeuglärm oder Schusssalven übertönen. Es kam vor, dass solche Kinder durch die ganze Gasse rannten und schrien und schrien, was das Zeug hielt, als würde sie der Teufel verfolgen. Dass das natürlich viele Anrainer aufbrachte und zu Beschwerden veranlasste, war jedem klar. Viel Zeit und Einfühlungsvermögen waren notwendig, um mit den Nachbarn und Anrainern zu reden und sie davon zu überzeugen, dass im Flüchtlingshaus nichts »Böses« geschah, und um Verständnis zu bitten, wenn es manchmal ein wenig lauter zuging. Flüchtlinge seien nun einmal Geflüchtete, hätten teilweise etwas Furchtbares erlebt, alles verloren und stünden nun mit nichts als ihrem nackten Leben in einem neuen Land.
Ute erzählte, die meisten Nachbarn erwiesen sich als empathisch und verständnisvoll, wenn man ruhig mit ihnen redete und die Sachlage erklärte. Die meisten, nicht alle. Sie erzählte von einer alten Frau mit Gehhilfe, von der sie regelmäßig beschimpft und einmal sogar mit ihrem Stock bedroht wurde. Die alte Frau schrie Ute Bock ins Gesicht und fuchtelte mit ihrem Stock herum: »Sie mit Ihren Flüchtlingen! Und alles mit unserem Geld!« Ute Bock wollte fast zur ihr sagen: Ich habe gar nicht gewusst, dass Sie für uns gespendet haben. Sie verkniff sich aber die Provokation und ließ die Alte stehen.
Ute stand unter den Frauen und den vielen Kindern zweier Flüchtlingsfamilien im engen Zimmer und plauderte mit ihnen. Ein Bub spannte einen Gummi und zielte damit auf sie. Sie zog ihn lachend am Ohr und redete währenddessen mit der Mutter. »Wo wart ihr denn vorher? Ihr seid ja nicht direkt nach Wien gekommen. Wo wart ihr vorher?«
Die Mutter sagte undeutlich und gebrochen ein Wort.
Ute glaubte den Namen verstanden zu haben. »Meinst du Steiermark? Ihr wart vorher in der Steiermark?«
Die Mutter und die älteren Kinder nickten. »Ja, Stei – jen – mack.«
Ute fragte das älteste Mädchen: »Und was willst du machen?«
»In Schule gehen«, sagte das Mädchen und freute sich.
Ein vielleicht dreijähriger Bub krabbelte an der Mutter hoch. Sie hatte ihn nicht gleich gesehen. Die Mutter hatte Probleme mit ihren Augen, war auf einem Auge blind. Eine Folge des Krieges in ihrem Land, aus dem sie mit ihrer ganzen Familie geflüchtet war. Einige der Kinder waren müde, legten sich auf eine Matratze. Und gerade als dem einen oder anderen die Augen zufielen, betrat ein junger Mann den Raum und sah sich um. Er sagte zu Ute Bock: »Ich dachte mir, das hier ist das Kurszimmer. Ich mache die Deutschkurse.«
»Ja, Sie sind hier richtig, junger Mann«, sagte Ute. »Das ist unser Lehrsaal. Ich musste ihn nur kurzfristig umfunktionieren, weil sonst zwei Familien mit zwölf Kindern auf der Straße hätten schlafen müssen.« Ute klatschte in die Hände und forderte alle auf, den Raum zu verlassen, damit der Deutschkurs abgehalten werden konnte.
Die Flüchtlingsfrauen schienen nicht zu verstehen. Die Kinder, die sich gerade hingelegt hatten, setzten sich wieder auf und rieben sich die Augen.
»Ihr müsst alle raus hier«, sagte Ute langsam und laut. »Versteht ihr? Alle raus, für eine Stunde.«
»Eineinhalb Stunden«, berichtigte sie der junge Deutschlehrer.
»Also gut. Eineinhalb Stunden«, wiederholte Ute Bock und bedeutete mit Gesten, dass jetzt alle gehen müssten.
Die Frauen nahmen die kleinsten ihrer Kinder auf und redeten mit den älteren. Die wiederum nahmen ihre kleineren Geschwister an den Händen, und die kleineren die kleinsten. So bewegte sich der ganze Pulk Menschen langsam, wie eine Herde, aus dem Zimmer.
Der Deutschlehrer sah ihnen zu. Er sagte: »Ich geh noch ins Büro, um Skripten zu kopieren.«
»Tun Sie das«, antwortete Ute, die die Frauen beim Rausbringen der Kinder unterstützte.
Noch bevor das Zimmer geräumt war, betraten schon die Asylwerber, die den Deutschkurs besuchen wollten, den Raum.
»In einer Viertelstunde«, sagte der Deutschlehrer zu ihnen und zeigte auf das Ziffernblatt seiner Armbanduhr, »Viertelstunde. Unterricht. Deutsche Sprache.«
Zu Ute sagte er: »Ich bin kein richtiger Lehrer. Ich mach das ehrenamtlich.«
»Das ist sehr löblich von Ihnen«, erwiderte Ute und verschwand hinter den Kindern aus dem Zimmer.
Die Asylwerber, die Deutsch lernen wollten oder besser gesagt damit anfangen wollten, sahen sich um, nahmen von den Stapeln Stühle und setzten sich. Sie plauderten miteinander, einige wollten reden, andere blickten schweigend auf den Boden. Alle hatten die Geschichte einer Flucht hinter sich. Nigeria, Afghanistan, Syrien, Tschetschenien. Frauen wie Männer, doch die Männer in der Überzahl. Und jedem hatte sich die eigene Geschichte seiner Flucht ins Gesicht eingegraben. Mal mehr, mal weniger tief.
Nach zehn Minuten kam der ehrenamtliche Deutschlehrer zurück, begrüßte die anwesende Gruppe mit »Hallo« und teilte die Skripten aus. Die meisten Menschen lächelten ihn an und grüßten zurück. Sie freuten sich und waren gespannt auf die neue Sprache.
Eine Flüchtlingsfrau, die auf einem Auge blind war, musste sich täglich bei der Polizei melden und ihre Meldungsbesuche abstempeln lassen. Da sie von den Kriegszuständen in ihrem Heimatland schwer traumatisiert war und sich in Österreich noch nicht davon erholen konnte, musste sie von Ute oder einem Mitarbeiter des Vereins bei den täglichen Besuchen begleitet werden. Sobal...