Wie erkennt man den richtigen Zeitpunkt zu gehen?
Gedanken von Politikern zum Abschied
»Politisch handeln heißt Verantwortung zu übernehmen. Und Verantwortung zu übernehmen heißt, zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Schritt in die richtige Richtung zu setzen.«
Erwin Pröll
»Bei Traven – in dessen erstem Dschungelroman – ist nachzulesen, wie ein mexikanischer Indianerstamm es beim Häuptlingswechsel hielt. Die zogen dem Neugewählten die Hose runter und hielten ihn mit dem nackten Hintern einen Augenblick übers Feuer. Du sollst nicht zu lange auf deinem Häuptlingsstuhl sitzen bleiben, so könnte man das Bild deuten. Ich bin ja nun ziemlich lange hocken geblieben.«
Willy Brandt (1913–1992), deutscher Bundeskanzler
»Es war die größte Ehre meines Lebens, Euch zu dienen. Yes, we can – yes, we did.«
Barack Obama, ehemaliger US-Präsident
»Ich bin überzeugt: Wir müssen innehalten. Ich jedenfalls tue das. Ich wurde nicht als Kanzlerin geboren und auch nicht als Vorsitzende. Ich habe mir immer gewünscht, meine Ämter in Würde zu tragen und auch zu verlassen. Jetzt ist Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen.«
Angela Merkel, deutsche Bundeskanzlerin
»Es ist richtig so, es ist ein Ende, und es ist gut so, für die Personen, für die Sache und für alle Beteiligten.«
Christian Kern, ehemaliger österreichischer Bundeskanzler
»Nie ist die Liebe so groß wie im Abschied.«
Matthias Strolz, ehemaliger Parteichef der NEOS
»Den Job eines Parteichefs, einer Parteichefin kann man nicht ewig machen. In Zeiten dieser medialen Zuspitzung reibt das jeden Menschen einfach auf …«
Eva Glawischnig, ehemalige Parteivorsitzende der Grünen
»Die Politik war ein ›faszinierender Teil‹ meines Lebens, aber eben nicht das Leben!«
Roland Koch, ehemaliger CDU-Politiker
»Die biblische Erkenntnis ›Alles hat seine Zeit‹ gilt auch für Politiker.«
Ole von Beust, ehemaliger Bürgermeister von Hamburg
Nicht vielen Politikern gelingt der Absprung im richtigen Augenblick. Oft findet ein verzweifelter Kampf gegen den Verlust von Macht, Prestige und Privilegien statt, der mit dem Eintritt in den politischen Ruhestand verbunden ist. In der englischen Sprache gibt es eine treffende Formulierung für Menschen, die nicht wissen, wann es Zeit ist, zu gehen: »to overstay your welcome«, auf gut Deutsch »länger bleiben, als man willkommen ist«.
Es ist eine Art Sucht nach öffentlicher Wirkung, die Politiker dazu treibt, alles daranzusetzen, um an der Macht zu bleiben. Politik als süße Droge, von der man nicht lassen kann, Macht als Suchtmittel. Manche sind ehrlich genug, ihre Abhängigkeit einzuräumen, wie ein Blick ins Nachbarland Deutschland zeigt. Horst Seehofer sagte: »Ja, ich bin süchtig, ich bin politiksüchtig«, Wolfgang Schäuble meinte: »Natürlich gehört Politik unter die Suchtkrankheiten.« Heide Simonis, einst die erste Frau an der Spitze eines deutschen Bundeslandes, bekannte: »Wenn mich auf fünf Schritte keiner erkennt, werde ich depressiv.« Die Quittung kam 2005 bei ihrer Abwahl durch die fehlende Stimme eines »Parteifreundes«. Ihr entsetzter Ausruf »Und was wird aus mir?« steht seither für alles, was Wähler an Politikern verachten: Machtversessenheit, Selbstbezogenheit, Realitätsverlust.
Die Liste derer, die nicht loslassen konnten, ist lang. Die Zeitungsartikel über verpasste und verpatzte Abschiede füllen Archive. Da schleppt sich manch einer in die Endphase seiner Karriere, begleitet von Häme und Attacken, als Sesselkleber diffamiert – höchst erfolgreiche Spitzenpolitiker, die große Wahlsiege einfuhren, die ihre Parteien über viele Jahre dominierten! Der selbstbestimmte Abschied aus dem Amt misslang meist, weil sie den richtigen Zeitpunkt nicht erkannten. Sie wollten es noch einmal wissen, wehrten sich gegen den Rücktritt mit Händen und Füßen. Am Ende mussten sie dennoch abtreten. Zurück blieb zumindest ein bitterer Beigeschmack, manchmal ein Kratzer. Ein Imageschaden, der ihren Ruhm relativierte, der neben all ihren Leistungen mit ins Geschichtsbuch eingeht.
Nur den wenigsten gelingt ein wirklich würdiger Abtritt. Der ehemalige SPD-Parteichef Hans-Jochen Vogel formulierte es einmal so: »Meine Maxime war, man muss gehen, solange man seinen Mitmenschen die Bekundungen des Bedauerns noch glauben kann.«
Erwin Pröll zeigte, wie ein Abschied aus der ersten Reihe der Macht freiwillig und würdevoll erfolgen kann. War es Glück, Gnade oder doch politisches Geschick? Oder einfach demokratische Normalität?
Bei vielen Menschen ist der Zeitpunkt des Abschieds ein fremdbestimmter, es gibt keine andere Wahl. Aber wenn man selbst entscheiden kann, fragt man sich: Wann ist der richtige Zeitpunkt, worauf soll man hören?
Eine derartige Zäsur, wie sie der Übergang vom aktiven Berufsleben ins Pensionsalter darstellt, birgt zwei große Gefahren. Wenn du in eine Situation kommst, in der du selbst die Entscheidung nicht mehr gestalten kannst, wann und wie du übergibst, können große Schmerzen die Folge sein, davon bin ich überzeugt. Noch dazu, wenn man ein langes, erfülltes Berufsleben hinter sich hat und mit sehr viel Freude gearbeitet hat. Der andere Weg, die eigene Entscheidung und Planung, ist auch anspruchsvoll, es geht nicht »automatisch«. Dabei kommt es in erster Linie auf Selbstdisziplin an. Und Selbstdisziplin ist für mich jedenfalls besser, als fremdbestimmt zu sein.
Künstler sagen manchmal: Ich möchte spielen, bis ich auf der Bühne umfalle! Das mitzuverfolgen ist beeindruckend, oft aber auch sehr bitter. Haben Sie warnende Beispiele gesehen und gesagt: »Der hat den richtigen Zeitpunkt verpasst!«?
Es gibt auch in der Politik solch traurige Beispiele. Anders als Schauspieler verantwortet ein Politiker allerdings nicht nur das eigene Schicksal und den eigenen Weg, sondern auch das Leben anderer. Und diese Verantwortung über sich hinaus muss man entsprechend wahrnehmen, auch in dieser Phase des Lebens. Einmal mehr war mir Andreas Maurer ein Vorbild, der im Zuge seiner Übergabe gesagt hat: »Man soll gehen, solange man noch gehen kann.« Das hatte ich im Kopf, dieser Satz hat mich begleitet. In Fällen, in denen der richtige Zeitpunkt des Abgangs versäumt wurde, hat es meistens in einem persönlichen, manchmal sogar in einem öffentlichen Desaster geendet. Mich hat Disziplin durch mein ganzes Leben getragen, es wäre höchst ungeschickt gewesen, gerade in dieser Phase nicht darauf zu setzen. Diese Disziplin war es, die mich alles gut durchstehen hat lassen, weniger emotional, als ich befürchtet hatte.
Rückblende: die letzten Tage vor der Bekanntgabe.
14. Jänner 2017, Tag des Bauernbundballs.
Die Entscheidung in mir ist gereift. Die Tage der öffentlichen Klarstellung über meine Zukunft nähern sich. Als Termin überlegen wir den 18. Jänner.
Anruf von Peter Kirchweger am Vormittag: Der Chefredakteur einer Tageszeitung hat ihm mitgeteilt, dass er von hochrangigen Bundespolitikern informiert wurde, dass der Rücktritt von Landeshauptmann Pröll nahe ist. Wie gehen wir mit dieser Information um? Und wann werden wir nun tatsächlich meine persönliche Entscheidung öffentlich bekannt geben?
Daraufhin intensive Überlegungen über den besten Zeitpunkt, noch vor dem 18. Jänner, die Entscheidung bekannt zu geben.
Am Abend, 20.00 Uhr, Bauernbundball im Austria Center in Wien, Fototermine für Seitenblicke-Gesellschaft, Dirigat mit der Bauernbundkapelle, die im Foyer wartet. Frenetischer Applaus bei der Begrüßung. Kurze emotionelle Eröffnungsrede mit großem Beifall.
Während des Abends Hunderte Selfie-Wünsche in der Diskothek mit jungen Ballbesuchern. Innerlich bin ich sehr glücklich über den Zuspruch, der mir an diesem Ballabend entgegengebracht wird.
Heimfahrt etwa um ein Uhr morgens. Während der Fahrt ständig die Frage im Kopf: Wie werden wir’s anlegen? Die Zeit der Bekanntgabe meiner Entscheidung rückt unaufhaltsam näher.
15. Jänner 2017
Ständige Telefonate mit Peter Kirchweger mit den unterschiedlichsten Überlegungen zum zeitlichen Ablauf der kommenden Tage.
Am Nachmittag ein kurzer Spaziergang mit Sissi in Radlbrunn durch die Weingärten. Wir sprechen über meine innerliche Unsicherheit in dieser Situation.
16. Jänner 2017
09.00 Uhr, Abfahrt von Radlbrunn nach Graz zur Ehrung der Landeshauptleute von Wien, Oberösterreich und Niederösterreich durch den Landeshauptmann der Steiermark. Weitere Telefonate mit Peter Kirchweger über den besten Zeitpunkt für die Pressekonferenz. Parallel dazu haben die Spekulationen in den Medien über meinen baldigen Rückzug als Landeshauptmann an Intensität gewonnen.
11.30 Uhr, Ankunft vor der Grazer Burg. Kaum aus dem Auto gestiegen, werde ich mit Medienfragen konfrontiert. Immer wieder die Frage: »Ist diese Ehrung gleichzeitig auch Ihr Abschied aus der Politik?« Im Büro von Landeshauptmann Schützenhöfer haben sich bereits meine Kollegen Häupl und Pühringer eingefunden. Anschließend Anprobe der Gastgeschenke – Schladminger und Steirerhut. Bewegende Ehrung in der Aula der Alten Universität in Graz. Während der Ehrung lässt mich der Gedanke über die beste Vorgangsweise für die kommenden Tage nicht los.
Nach dem Mittagessen führen wir eine lockere Unterhaltung bei einem Glas Wein im Büro von Landeshauptmann Schützenhöfer. Nur Pressechef Peter Kirchweger und Bürochef Werner Trock finden keine Ruhe, sie verlassen immer wieder den Raum, um zu telefonieren.
Am Rückweg von Graz ist für mich und mein engstes Team klar: Am Dienstag, den 17. Jänner, am Vormittag, also am kommenden Tag, soll überraschend eine Pressekonferenz mit der Erklärung meiner Entscheidung stattfinden. Deutliche Erleichterung in mir, dass endgültig eine Vorgangsweise festgelegt ist.
22.30 Uhr, zurück zu Hause. Weitere Telefonate mit Peter Kirchweger, um organisatorische Details zu besprechen. Ab 08.00 Uhr früh wird er die wichtigsten Journalisten telefonisch informieren.
Gleichzeitig Festlegung, dass am Dienstag, 17. Jänner, um 08.30 Uhr in meinem Büro eine Vorbesprechung mit meinen engsten Mitarbeitern, Werner Trock, Peter Kirchweger und Bernhard Heinl stattfindet.
Um 09.00 Uhr wird die ÖVP-Regierungsmannschaft in mein Büro gebeten, damit ich persönlich meinen engsten Mitarbeitern meine Entscheidung und die Vorgangsweise mitteilen kann.
Wann haben Sie sich gefragt: Wie lange noch? Wie schaut der Weg nach vorne aus?
Das kam so zwischen 60 und 65. Ehrlich gesagt, habe ich mich nicht allzu oft damit beschäftigt, aber vor der vorletzten Wahl, 2008, damals war ich 62, habe ich mir das erste Mal überlegt: Was bedeutet es, wenn du jetzt noch einmal antrittst? Wenn du die Legislaturperiode fertig machst, bist du 67! Damit sind dann viele Fragen verbunden: Wie geht’s dir körperlich? Macht’s dir noch Freude? Was bedeutet das für die Familie? Die Kinder wachsen raus, die Enkelkinder kommen nach. Aber eigentlich gab es da keinen Zweifel, nicht noch einmal anzutreten.
Und dann ist Folgendes passiert: Ich habe bei der Wahl 2008 das Rekordergebnis von 54,4 Prozent geschafft. Am Wahlabend machte sich große Euphorie breit, das kann man schwer schildern, das muss man erleben! Das ist Adrenalin pur, du siehst und spürst, wie alle, die gekämpft haben, vor Freude aufleben. Für jeden ist der Wahlkampf in diesen Monaten etwas enorm Wichtiges. Da sind so viele, die an dich glauben, an den Erfolg glauben – und dann kehrt dieser Erfolg ein. Ein unglaubliches Erlebnis! Die schönsten Zeiten waren für mich die Wahlkämpfe, auch bei noch so viel Härte. Danach kommen die Medientermine, Interviews, die große Dankesfeier im Zelt … Zu später Stunde ist ein kleiner Kreis, der »harte Kern«, ins Flieger-Bräu gegangen, vis-à-vis vom Zelt. Es war zwei in der Früh, und ich bin plötzlich – das wird kaum jemandem aufgefallen sein – in mir versunken. In diesem Moment habe ich mir gedacht: »Genieß das noch, vielleicht war es das letzte Mal.«
Die Frage des politischen Rückzugs ist ja nicht jeden Tag präsent, zunächst kehrt nach einer Wahl wieder Alltag ein …
Ja, Regierungsbildung und alles, was dazugehört. Da war die Frage »Wie geht’s weiter?« und »Wann hör ich auf?« nicht aktuell, da war politische Arbeit angesagt. Unmittelbar nach der Wahl 2013 – nach der dritten absoluten Mehrheit – habe ich mir allerdings gedacht: »Jetzt muss ich einmal klar überlegen, wie’s weitergehen soll. Wenn ich 2018 noch einmal antrete, bin ich schon im 72. Lebensjahr.« Und eines war mir im...