1. FEBRUAR 1926
Wir haben ein anderes Zimmer gemietet. Es ist zwar halbdunkel, weil sein einziges Fenster in einen Gang hinausgeht, es kostet aber nur 40 Schilling, und wir mĂŒssen sehr sparen.
Ich habe ja schlieĂlich den ganzen Tag ĂŒber Zeit genug, mit unserem Buben spazierenzugehen, wĂ€hrend Otmar sich in der UniversitĂ€tsbibliothek auf seine PrĂŒfungen vorbereitet oder in der Stadt herumlĂ€uft, um Arbeit zu suchen. Mit dem Heizen sind wir mehr als sparsam. Wird es uns im Zimmer zu kalt, so gehen wir auf die StraĂe, um uns zu wĂ€rmen; erfrieren wir dort ganz, so kehren wir wieder zurĂŒck und es erscheint uns dann wieder im Zimmer wĂ€rmer.
4. FEBRUAR 1926
Heute gingen wir an einem kleinen GeschĂ€ft vorbei. Der Besitzer stand mit gespreizten Beinen vor der TĂŒr und rauchte behaglich aus einer kleinen Pfeife. In der Auslage waren Eier, Butter, KĂ€se usw. in schönster Ordnung ausgestellt.
»WeiĂt du was?« sagte da Otmar. »Das wĂ€re eine Idee, so ein GeschĂ€ft! Ich glaube nicht, daĂ die Arbeit sehr kompliziert wĂ€re. Man hat gleich eine kleine Wohnung dabei, kann billig essen und erĂŒbrigt sicher noch Zeit genug fĂŒr seine eigenen Angelegenheiten.«
»Das ist wirkliche eine Idee!« rief ich aus, in hellem EntzĂŒcken. »Ich wĂŒrde im GeschĂ€ft bleiben und du könntest dich dann ruhig auf deine PrĂŒfungen vorbereiten!«
»Nun, gar so entzĂŒckt brauchst du gerade nicht zu sein!« warf Otmar ein. »Zu einem GeschĂ€ft braucht man Geld, und woher sollen wir es nehmen?«
»Du hast recht«, stimmte ich, plötzlich wieder ganz traurig geworden, zu. »Wer wĂŒrde dir denn auch etwas leihen? Besonders fĂŒr ein GeschĂ€ft? Wenn du mit deinem GeschĂ€ft zugrunde gehst, dann ist das Geld verloren!«
»Freilich ist es so; aber ich habe da einen sehr guten Freund, noch aus der Gefangenschaft«, meinte Otmar nachdenklich. »Ich war bei ihm schon vor einigen Tagen. Er ist ein ganz groĂartiger Mensch. Vielleicht leiht er mir das nötige Geld!«
6. FEBRUAR 1926
Otmar ging heute zu seinem Freund aus der Gefangenschaft, um ihn um ein Darlehen zu bitten. Ein GeschĂ€ft zu haben, das erscheint mir jetzt als das höchste GlĂŒck. Ich fĂŒhle es ganz deutlich: Ob uns Doktor Walter jetzt das Geld leiht oder nicht, das ist fĂŒr uns eine Frage auf Leben oder Tod. Wir sind uns jetzt schon klar geworden, daĂ es fĂŒr Otmar unmöglich sein wird, irgendeine Anstellung zu finden. Alles ist besetzt, ĂŒberall eine Menge Arbeitsloser, ĂŒberall sind wir zu spĂ€t daran. Und wir haben keine Protektion, und, das sagt uns hier jeden Tag fast jeder, in Ăsterreich ist ohne Protektion nichts zu erreichen.
Wenn Otmar aus RuĂland zurĂŒckgekehrt wĂ€re, als alle Kriegsgefangenen heimfuhren, da wĂ€re es anders gewesen; es gab damals alle möglichen Erleichterungen. Heute aber interessiert sich kein Mensch mehr fĂŒr das Schicksal eines ehemaligen Kriegsgefangenen. Otmar ist freiwillig in RuĂland geblieben, auf sein Risiko, und daĂ man sich in RuĂland keine Existenz bauen kann, daran ist ja hier niemand schuld. Ăberall zuckt man bedauernd die Achsel und stellt fest, daĂ keine Aussichten vorhanden sind.
Da kamen mir die Worte des Studenten Wojciechowski in den Sinn, die er mir vor neun Jahren gesagt; ich hab sie nie vergessen:
»Also, ich wĂŒnsche Ihnen aufs aufrichtigste, von ganzem Herzen, daĂ Sie eines schönen Tages â fĂŒr Sie wird er allerdings nicht schön sein â allein, in tiefster Armut, in einer fremden Stadt sein sollen, in zerfetzten Kleidern an Stelle Ihres schönen Pelzes, ich wĂŒnsche Ihnen, daĂ Sie tagelang nichts zu essen haben sollen, fern sein sollen von allen Verwandten und Bekannten! Und dann mögen Sie sie suchen, Ihre Nachtigall in den Herzen Ihrer Mitmenschen! Sie werden schon sehen, ob Ihnen aufgetan wird, wenn Sie anklopfen werden! Die Menschen sind alle Schufte, Gauner, Schweine! Alle werden sie gleichgĂŒltig zusehen, wie Sie mit Ihrem âșoffenen Herzen und wohlwollenden GemĂŒtâč vor Hunger krepieren werden!«
MerkwĂŒrdig, wie eine Prophezeiung klingen mir jetzt die Worte dieses Menschen, der damals seinem Leben ein Ende machte. Weil er ĂŒberzeugt war, daĂ sie die Wahrheit enthalten. In einem fremden Lande sind wir, schlechte Kleider haben wir, allein sind wir hier, verloren in der groĂen Stadt mit den vielen Menschen, fĂŒr die alle wir nichts sind.
Ich sitze im Park und sehe zu, wie der Knabe mit dem Sand spielt. Ich denke an die Menschen, von denen jetzt unser Schicksal abhÀngt. Wird die Nachtigall in ihrer Seele erwachen?
»Werden wir heute wieder âșerarbeitenâč gehen?« fragte der Knabe.
Otmar ist zurĂŒckgekehrt. Schon von weitem sah ich es ihm an, daĂ er das Geld bekommen hat. Wir sind gerettet!
»Otmar«, sagte ich, »wir werden alles tun, daĂ sie ihr Geld wieder zurĂŒckbekommen. ErzĂ€hle doch, wie alles war! Wie haben sie sich entschieden? Sie kennen mich ja doch gar nicht!«
Nachdem mir Otmar alles genau mitgeteilt, gingen wir ein wenig in der Stadt spazieren.
»Otmar«, sagte ich, »ich werde mich jetzt ganz allein mit dem GeschĂ€fte abgeben, und du kannst dich in Ruhe auf dein Examen vorbereiten. Welches GlĂŒck! Mein Gott, was mĂŒssen das doch fĂŒr gute Menschen sein! Wie dankbar bin ich ihnen!«
Die vielen Leute, die mir jetzt begegneten, sie alle erschienen mir gar nicht mehr fremd. Ein Volk, in dem es Menschen gibt wie Doktor Walter, kann mir nicht fremd sein!
Wir beschlossen gleich, eine Zeitung zu kaufen und uns nach Adressen umzusehen.
»Nicht wahr«, sagte ich, »du kaufst mir ein Buch, wie man so ein GeschĂ€ft fĂŒhren muĂ, denn ich habe ja von dem allen nicht die leiseste Ahnung!«
»Nun, es wird schon gehen!« beruhigte mich Otmar. »Bei dir geht alles, wenn du nur willst!«
Es war Abend geworden. Wir gingen in ein Gasthaus und nahmen ein Nachtmahl. Gulasch, das mir so gut schmeckt, weil man es bei uns gar nicht kennt, und fĂŒr den Buben ein Kalbshirn.
»Wenn wir das GeschÀft haben, werde ich da jeden Tag Kalbshirn bekommen?« fragte Jurka, als er mit dem Essen fertig war.
12. FEBRUAR 1926
FĂŒr uns hat jetzt ein merkwĂŒrdiges Leben begonnen. Den ganzen Tag von frĂŒh bis abend durchfahren wir mit der Tramway Wien nach allen Richtungen und sehen uns GeschĂ€fte an, die zum Verkauf angeboten sind. Wien ist eine riesige Stadt, und es werden jeden Tag Dutzende von GeschĂ€ften verkauft, aber noch niemals habe ich mir eine Vorstellung davon gemacht, wieviel Bettelarmut und Elend wir auf unserer Suche nach einem passenden Objekt sehen wĂŒrden. Das Wien mit den schönen StraĂen, den reich und elegant gekleideten Menschen, den herrlichen Anlagen und prĂ€chtigen PalĂ€sten, wir sehen es nur an uns vorbeihuschen, wenn wir wĂ€hrend unserer Tramwayfahrten aus dem Fenster blicken. Wenn wir aber dann dort aussteigen, wohin uns die Anzeige von irgendeinem GeschĂ€fte fĂŒhrt, das verkauft wird, dann sind wir in einem andern Wien, in dem wir stundenlang herumgehen und das bleibendere EindrĂŒcke hinterlĂ€Ăt als die Stadt, die da an uns vorbeiflog wie die aufblitzenden und verlöschenden Flammen der Lichtreklamen.
Nachdem wir von der Haltestelle der Elektrischen noch viertelstundenlang durch Gassen und StraĂen gewandert sind, die alle einander aufs Haar gleichen, gelangen wir zu irgendeinem Lokal, an dessen Eingang rechts und links Blechtafeln von Maggi, Kronenbrot, Imperial-Feigenkaffee usw. hĂ€ngen und in dessen Auslage ein paar Brocken eingetrockneten KĂ€ses, ein paar BĂŒndel verwelktes SuppengemĂŒse und einige mit Mehl gefĂŒllte Milchflaschen stehen. Beim Ăffnen der EingangstĂŒr erklingt ein Glöckchen. Lange mĂŒssen wir warten, bis endlich aus irgendeinem Winkel eine merkwĂŒrdige Figur in einer blauen SchĂŒrze, mit einem schwarzen KĂ€ppchen auf dem glattrasierten SchĂ€del herausschleicht. Sobald dieser Mensch aber erfĂ€hrt, daĂ wir gekommen sind, um seinen Laden zu kaufen, wird er auf einmal lebhaft und beginnt uns klarzumachen, daĂ das GeschĂ€ft glĂ€nzend geht und eine wahre Goldgrube ist. Arbeit fast keine, Gewinn ungeheuer. Man braucht nur dazusitzen und das Geld zusammenzuscharren!
»Warum verkaufen Sie das GeschÀft?« fragt Otmar.
»Ja, wissen Sie«, lautet die Antwort, »meine Schwiegermutter will eine Sache anfangen, und da fordert sie das Geld zurĂŒck, das sie uns fĂŒr das GeschĂ€ft geliehen hat. Da bleibt mir nichts ĂŒbrig, als zu verkaufen. Sie können sich denken, wie schwer es fĂŒr mich ist, eine solche Goldgrube aufzugeben!«
Wir haben heute sieben GeschĂ€fte angeschaut, und dieses ist das fĂŒnfte, an dessen Verkauf die Schwiegermutter schuld ist, die plötzlich ihr Geld zurĂŒck haben will. Wieder ein Beweis fĂŒr die abgrundtiefe Schlechtigkeit des so verschrienen Geschlechtes der SchwiegermĂŒtter! â Den wahren Grund des Verkaufes sagt natĂŒrlich niemand. Aber an den leeren Gestellen, die durch leere Schachteln und BlechbĂŒchsen den Eindruck der FĂŒlle erwecken sollen, an der vernachlĂ€ssigten Auslage, an dem schmierigen Ladentische sieht man sofort, daĂ es sich um ein GeschĂ€ft handelt, das zugrunde gegangen ist.
Auf die Frage, ob auch ein Wohnraum zum GeschÀft gehört, antwortete der Besitzer:
»Ja, aber er ist ein wenig in Unordnung; wir sind nÀmlich gerade dabei, ins Dorf zu ziehen!«
Wir treten ein. Ein ganz kleines Zimmer ist es, mit einem Fenster in den Hof, halbdunkel. Ein ungeheures Bett mit rosa Federbetten nimmt fast den ganzen Raum ein, und auf ihm sitzen und liegen Kinder, deren Zahl ich auf sechs bis sieben schÀtze. Beim Herde stehen zwei Frauen, die sich nicht einmal nach uns umdrehen. Ich sehe ihre nackten, mageren, schmutzigen Beine. Durch das ganze Zimmer hindurch hÀngt eine Schnur mit irgendwelchen Fetzen zum Trocknen. Die Luft ist entsetzlich.
Auf die Frage, wieviel das GeschÀft kostet, lautet die Antwort:
»FĂŒnftausend Schilling, weil es eine Goldgrube ist!«
Wie wir wieder drauĂen sind, brauchen wir eine ganze Weile, um uns von dem niederschmetternden Eindruck zu befreien, den diese Höhle auf uns gemacht. Dann beschlieĂen wir, noch eine der vorgemerkten Adressen vorzunehmen, obwohl es von Hernals, wo wir uns jetzt befinden, bis nach Hietzing sehr weit ist.
Wir fahren zuerst mit der Tramway, dann mit der Stadtbahn. Die Teile der Strecken, die unterirdisch fĂŒhren, bringen den Knaben in hellstes EntzĂŒcken, nicht weniger aber auch die hochbahnartigen Teile. Auch ich sauge das Bild mit Begierde in mich ein. Die riesigen, mit tausend Lichtern ĂŒbersĂ€ten HĂ€user, die vielen kleinen Parks, die zahlreichen Kirchen, die Automobile und Tramwaywagen, die unter den Viadukten hindurchschieĂen, wie ganz anders ist doch dies alles als in meiner stillen Heimatstadt, in der um diese Stunde kaum ein Mensch mehr auf der StraĂe ist. Und die Menschen! Alle sind sie ganz anders angezogen als bei uns, alle unvergleichlich eleganter und kultivierter, selbst die einfachsten Arbeiter. Am meisten aber gefallen mir die Frauen.
Da, mir gegenĂŒber, sitzt eine Blondine, sicher eine einfache VerkĂ€uferin, aber ich bin ĂŒberzeugt, daĂ es jetzt in ganz RuĂland keine einzige Frau gibt, die so nett gekleidet ist.
Wir steigen aus. Wieder mĂŒssen wir lange gehen, bis wir endlich am Platze sind. Einem groĂen Park gegenĂŒber steht ein langes Haus von ganz komischer Gestalt, wie ein BĂŒgeleisen. Darin befindet sich das GeschĂ€ft, das wir besichtigen wollen. Wir erkennen es an den weiĂen Milchflaschen, die einsam in einer Auslage stehen, deren groĂes Fenster einen riesigen Sprung aufweist, von einer Ecke in die andere âŠ
Nachdem wir eingetreten, empfĂ€ngt uns eine dicke, rotwangige Frau in einer groben dunkelblauen SchĂŒrze mit einem groĂen roten, eingesetzten Fleck, gerade mitten auf dem Bauch. Vor ihr steht ein groĂer Teller mit frischem WeiĂkĂ€se, von dem sie gerade mit der bloĂen Hand iĂt. Wie sie uns sieht, wischt sie schnell ihre HĂ€nde in der SchĂŒrze ab und verzieht den Mund zu einem breiten LĂ€cheln.
Im GeschĂ€ft gĂ€hnt eine erschreckende Leere. AuĂer dem KĂ€se befinden sich darin noch zwei Milchkannen mit einer groĂen Milchlache davor, etwa zehn Eier auf einem zerbrochenen Teller auf einem Regal und sonst nichts, buchstĂ€blich nichts, auĂer man rechnet den Schmutz noch zur Einrichtung, der ĂŒberall herumliegt.
»Ich verkaufe das GeschĂ€ft«, erklĂ€rt sie, »weil ich heirate und ins Dorf zurĂŒckgehe. Mir paĂt es nicht mehr in der Stadt. Aber das GeschĂ€ft ist eine Goldgrube. Eine wahre Goldgrube!«
Wir erkundigen uns nach dem Kundenstock.
»Ach, eine Menge Leute kaufen...