1 | Die Verhaftung
Am Dienstag, dem 4. September 1928, kamen um 10.30 Uhr zwei Kriminalbeamte der Wiener Polizei in Zivil in das Haus BösendorferstraĂe 3, in dem sich die Wohnung des Architekten Adolf Loos befand. Sie gingen in den obersten, den vierten Stock und klopften an Loosâ TĂŒr. Seine langjĂ€hrige HaushĂ€lterin Mitzi Schnabl öffnete ihnen und fĂŒhrte sie in die Wohnung.
Abb. 1
Die MĂ€nner waren bereits am frĂŒhen Abend des Vortags zur Wohnung gekommen ; doch da hatten sie Loos nicht angetroffen. Nun aber, nach einem kurzen GesprĂ€ch â das nicht lĂ€nger als ein paar Minuten dauerte â forderte einer der Kriminalbeamten Loos auf, mit ihm auf das Polizeikommissariat zu kommen. Der andere Beamte blieb, um die Wohnung zu durchsuchen.1
Das Polizeikommissariat lag nicht allzu weit entfernt im 1. Wiener Gemeindebezirk, am Schottenring 11, schrĂ€g gegenĂŒber der Börse. In dem GebĂ€ude hatte sich kurze Zeit das Hotel Anna befunden, bevor es in den 1870er Jahren umgewidmet worden war, heute existiert es nicht mehr. Es war eines der ĂŒblichen RingstraĂengebĂ€ude, ein groĂes Palais im Neorenaissance-Stil. Trotz der vier groĂen EcktĂŒrme erinnerte es eher an ein Wohnhaus als an ein Amtshaus â sein Aussehen verschleierte den ernsthaften Zweck.
Abb. 2
Loosâ Verhaftung und AbfĂŒhrung war so schnell vor sich gegangen, dass er bei seiner Ankunft im Polizeikommissariat immer noch dieselbe groĂe zusammengerollte Architekturzeichnung in der Hand hielt wie zu dem Zeitpunkt, als die Polizei in seine Wohnung gekommen war.2 Er wurde stundenlang verhört, ein wegen seiner fortgeschrittenen Schwerhörigkeit fĂŒr alle sehr ermĂŒdender Vorgang.
Da man annahm, dass Fluchtgefahr bestand â die Zeitungen berichteten spĂ€ter, dass Loos seine RĂŒckkehr nach Paris plante, wo er in den vorangegangenen vier Jahren gelebt hatte â, und da er einen tschechoslowakischen Reisepass hatte, ordnete der Untersuchungsrichter an, ihn in Gewahrsam zu nehmen.3 Am nĂ€chsten Tag, dem 5. September, wurde Loos in das Landesgericht fĂŒr Strafsachen im 8. Bezirk gebracht, formell angeklagt und in der Zelle Nummer E2 105, einer der sogenannten » Intelligenzzellen «, die fĂŒr prominente Persönlichkeiten und Intellektuelle vorgesehen waren, untergebracht.4
Die Nachricht ĂŒber seine Verhaftung wurde gegen Mitternacht desselben Tages veröffentlicht und von der Nachrichtenagentur Korrespondenz Wilhelm verbreitet. Am Morgen des 6. September berichteten alle Zeitungen der Stadt darĂŒber.
Die Artikel, die zwar in einigen Details voneinander abwichen, gaben im Wesentlichen alle dieselben Informationen wieder : Loos wurde beschuldigt, sich an zwei MĂ€dchen im Alter von acht und zehn Jahren in seiner Wohnung » schwer vergangen « zu haben. Die MĂ€dchen seien zu ihm gekommen, um Modell zu stehen. Er habe sie entkleidet und gebadet, und â das wurde stillschweigend unterstellt â er habe sie unsittlich berĂŒhrt, möglicherweise sei noch mehr vorgefallen.5
Nach und nach wurden weitere Details bekannt. In ihrer Abendausgabe desselben Tages veröffentlichte die Neue Freie Presse, die fĂŒhrende Tageszeitung der Stadt, eine umfassendere Darstellung. Den Anschuldigungen lag ursprĂŒnglich die Anzeige einer Frau zugrunde, die als » Bedienerin « bezeichnet wurde. Sie war die Mutter einer Schulkameradin der beiden fraglichen MĂ€dchen und deren Nachbarin. Von ihrer Tochter hatte sie gehört, dass es einen » Herrn in der Inneren Stadt « gab, der MĂ€dchen fĂŒr das Modellstehen zwei Schilling pro Stunde anbot. Sie hatte in Erfahrung gebracht, dass der Mann den MĂ€dchen die Teilnahme an einem Programm versprach, im Rahmen dessen sie nach Paris reisen, ein Jahr bei einer Familie leben, Französisch lernen und Tanzunterricht nehmen könnten. Alarmiert von der Vorstellung, es handle sich um den Versuch, junge MĂ€dchen ins Ausland zu locken, um sie an Bordelle zu verkaufen â in den Wiener Zeitungen hatte es in den Wochen davor Berichte ĂŒber das Verschwinden junger MĂ€dchen gegeben â , eilte sie aufs Polizeikommissariat im Bezirk WĂ€hring, wo sie und die Familien der beiden MĂ€dchen wohnten, und berichtete ĂŒber ihren Verdacht.6
Die Kriminalbeamten gingen sofort zur Wohnung der MÀdchen und sprachen mit einem von ihnen, mit der zehnjÀhrigen Marie Fiedler, genannt Mizzi. Sie bestÀtigte die Geschichte. Das MÀdchen erzÀhlte, es sei mehrere Male in die Wohnung des Mannes gegangen und habe ihm Modell gestanden. Die mit der Untersuchung beauftragten Beamten kannten zunÀchst die IdentitÀt dieses Herrn nicht. Erst als sie mit Anton Fiedler, dem Vater des MÀdchens, sprachen, begannen sich einige Details zu klÀren.7
Der Vater sagte aus, dass der betreffende Mann Adolf Loos sei. Er sei Loos etwa zwei Wochen zuvor zum ersten Mal begegnet. Fiedler war ein pensionierter Postunterbeamter und musste mit seiner kleinen Pension eine Frau und drei Kinder ernĂ€hren. Um ĂŒber die Runden zu kommen, hatte er einen Teilzeitjob als Modell in der Akademie der bildenden KĂŒnste angenommen. Dort hatte er Loos kennengelernt. Loos habe ihn gefragt, ob er nicht junge MĂ€dchen im Alter zwischen acht und zwölf kenne, die ihm Modell stehen wĂŒrden. Er habe geantwortet, dass er » zwei Töchter habe, auf die diese Beschreibung passe « und » fĂŒr ein entsprechendes Entgelt wĂŒrde er sie gerne zu Loos bringen «. Er gab der Polizei gegenĂŒber an, dass er » nichts Bedenkliches « in der Frage gesehen habe, » da ja KĂŒnstler öfters Kinder nackt malen «, wie er aufgrund seiner Erfahrungen an der Akademie wusste.8
Ein oder zwei Tage spĂ€ter habe er seine Tochter Mizzi zu Loosâ Wohnung gebracht, erzĂ€hlte er den Ermittlungsbeamten. WĂ€hrend der ersten Sitzung sei er bei ihr geblieben und habe nichts beobachtet, was ihm auf irgendeine Weise verdĂ€chtig erschienen wĂ€re. Bei der zweiten Sitzung lieĂ er seine Tochter mit Loos allein, schlieĂlich sah er keinen Grund, diesem nicht zu trauen. Berichten zufolge fragte Loos das MĂ€dchen, ob es andere MĂ€dchen kenne, die fĂŒr ihn Modell stehen wollten. Es bejahte und brachte bei den nĂ€chsten Besuchen seine sieben Jahre alte Schwester Hermine sowie zwei andere MĂ€dchen mit. Die beiden Letzteren wurden in den Zeitungen als Töchter von » Arbeitern « beschrieben, und sie waren acht und zehn Jahre alt, wie spĂ€ter bekannt wurde.9
Diese MĂ€dchen sagten spĂ€ter aus, Loos habe ihnen vom Programm » Kinder nach Frankreich « erzĂ€hlt, das er organisiert hĂ€tte. Er habe ihnen erklĂ€rt, dass er ihnen die Teilnahme an dem Programm ermöglichen könnte. Das beim Modellstehen verdiente Geld könnten sie fĂŒr die Bezahlung der Reise verwenden. Laut dem Bericht der Neuen Freien Presse mussten sich alle vier MĂ€dchen ausziehen und Loos empfing die Kinder jedes Mal nur mit einem Pyjama bekleidet. WĂ€hrend der Sitzungen habe er sich den MĂ€dchen angeblich unsittlich genĂ€hert.10
In einem ausfĂŒhrlichen Artikel der Neuen Freien Presse wurden noch weitere Details hinzugefĂŒgt, die von dem abwichen, was der pensionierte Postbeamte der Polizei berichtet hatte. Die Hausbesorgerin von Loosâ Wohnhaus erzĂ€hlte den Zeitungsreportern, dass einige Zeit zuvor » ein etwa 40jĂ€hriger Mann, der eine Hornbrille und einen gelben Regenmantel trug « (zweifellos Anton Fiedler), Loos eines Morgens besucht habe. Loos habe ihn gebeten, am selben Tag um 5 Uhr nachmittags wieder zu kommen. » Um die angegebene Zeit kam der Mann wieder und brachte ein etwa acht- bis zehnjĂ€hriges, blondes, hĂŒbsches MĂ€dchen in die Wohnung des KĂŒnstlers und entfernte sich. « Als er wegging, fragte er die Hausbesorgerin, » ob er wohl das Kind allein in der Wohnung lassen könne, was fĂŒr ein Mensch Loos sei, ob er Zeichner oder Architekt sei und Ă€hnliches «. Er erhielt zur Antwort, dass » Loos der beste, gĂŒtigste Mensch sei, und im ĂŒbrigen, wenn der Herr kein Vertrauen habe, so möge er doch wieder in die Wohnung des Architekten zurĂŒckkehren und eventuell im Vorzimmer auf das Kind warten «. Der Vater » verlieĂ jedoch daraufhin das Haus und holte nach geraumer Zeit das Kind ab «.11
Die Hausbesorgerin gab auĂerdem an, dass der Vater seine Tochter am nĂ€chsten Tag wieder zu Loos gebracht habe. Beim dritten Mal kam die Tochter » bereits ohne den Mann mit einem anderen, mehr brĂŒnetten und durchaus nicht hĂŒbschen MĂ€dchen «. Nachdem sie einige Zeit mit Loos alleine gewesen waren, » verlieĂen die beiden Kinder dann in heiterster Laune in Begleitung des Architekten das Haus, der sie an der Hand ĂŒber die StraĂe fĂŒhrte, ihnen Obst kaufte usw. «. Seit damals habe sie weder » die Kinder noch den Mann im Hause wiedergesehen «.12
Ob der Vater beim ersten Besuch bei seiner Tochter geblieben, wie er selbst aussagte, oder ob er sofort weggegangen war, wie die Hausbesorgerin behauptete, wie viele MĂ€dchen in die Wohnung gekommen waren und wie oft, sind nur einige der widersprĂŒchlichen Details in den frĂŒhen Berichten. Im Artikel der Abendausgabe der Neuen Freien Presse vom 6. September gibt es eine weitere erhebliche Diskrepanz. An einer Stelle wird behauptet, dass Loos seinen Pyjama nie auszog. Im selben Artikel wird an anderer Stelle berichtet, die MĂ€dchen hĂ€tten Loos beschuldigt, er sei vollkommen nackt gewesen, als er sie zeichnete.13
Die WidersprĂŒche sind nicht zu ĂŒbersehen. Doch was ĂŒber die ersten Untersuchungen in den Zeitungen stand, war zweifellos in einer Hinsicht richtig: Die unterschiedlichen Artikel spiegelten das wider, was die verschiedenen Zeugen den Ermittlern und Reportern berichteten. Ihre WidersprĂŒche erzĂ€hlen eine eigene Geschichte â darĂŒber nĂ€mlich, wie verworren der Fall von Anfang an war. Eindeutig ist, dass die Polizei von WĂ€hring den Fall sofort aufgrund der Wohnadresse und nachdem man festgestellt hatte, dass es sich bei dem Beschuldigten um Adolf Loos handelte, an das Polizeikommissariat Innere Stadt im 1. Bezirk ĂŒbertrug.14
Die Kinder und ihre Eltern wurden am Nachmittag des 3. September, einem Montag, zum ersten Mal einvernommen. Laut den Zeitungsberichten nahmen die Kriminalbeamten der Inneren Stadt zwei der MÀdchen, Mizzi und eine ihrer Freundinnen, zur Vernehmung mit aufs Polizeikommissariat, nachdem die Nachbarin die Polizei alarmiert hatte, dass ein Mann möglicherweise plane, die MÀdchen zu verschleppen. Obwohl in den ersten Zeitungsartikeln ihre Namen nicht genannt wurden, war das zweite MÀdchen die zehnjÀhrige Ida Freudenreich, die neben Mizzi eine der Hauptzeuginnen im Prozess gegen Loos werden sollte.
Die MĂŒtter der MĂ€dchen begleiteten sie aufs Kommissariat. Die Verhöre mussten, wie die Neue Freie Presse in der Folge zu berichten wusste, » sehr behutsam gefĂŒhrt werden, um die aufgeregten und verschĂŒchterten Kinder nicht noch mehr durch die Fragestellung sittlich zu gefĂ€hrden «.15 Erst wurden die MĂŒtter alleine befragt. Die Polizei erfuhr von ihnen, so wurde berichtet, dass keines der MĂ€dchen sich ĂŒber ungehörige Dinge beschwert hatte. Danach wurden die MĂŒtter gebeten, mit ihren Töchtern ohne die Kriminalbeamten zu sprechen. Dann wurden die MĂ€dchen im Beisein ihrer MĂŒtter befragt ( dies sollte die erste Zeugenaussage sein, die protokolliert wurde ) und schlieĂlich verlieĂen die MĂŒtter den Raum und die Kinder wurden alleine befragt. In dieser Vernehmung erfuhren die Beamten Weiteres darĂŒber, wie Loos sie gefragt hatte, ob sie ihm Modell stehen wollten, ĂŒber die beabsichtigten Reisen nach Paris sowie ĂŒber die mögliche » VerfĂŒhrung zur Unzucht «.16 Ihre Aussagen mĂŒssen ĂŒberzeugend gewesen sein, denn unmittelbar danach wurden die beiden Kriminalbeamten in Loosâ Wohnung geschickt.
Loos war zu Beginn der Vernehmung in keiner Weise kooperativ. Sobald die Anschuldigungen gegen ihn klar waren, weigerte er sich, irgendwelche Fragen zu beantworten, und bestand darauf, nur mit dem PolizeiprĂ€sidenten, dem frĂŒheren Bundeskanzler Dr. Johann Schober, persönlich zu sprechen. Erst nach einiger Zeit und einer gewissen Ăberzeugungsarbeit stimmte er schlieĂlich zu, mit den Ermittlern zu sprechen.17 Allerdings bestand ein erheblicher Teil seiner Aussage in einem weitschweifenden Monolog ĂŒber sich selbst beziehungsweise ĂŒber Fragen der modernen Kultur, wie die kĂŒrzlich entdeckten Gerichtsakten belegen.18 Er gab offen zu, dass die Kinder in seine Wohnung gekommen waren. Aber er behauptete, dass er sie lediglich dorthin gebeten habe, um sie zu zeichnen. Er habe einige Skizzen » in Rötel angefertigt « und er habe dies » ausschlieĂlich aus kĂŒnstlerischen Interessen getan «.19 Loos leugnete energisch jegliches Fehlverhalten. Er gab den Kriminalbeamten an, dass er den Kindern fĂŒr das Modellstehen zwei Schilling pro Stunde bezahlt und sie dazu angehalten habe, das Geld zu sparen, damit sie die Reise nach Paris bezahlen könnten. Er sagte, er habe gehofft, die Kinder zu Pariser Familien, die er kannte und bei denen sie ein Jahr lang kostenlos wohnen könnten, zu bringen. AuĂerdem wĂŒrden sie dort Französisch- und Tanzunterricht erhalten. Als Teil des Austauschprogramms hoffte er, es au...