Dietmar Grieser für Kenner
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Das Lesebuch

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Das Beste aus 30 Jahren vom »begnadeten Erzähler vieler köstlicher Geschichten" (Frankfurter Allgemeine Zeitung)Unternehmen Sie mit Literaturdetektiv Dietmar Grieser einen Spaziergang durch die Kulturgeschichte, durch sein eindrucksvolles literarisches Gesamtwerk. Erinnern Sie sich an Bucherfolge wie »Schauplätze der Weltliteratur", »Wien – Wahlheimat der Genies" und »Kein Bett wie jedes andere" – bis hin zu seinem Bestseller »Die böhmische Großmutter". Dieses Lesebuch bietet gleichermaßen nostalgisches Wiederlesen wie beglückendes Neuentdecken. Das besondere Geschenk für alle, die Dietmar Griesers Werke in einer kompakten Auswahl kennen lernen wollen.

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Dietmar Grieser auf den Spuren später Lieben

»Keine Liebschaft war es nicht …«

Derzeit sind die Fässer und die Flaschen leer. Um die Produktion des Ulrike-Bieres wieder anzukurbeln, muß man erst noch eine neue Brauerei finden, die die Marke in ihr Programm aufnimmt; die alte hat vor kurzem Pleite gemacht. Nur die Reklameschilder hängen noch an der Außenfront mancher Gasthäuser im Bezirk Leitmeritz: ein dunkelgrünes Oval mit karmesinroter Schrift, in der Mitte eine Art Medaillon mit dem Bildnis eines hübschen jungen Mädchens aus alter Zeit. »Baronka« lautet der Name des Produkts, und damit der Biertrinker auch weiß, um welche Baronesse es sich dabei handelt, ist deren Porträt mit einem stilisierten Faksimile ihrer Signatur versehen: Ulrike von Levetzow.
Es ist das erste Mal in der Geschichte des tschechischen Brauwesens, daß eine Biersorte nach einer Frau benannt ist. Über Güte und Geschmack des dreizehnprozentigen Hopfensaftes kann ich leider nichts aussagen: Die Produktion ist bis auf weiteres eingestellt. Ich kann mich also nur an die im Ulrike-Museum in Trziblitz ausgestellten Václav-Havel-Fotos halten, die den früheren Staatspräsidenten der Republik Tschechien beim Genuß der neuen Kreation zeigen: Hemdsärmelig und in fröhlicher Runde sitzt er im Park hinterm Haus, zerteilt seine Forelle, führt sein Bierglas zum Mund. Sowohl er wie seine Zechkumpane sind guter Dinge, ja geradezu ausgelassen – ich nehme also an, es mundet ihnen, das Ulrike-Bier.
Genaueres kann ich hingegen über einen zweiten Artikel berichten, der sich zwecks Verkaufsförderung des Namens Ulrike von Levetzow bedient. Nicht nur, daß Armreif, Halsband und Ohrring entschieden besser zu einer jungen Dame von Stand passen als das Männergetränk Bier, ist in diesem Fall auch reichlich für Nachschub gesorgt: Die seit alters aus dem Erdreich rund um Trziblitz gewonnenen Granatkörner bilden nach wie vor eine der Hauptattraktionen der regionalen Edelsteinindustrie. Auch Frau Pazderová, die Hüterin des Ulrike-Museums, bietet mir wohlfeile Nachbildungen jener Schmuckstücke an, die die Baronesse getragen und gesammelt hat, und da ich mich ihrem Drängen mit der Beteuerung entziehe, momentan nicht gar so gut bei Kasse zu sein, steckt sie mir beim Abschied ein kleines Gratis-Säckchen zu, das mit einem fingerhutgroßen Häufchen ungeschliffener Granate gefüllt ist.
Wenn nicht früher, so spätestens in diesem Augenblick kommt Goethe ins Spiel: Er, der Zweiundsiebzigjährige, ist es, der auf seinen Wanderungen rund um Marienbad die ihn begleitende siebzehnjährige Ulrike von Levetzow für die Passion des Steinelesens zu begeistern versucht, und so kann es durchaus sein, daß ihr späteres Faible für böhmischen Granatschmuck in den mineralogischen Pirschgängen an der Seite des Dichters seine Wurzeln hat. Wenn sie schon dem Drängen des 55 Jahre Älteren, seine Frau zu werden, nicht nachgibt: Seine sammlerischen Neigungen zu teilen, ist sie gern bereit.
Wir erinnern uns: Drei Sommer lang – 1821, 1822 und 1823 – stellt der greise Goethe, Kurgast im frischeröffneten Marienbad, der zur selben Zeit am Ort weilenden Ulrike von Levetzow nach, buhlt um ihre Gunst, läßt keinen Geringeren als den gleichfalls in dem böhmischen Modebad kurenden Großherzog Carl August von Weimar in seinem Namen um ihre Hand anhalten. Der Dichter, seit fünf Jahren Witwer, möchte »die lieblichste der lieblichsten Gestalten« zur Frau nehmen. Doch aus der erträumten letzten Liebe wird nichts, kann nichts werden: Als die so heftig Umworbene, die ihrerseits in Goethe nichts anderes als eine Art Ersatzvater sieht, erkennen muß, daß der liebe alte Herr »mehr« will, erschrickt sie so sehr, daß sie Reißaus nimmt und die Beziehung von einem Tag auf den andern abbricht.
Noch schlimmer ist es für den abgewiesenen Verehrer: Goethe sinkt in tiefste Verzweiflung, wird krank, die Ärzte fürchten um sein Leben. In den acht Jahren, die ihm noch verbleiben, wird er zu keiner größeren Reise mehr imstande sein, nie wieder seine Wahlheimat Thüringen verlassen – und schon gar nicht in Richtung Marienbad, der Stätte seiner schwersten Niederlage. Doch es wäre nicht Goethe, gewänne er nicht auch noch dieser Niederlage ein Stück Weltliteratur ab: Sein Liebeskummer beflügelt den inzwischen Vierundsiebzigjährigen zur Niederschrift des dreiundzwanzigstrophigen Alterswerks »Marienbader Elegie«.
Ulrike hat sich unterdessen an der Seite ihrer Mutter und ihrer jüngeren Geschwister in das unweit der nordböhmischen Kreisstadt Leitmeritz gelegene Schloß Trziblitz zurückgezogen, das zu den Besitzungen ihres zukünftigen Stiefvaters Graf Franz von Klebelsberg gehört. Vor 20 Jahren hat der kunstsinnige Mann, der dem Hause Habsburg neben der Übernahme einer Reihe anderer Ämter eine Zeit lang auch als Finanzminister dient, den Fürsten Lobkowitz die Domäne Trziblitz abgekauft; für seine Gemahlin in spe, Ulrikes früh verwitwete Mutter Amalie von Levetzow, läßt er die ursprüngliche Festung in ein wohnliches Barockschloß umbauen, das nach Klebelsbergs Tod in den Besitz von Stieftochter Ulrike übergeht.
Hier wird »Goethes letzte Liebe« ihr gesamtes weiteres Leben zubringen, und so, wie sie schon als junges Mädchen dem stürmisch um sie werbenden Dichter eine Abfuhr erteilt hat, wird sie auch in den folgenden sieben Jahrzehnten »unbemannt« bleiben. Ihren Bediensteten eine gütige Herrin, der am selben Ort lebenden Familie ihrer Lieblingsschwester Bertha eine opferbereite Hilfe und der Dorfbevölkerung mit der Gründung einer von ihr geleiteten Spinnschule eine allseits verehrte Wohltäterin, geht sie nebenher ihren Neigungen als Kunstsammlerin und Stickerin nach. Auch der Jagd ist sie zugetan; ihr besonderer Eifer gilt der Pflege des Rosengartens, der das Entzücken aller Besucher bildet, die der Frau Baronin ihre Aufwartung machen. Daß die in Leipzig Geborene und in einem Straßburger Mädchenpensionat Erzogene ihr Leben lang an ihrer Muttersprache festhält und noch als alte Dame kaum ein Wort Tschechisch spricht, macht ihr keiner der Einheimischen zum Vorwurf: Mit ihrem liebenswürdigen Wesen, ihrer sprichwörtlichen Güte gleicht sie alles aus.
Ungehalten kann sie nur werden, wenn ihr die Goethe-Verehrer auf den Leib rücken: Besonders Fanatische, die Ulrikes Domizil ausgekundschaftet haben, um aus ihrem Mund zu erfahren, »wie das damals war in Marienbad«, haben keine Chance, zu ihr vorzudringen, und auch brieflich verweigert sie jegliche Auskunft. Kann sie schon mit dem Text der »Elegie«, von dem ihr Kanzler Müller, einer der engsten Vertrauten des Dichters, nach dessen Tod eine Abschrift überlassen hat, wenig anfangen, so erbittern sie erst recht »all die falschen, oft fabelhaften Geschichten, die darüber gedruckt wurden«. Um dem ein für allemal ein Ende zu machen, holt sie mit 90 zu einer Gegendarstellung aus, die in dem berühmten Diktum gipfelt: »Keine Liebschaft war es nicht.« Daß sie für ihre Klarstellung die doppelte Verneinung wählt, ist kein Zeichen sprachlicher Unbeholfenheit, sondern soll den ultimativen Charakter ihrer Erklärung zum Ausdruck bringen.
Doch es hilft nichts: Ihren Goethe wird sie nie und nimmer los. Als Ulrike von Levetzow am 13. November 1899 fünfundneunzigjährig stirbt und zwei Tage darauf auf dem Friedhof von Trziblitz bestattet wird, ist unter den Blumengebinden, die sich auf dem frischen Erdhügel türmen, auch ein Kranz der Weimarer Goethe-Gesellschaft: Herbstlich-Buntes aus dem Garten am Frauenplan.
Auch jetzt, wo mich, kaum in Trziblitz eingetroffen, mein erster Weg zum Friedhof führt, finde ich ein blumengeschmücktes Ulrike-Grab vor: Noch über 100 Jahre nach ihrem Tod wird »Goethes letzter Liebe« teilnahmsvoll gedacht. In der guterhaltenen neoklassizistischen Gruft hinter der katholischen Pfarrkirche, die auch sie, die praktizierende Protestantin, gern besucht hat, liegt sie neben ihren Großeltern. Unweit davon das Grab der Mutter; das der Lieblingsschwester Bertha ist gar mit einem in den Stein gemeißelten Vers von Ulrikes Hand geschmückt. Erstaunliches bekomme ich über manche der seinerzeitigen Begräbnisse zu hören: Damit eine der nahen Verwandten, die in Teplitz gestorben ist, in der Trziblitzer Familiengruft bestattet werden kann, legen die Sargträger die 20 Kilometer lange Strecke zu Fuß zurück, und da sie dies zur Nachtstunde tun, weisen ihnen Fackelträger den Weg.
Am 15. November 1899 haben sie es leichter: Von Ulrikes Sterbezimmer im Schloß ist es nur wenige Schritte zum Ortsfriedhof. »Marasmus« nennt die Eintragung im Kirchenbuch als Todesursache, ein Pastor aus Aussig nimmt die Beisetzungsfeierlichkeiten vor.
Paní Seifertová, die mich durch den Ort geleitet, ist die Frau des heutigen Bürgermeisters; sie selber unterrichtet an der Grundschule. Daß in Trziblitz die erste Fremdsprache Deutsch ist, ist eine Verlegenheitslösung: Man hat partout keinen Englischlehrer auftreiben können … Daß sich Frau Seifertová in Sachen Ulrike von Levetzow so gut auskennt, hat einen einfachen Grund: Das Schloß, in dem »die lieblichste der lieblichsten Gestalten« den größten Teil ihres Lebens verbracht hat, beherbergt heute die Schule, ist also ihr Arbeitsplatz. Ulrikes Sterbezimmer dient den Lehrern als Konferenzraum.
Wenige Schritte vom Hauptbau entfernt: die ehemalige Wäscherei. Hier, am Ufer des Schloßteichs, ist seit 1999 eine Ulrike-Gedenkstätte eingerichtet, deren Ausstellungsstücke auf zweierlei Weise zusammenkamen: Den einen Teil fand man bei der Entrümpelung des Levetzow’schen Dachbodens, den Rest steuerten, einem Aufruf des Gemeindeamtes folgend, ältere Leute aus dem Ort bei. So kann sich der Besucher nicht nur in Sachen Ulrike ein gutes Bild machen, sondern erhält zugleich Einblick in die allgemeine Lebensweise jener Zeit. Hier also ausgewählte Beispiele ländlichen Hausrats bis hin zu einer altertümlichen Granatspülmaschine, dort Ulrikes Sonntagsstaat inklusive Seidencape und Ausgehhäubchen, Schlafgewand und Mieder, Fächer und Parfumflacon, Kalender, Schreibzeug, Kruzifix. Das Haushaltsbuch gibt Auskunft über die laufenden Ausgaben der Schloßherrin; Mineraliensammlung und Herbarium verweisen auf die Eigenheiten ihres Zeitvertreibs. An die Tierfreundin erinnert der Grabstein des geliebten Malteserhündchens Trimm, an die Hobbyzeichnerin eine Auswahl etwas unbeholfener Bleistiftskizzen aus den Straßburger Pensionatsjahren, an die wohltätige Pädagogin eine vortreffliche Innenansicht der von Frau von Levetzow gegründeten und geleiteten örtlichen Spinnschule.
Auch Goethe ist präsent – und keineswegs nur mit einer der gängigen Nachbildungen seiner Totenmaske. Als sich Ulrikes Lebenszeit ihrem Ende nähert, läßt sich die sonst so spröde alte Dame dazu überreden, für eine Photographie zu posieren, die sie – im hochgeschlossenen schwarzen Kleid und das weiße Häubchen auf dem Kopf – beim Hantieren mit einer Briefschatulle zeigt, über deren Inhalt keinerlei Zweifel bestehen kann: Auf dem Deckel des danebenliegenden Buches prangt der Name Goethe. »Keine Liebschaft war es nicht!« hat Ulrike von Levetzow zu diesem Thema ein für allemal klargestellt. Also gut: keine Liebschaft. Aber wohl auch kein Nullum, das sie gänzlich gleichgültig gelassen hat.
Aus: Die böhmische Großmutter, 2005

»Auf Händen müßt ihr ihn tragen!«

Constanze Mozart und Nikolaus von Nissen
In einem Alter, wo manche andere erst in den Brautstand tritt, wird sie bereits Witwe: Als Mozart am 5. Dezember 1791 stirbt, ist Constanze neunundzwanzig, in genau einem Monat wäre ihr dreißigster Geburtstag zu feiern. Doch nach Feiern ist der sechsfachen Mutter, von deren Kindern allerdings nur die Söhne Carl und Franz Xaver Wolfgang am Leben geblieben sind, nicht zumute: Hat sie sich nicht aus Verzweiflung über den Verlust des geliebten Mannes gar in dessen Bett gelegt, um angesteckt zu werden und ihm in den Tod zu folgen?
Ja, es ist wahr: Sie neigt zur Koketterie, die zweitjüngste Tochter des Mannheimer Souffleurs Franz Fridolin Weber, und Mozart tobt jedesmal vor Eifersucht, wenn sie sich beim Pfänderspiel von jungen Offizieren die Waden messen läßt. Aber auch, wenn’s noch so oft danach aussieht: Zu einem Seitensprung hat sie es niemals kommen lassen. Ihrem Wolferl ist sie treu: Weder vorher noch gar nebenher gibt es in ihrem jungen Leben einen zweiten Mann.
Nun also diese erschreckende Leere in der auf einmal viel zu großen Wohnung: Die Beletage im Kleinen Kayser-Haus, Stadt Nr. 970 (heutige Adresse: Wien I., Rauhensteingasse 8), umfaßt sechs Zimmer, zwei Küchen, Dachboden, Keller und Holzgewölb. Dazu kommt die akute Geldnot der Mozarts: Seit acht Jahren auf Pump lebend, hat Wolferl seiner Familie – der ältere der beiden Buben ist knapp sieben, der jüngere gar erst viereinhalb Monate alt – einen wahren Schuldenberg hinterlassen. Einer der Gläubiger verübt einen Selbstmordversuch.
Von den Verwandten kann die junge Witwe keinerlei Hilfe erwarten, also wendet sie sich mit ihrem Gesuch um eine Gnadenpension an den Kaiser. Das erste, was Leopold II. der Bittstellerin zugesteht, ist die Abhaltung einer musikalischen Akademie, an der der gesamte Hof teilnimmt. Von den fünfzehnhundert Gulden, die das Konzert abwirft, werden hundertfünfzig Dukaten an die Hinterbliebenen ausgezahlt. Und am 12. März des folgenden Jahres wird Constanzes Pensionsantrag stattgegeben – freilich nur in der Höhe eines Drittels des Mozart-Gehaltes: zweihundertsechsundsechzig Gulden per anno.
Um sich und die beiden unmündigen Kinder durchzubringen, muß sie also dazuverdienen. Sie versucht es mit Konzerten – zuerst in Wien, dann auch in Leipzig, Dresden und Prag. Und am 28. Februar 1796 – da ruht Mozart bereits über vier Jahre unter der Erde – steht Constanze sogar als Sängerin auf der Bühne: Im Königlichen Opern-Theater zu Berlin übernimmt die inzwischen Vierunddreißigjährige eine der Partien in »La Clemenza di Tito«. Aber sowohl die Erträge aus den Konzerten wie die aus dem gelegentlichen Verkauf von Partituren aus dem Mozart-Nachlaß (so etwa an König Friedrich Wilhelm II., der ihr auf ein entsprechendes Bittgesuch hin acht Stükke abnimmt) sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein: Constanze Mozart muß sich um regelmäßige Einnahmen umsehen. Wie wär’s, wenn sie einen Teil ihrer Wohnung an zahlungskräftige Zimmerherren vermietet?
Constanze ist umgezogen – zuerst in ein bescheideneres Quartier im Judengäßchen, nun in die geräumige Wohnung im obersten Stockwerk des Michaelerhauses. Hier kann sie endlich auch wieder Gäste empfangen, musikalische Soireen arrangieren. Künstler aus Mannheim und Berlin, aus Prag und Paris, die zu Konzerten in Wien weilen, rechnen es sich zur Ehre an, der Witwe Mozart ihre Aufwartung zu machen, und auch die Wiener Gesellschaft, der allmählich zu dämmern beginnt, welches Jahrhundertgenie dieser mit kaum sechsunddreißig Jahren aus dem Leben Gerissene gewesen ist, zeigt sich ergriffen, wenn dessen Gefährtin vor ihre Gäste hintritt und sie nicht nur verköstigt, sondern auch bei einem der Quartette mitwirkt oder gar eine Mozart-Ariette zum besten gibt.
Einer dieser Stammgäste im Michaelerhaus ist der Diplomat Georg August von Griesinger. Selbst Legationssekretär an der sächsischen Gesandtschaft in Wien, ist er mit einem Kollegen von der dänischen Vertretung befreundet, der seit 1793 in Wien amtiert, und ihn, Nikolaus Nissen mit Namen, aus Hadersleben in Nordschleswig stammend und Sproß einer französischen Mutter, führt er anläßlich einer der Soireen der Saison 1797/98 bei Constanze Mozart ein. Legationssekretär Nissen ist unter allen Gästen des Abends der mit Abstand dankbarste: Selber hochmusikalisch, schon als Kind am Klavier ausgebildet, nun aber die Flöte bevorzugend, kennt er viele der Mozart-Kompositionen, hat etliche der Opern gehört, liebt vor allem die »Zauberflöte«, ist also selig, in Gestalt der Mozart-Witwe seinem Idol nahe zu sein.
Auch Constanze zeigt sich von dem ein Jahr Älteren, seinem Enthusiasmus und seiner weichen Stimme mit dem angenehmen dänischen Akzent angetan, und als man nach erster Konversation über Fachliches, etwa übers Sonatenspiel, auch auf Persönliches zu sprechen kommt und sich herausstellt, daß der ebenso artige wie hochgebildete Fremde auf Wohnungssuche ist, bietet ihm Constanze ein Untermietzimmer in ihrer geräumigen Bleibe am Michaelerplatz an.
Kurz darauf bezieht Nikolaus Nissen sein neues Logis hinter der Hofburg, Tür an Tür mit Constanze Mozart, und da deren Kinder, die inzwischen dreizehn bzw. sechs Jahre alten Buben, ohne Vater sind, springt der hilfsbereit-fürsorgliche Untermieter von Stund an überall ein, wo männlicher Rat gefragt ist. Er lehrt sie lateinische Grammatik und französische Aussprache, plagt sich mit ihnen in Algebra und geometrischen Beweisen, und wenn die Musikstunde ansteht, schiebt er »Wowi«, dem Knirps, drei Sitzkissen unter, damit die kleinen Hände zu den Klaviertasten hinaufreichen.
Die Gefühle, die Nikolaus Nissen vom Tag des Kennenlernens an für die Mutter der beiden Halbwaisen empfindet, muß er zunächst noch für sich behalten: Nur zu deutlich spürt er, daß er für die ersehnte Annäherung eine Menge Geduld wird aufbringen müssen. Immerhin ist auf dem Umweg über die Kinder mancherlei Andeutung möglich – etwa, wenn er den offensichtlich dem Vater nachgeratenden, hochmusikalischen »Wowi« dazu anhält, zu Mutters Namenstag ein kleines Rondo zu komponieren, sein Opus Nummer eins fein säuberlich abzuschreiben und der freudig überraschten Jubilarin auf den Gabentisch zu legen.
Nissen ist ein ernster, grundsolider Mann. Und er sieht gut aus – trotz der leicht fliehenden hohen Stirn und des schon frühzeitig schütteren fahlblonden Haupthaares. Aber auch Constanze ist bei allem Liebreiz keine Schönheit. Nissen ist größer von Wuchs als Mozart, sein eigentliches Kapital sind die blauen Augen, die zugleich Klugheit und Güte ausdrücken. An die Frau, die einmal sein Leben teilen soll, stellt der junge Di...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. Der Siebenschläfer
  7. Dietmar Grieser auf den Spuren bekannter Romanfiguren
  8. Dietmar Grieser auf den Spuren österreichischer Musikgenies
  9. Dietmar Grieser auf den Spuren bewegender Schicksale
  10. Dietmar Grieser auf Österreichs Spuren in der Welt
  11. Dietmar Grieser auf den Spuren später Lieben
  12. Dietmar Grieser auf den Spuren der österreichischen Geschichte
  13. Dietmar Grieser auf den Spuren großer Denker und Dichter
  14. Dietmar Grieser auf den Spuren österreichischer Erfindungen
  15. Dietmar Grieser auf den Spuren berühmter literarischer Schauplätze
  16. Dietmar Grieser auf den Spuren berühmter Erben
  17. Dietmar Grieser auf den Spuren seiner Leser