KENNWORT »OPERNBALL«
Oberst Redl gesteht seine Spionagetätigkeit
Alfred Redl * 14. 3. 1864 Lemberg † 25. 5. 1913 Wien. Oberst im Generalstab, Leiter der k. u. k. Spionageabwehr und Spion. Seit 1907 stellvertretender Chef des für den geheimen Nachrichtendienst zuständigen Evidenzbüros im k. u. k. Kriegsministerium. 1912 Generalstabschef des VIII. Korps in Prag. War ab 1901 als Spion in Diensten für das zaristische Russland, später auch für Frankreich und Italien. Wurde am Tag seiner Enttarnung als Spion vom k. u. k. Generalstab zum Selbstmord gezwungen.
Es war mitten in der Nacht, kurz vor drei, da klingelte das Telefon wie verrückt. Ich wankte in mein Arbeitszimmer, hob ab und sagte schlaftrunken »Hallo«.
»Mein Name ist Nikon Nizetas, Kennwort: Opernball«, tönte es von der anderen Seite der Leitung.
»Sind Sie verrückt geworden?«, krächzte ich. »Wer wagt es, mich zu dieser Stunde zu wecken? Noch dazu wegen eines Opernballs. Ich besuche prinzipiell keine Tanzveranstaltungen.«
»Opernball ist der Geheim-Code«, flüsterte der Fremde mit kaum vernehmbarer Stimme. »Ich kann mich nicht zu erkennen geben, da alle Gespräche abgehört werden. Aber es wäre von eminenter Bedeutung, Sie ehebaldigst zu treffen. Es geht um die Aufmarschpläne der Armee.«
»Die Aufmarschpläne?« Nun war mir klar, dass die militärische Sicherheit unseres Landes auf dem Spiel stand. »Wann und wo, Herr Nizetas?«
»3 Uhr 37 unter der Reichsbrücke, vierter Pfeiler stromabwärts. Kennwort: Opernball.«
Ich schlüpfte in mein Gewand und raste zur angegebenen Adresse, an der mich bereits ein mittelgroßer, untersetzter Mann in abgetragener k. u. k. Uniform erwartete. Sein Kragen war aufgestellt, die Offizierskappe tief ins Gesicht gezogen. Nikon Nizetas wirkte nervös und schien hinter jedem Gebüsch eine Gefahr zu wittern. Endlich schlug er die Haken zusammen und sprach: »Wie ist das Kennwort?«
»Opernball«, antwortete ich.
»In Ordnung, rührt euch!«
»Was kann ich für Sie tun, Herr Nizetas?«
»Nikon Nizetas ist mein Tarn-Name, Sie verstehen. Ich bin … äh…«
»Also, wer sind Sie?«
»Es ist mir äußerst peinlich, meinen Namen zu nennen, er ist sehr prominent. Ich bin …!« Der Mann konnte vor lauter Aufregung nicht weitersprechen.
»Heraus mit der Sprache!«
»Ich bin … äh… Oberst Redl.«
Ich war perplex. Vor mir stand der Mann, der Österreich-Ungarn verraten hatte. Der Chef der Spionageabwehr, der selbst Spion war und all das preisgab, was geheim bleiben sollte.
»Worum geht es?«, fragte ich nach einer kurzen Schrecksekunde, versuchte aber währenddessen äußerlich beherrscht zu bleiben.
»Wissen Sie, ich hatte noch nie Gelegenheit, mich jemandem anzuvertrauen«, stammelte das Häufchen Elend und wagte es kaum, mir in die Augen zu schauen. »Aber jetzt muss ich über die Sache reden, die mich seit hundert Jahren bedrückt.«
»Ich bin nicht Ihr Beichtvater, aber wenn Sie wollen, höre ich mir Ihre Geschichte an, Herr Redl.«
»Oberst Redl, wenn ich bitten darf!«
»Dürfen Sie nicht. Weil Ihnen 1913 nach Ihrer Enttarnung als feindlicher Agent der militärische Rang aberkannt wurde.«
»Das wissen Sie auch?«, ärgerte sich der Spion. Wir setzten uns auf den nächsten Brückenpfeiler, Redl legte seine abgewetzte Offiziersmütze neben sich und begann zu erzählen: »Also, ich hatte die Kriegsschule mit Auszeichnung absolviert und machte eine glänzende Karriere im Generalstab, bekam mehrere Auszeichnungen …«
»Herr Redl«, unterbrach ich, »unterlassen Sie jegliche Form der Selbstbeweihräucherung, kommen wir lieber zur Sache: Warum haben Sie Ihr Vaterland für schnöden Mammon verraten?«
»Bitte verstehen Sie mich, ich … äh… ich wurde …«, stotterte er.
»Es gibt nichts zu verstehen. Sie haben Österreich-Ungarn in den Untergang getrieben.«
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie peinlich mir die ganze Sache ist.«
»Bitte kein Selbstmitleid! Erzählen Sie mir lieber, wie alles anfing.«
»Ich hatte schon an der Kadettenschule eine Vorliebe für junge Männer«, sagte Redl, »daran änderte sich auch nichts, als ich Offizier wurde.«
»Das allein ist keine Erklärung für den größten Spionagefall in der Geschichte Österreichs.«
»Sie wissen nicht, welche Folgen das Bekanntwerden homosexueller Neigungen damals hatte. Wäre ich aufgeflogen, hätte man mich sofort aus dem Staatsdienst entlassen und meiner bürgerlichen Existenz beraubt. Der russische Geheimdienst Ochrana wusste von den strengen Bestimmungen unserer Armee und spionierte hinter jedem aufstrebenden Offizier her. So wurde auch ich bespitzelt und eines Tages mit detaillierten Aufzeichnungen meines Privatlebens konfrontiert. Die wussten alles.«
»Wann war das?«
»Das muss 1901 gewesen sein.« Redl wagte es noch immer nicht, mir in die Augen zu blicken, so unangenehm war ihm die Sache.
»Sie waren also von da an volle zwölf Jahre lang, bis zu Ihrer Enttarnung, für den Feind tätig?«
»Ich hatte keine andere Wahl. Entweder Sie arbeiten für uns, sagten die, oder wir übergeben dem österreichischen Generalstab ein Konvolut mit dem Inhalt: ›Die Neigungen des Hauptmanns Alfred Redl.‹«
»Und deswegen mussten Sie gleich alle politischen und militärischen Geheimnisse der Monarchie verraten?«
»Es begann ganz harmlos. Als junger Offizier hatte ich kaum Einblick in wichtige Dokumente, so konnte ich anfangs nur belanglose Informationen weitergeben, über die ohnehin jeder Militärattaché verfügte.«
»Aber so belanglos«, bohrte ich weiter, »blieb die Sache nicht.«
»Nein, als ich im österreichischen Generalstab Karriere machte, gelangte ich an immer brisanteres Material heran. Meine Erpresser wollten alles haben, und als mir bewusst wurde, was ich da anrichtete, war’s zu spät, da steckte ich schon ganz tief im Morast des Verrats. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie schmerzhaft die ganze Angelegenheit für mich ist …«
»Hören Sie auf zu jammern, Herr Redl. Es besteht kein Grund, Sie zu bedauern. Russischen Quellen zufolge lagen die Gesamteinkünfte Ihrer Spionagetätigkeit bei 500000 Kronen*. Ich verstehe nicht, wie es überhaupt möglich war, dass Sie vom österreichischen Geheimdienst zwölf Jahre lang nicht enttarnt wurden. Sie führten ein Luxusleben, besaßen ein fürstliches Gut, Reitpferde, teure Autos und Antiquitäten. Warum ist das niemandem aufgefallen?«
»Wem hätte es auffallen sollen? Ich hatte es verstanden, das österreichische Büro zur Spionageabwehr so aufzubauen, dass es nur einen Mann gab, der einem Agenten innerhalb des Generalstabs gefährlich werden konnte. Und dieser Mann …«
»… waren Sie selbst!«
»So ist es.«
»Eine geniale Strategie, ich gratuliere Ihnen, Herr Redl. So konnten Sie schalten und walten, wie es Ihnen beliebte.«
»Gefährlich wurde es erst, als ich im Oktober 1912 als Generalstabschef des VIII. Korps nach Prag versetzt wurde. Denn von da an war das Wiener Evidenzbüro, in dem die Fäden der Spionageabwehr zusammenliefen, nicht mehr unter meiner Kontrolle. Und so kam es zu jenem verhängnisvollen 24. Mai 1913, an dem ich für ein paar Stunden nach Wien gekommen war. Ich ging nachmittags zur Hauptpost, an der ein an Herrn Nikon Nizetas gerichteter postlagernder Brief lag. Unter diesem Namen wurde ich beim zaristischen Geheimdienst geführt.«
»Und in dem Kuvert befand sich Ihr Schandlohn von der Ochrana?«
»Der Brief war schon seit längerer Zeit in Wien. Ich hatte irgendwie ein ungutes Gefühl und zögerte daher die Abholung hinaus. Das war ein tödlicher Fehler, denn nach Ablauf der gesetzlichen Lagerfrist wurde das Schriftstück an das deutsche Aufgabepostamt retourniert. Dort öffnete man es und fand darin 6000 österreichische Kronen.«
»Der hohe Betrag musste Verdacht erregen«, ergänzte ich, »da solche Summen im Normalfall auf anderem Wege zugestellt wurden.«
»Ja, es war klar, dass es sich hier um Spionagegelder handelte, noch dazu, weil das Aufgabepostamt nahe der russischen Grenze lag. Deshalb schickte man das Kuvert jetzt zurück nach Wien, diesmal an die Spionageabwehr. Hier nahm sich mein früherer Mitarbeiter Major Max Ronge des Falles an. Er ließ das Kuvert wieder zur Hauptpost bringen und musste jetzt nur noch warten, bis Nikon Nizetas den Brief abholen kam.«
»Warum entschieden Sie sich, den so lange bei der Post deponierten Geldbetrag nun doch abzuholen?«
»Weil mich ein gewisser Leutnant Stephan Horinka unter Druck setzte, ihm eine größere Summe auszuzahlen …«
»… Ihr langjähriger Liebhaber.«
»Nicht so laut«, sagte Redl, sah sich wieder nach allen Seiten um und flüsterte: »Der junge Mann war zusehends unverschämter geworden und hatte mich zu immer höheren Beträgen erpresst. Ich brauchte daher das an der Hauptpost deponierte Geld. Natürlich wusste ich nicht, dass Major Ronge schon seit Wochen mehrere Kriminalbeamte abgestellt hatte, die auf die Behebung des Briefes warteten. Als ich nun ins Postamt kam und einen Zettel mit dem Namen Nikon Nizetas auf den Schaltertisch legte, betätigte die Postbedienstete einen Klingelknopf, mit dem die Detektive im Nebenraum verständigt wurden.«
»Sobald Sie das Kuvert entgegengenommen hatten, war klar, dass Sie der gesuchte Spion sind.«
»Ja, ich wurde von diesem Augenblick an beschattet, was mir als altem Profi natürlich nicht entging. Die Kollegen verfolgten mich bis zum Hotel Klomser in der Herrengasse, in dem ich abgestiegen war. Ich ging auf mein Zimmer, und bald klopfte jemand, wie ich es erwartet hatte, an meine Tür. Ich öffnete, und vor mir standen vier Offiziere, die ich mit den Worten empfing: ›Ich weiß, weshalb die Herren kommen. Ich bin das Opfer meiner unseligen Leidenschaft. Ich weiß, dass ich mein Leben verwirkt habe.‹ Daraufhin sagte einer der Herren: ›Sie dürfen um eine Schusswaffe bitten, Herr Redl.‹«
»Dann wurde Ihnen ein Revolver übergeben?«
»Das war nicht möglich, da peinlicherweise keiner der Offiziere eine Waffe bei sich hatte, und ich meinen Dienstrevolver in Prag vergessen...