IXIch weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin?
Zu Hause unter dem Bild der Ururgroßmutter
Kehraus für Pestgruben
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin?«, fragt sich Heine, wenn er an seine Heimat denkt. Warum fällt mir dieses Dichterwort jetzt immer öfter ein, obwohl ich immer ein hoffnungsvoller Mensch war? Auch in den Jahren der unwürdigen Performance unserer rot-schwarzen republikanischen Doppelmonarchie? Und dann kam ja auch endlich ein neuer, rosaroter Kanzler, Kern, mit frischer Luft, hoffte ich. Aber leider vergebens. Und dann das Hoffnungsgegenstück, der junge, schwarz-türkis gestreifte Kurz mit neuer Mannschaft. Das ist es, dachte ich. Ein Zeichen für den allseitigen Neubeginn.
Warum sich jetzt aus kurzfristiger Hoffnung ein langfristiger Schrecken abzeichnet? Daran, tut mir leid, sind wir alle schuld, wenn auch vor allem die Regierungen und die Justiz der letzten 70 Jahre. Weil sie jene Untoten in den braunen Pestgruben wissentlich vergessen ließen. Statt als beleidigte Leberwürste oder schadenfreudige Freistilkämpfer aufzutreten, sollte endlich das Republik-Doppel mit allen übrigen Parteien raschestens helfen, die stinkende Unratsgrube, an der alle mitschuldig sind, endgültig zu entsorgen. Weil Politiker für das Volk da zu sein haben und nicht, umgekehrt, das Volk für die Politiker.
Gedenken ohne zu denken ist eine widerliche Sache. Man tut so als ob, als ginge es um eine Darbietung im Theater. Da wird Gedenken zum Gedenktheater degradiert. Wir alle kennen es nur zu gut: Betroffenheit auf Regieanweisung Korrekter, die daraus unkorrektes politisches Kapital schlagen möchten. Erinnerungskultur zum eigenen Nutzen gab und gibt es in allen politischen Systemen, gedenkt man doch allgemein nur jener, die einem was bringen, und wenn es bloß Ablenkung von der Gegenwart ist.
Es haben sich viele sehr gescheite Menschen über den Sinn und Unsinn des Gedenkens Gedanken gemacht. Goethe fragte sich, wo denn eines Tages sein Denkmal herkäme, wenn er es sich nicht schon zu Lebzeiten selbst gesetzt hätte. Die Erinnerung an etwas, das dieser nicht bedarf oder an das man sich ansonsten nicht erinnern würde, schien vielen Denkern der Menschheitsgeschichte ein denkwürdiges Unterfangen. Leider lösen Gedenkfeiern wie Denkmäler nur in seltenen Fällen Denkprozesse aus.
Das heißt jedoch keinesfalls, dass Gedenken ausschließlich oberflächlich, opportun oder gar verlogen sein muss. Jedem steht es offen, ritualisiertes Gedenken zum Anlass für ein persönliches Umdenken zu nehmen, um diesem tieferen Sinn zu geben. Denn wenn nur einer dies bei einer Gedenkfeier tut, wird sie aktuell und lebendig.
Dem Gedachten ist das Gedenken an sich gleichgültig. Erst ein aktives Tun verleiht dem Gedenken Orientierung und Sinn.
Da kann man nur noch weinen
Als sich im April 1945 aus dem Radio nach sieben Jahren Nazi- und Kriegsterror eine Stimme als »Radio Österreich, Sender Wien« meldete, habe ich dieses allumfassende, existenzielle, lebendige Freiheitsglücksgefühl empfunden. Dieses »Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder« – obwohl ich damals erst 19 Jahre alt war.
Gestern finde ich im Postfach die Jubiläumsausgabe der großen deutschen Zeitung Die Zeit, beginnend am 6. Februar ’46 mit dem Bericht über die erste Tagung der neu gegründeten Vereinten Nationen. »Der Friede ist unteilbar. Das ist die große Erkenntnis, die der letzte Krieg den Menschen geschenkt hat.« Seither sind über 70 Jahre vergangen und ich sitze hier mit meiner Zeit im doppelten Sinn des Wortes. Und es bewegt mich wieder eine umfassende existenzielle Unruhe, diesmal voll Wut und Trauer. Auf all die Machthaber unserer Welt, die wieder einmal die Erfahrungen und Erkenntnisse von gestern in die Historie entsorgt haben, sich nur im Jetzt spiegeln und immer noch nicht begreifen, dass Gestern, Heute und Morgen ein unteilbares Ganzes sind. Ach, was reg ich mich auf. Es geht mich doch nichts mehr an mit meinen 90 Jahren. Ich sollte endlich Ruhe geben, sagen meine Freunde. Aber ich kann’s halt net.
Der Mensch ist von Natur aus kein friedfertiges Wesen. Es fällt ihm schwer, Konflikte ohne Zorn und Gewalt zu bewältigen. Geduld und Selbstbeherrschung gehören nicht zu seinen angeborenen Stärken. Dazu kommen Eitelkeit, Ehrgeiz und Argwohn, die durch ihre egozentrische Schwerkraft das Friedenhalten buchstäblich erschweren. Und da der zivilisierte Mensch dazu angehalten wird, sich das alles nicht einzugestehen, geht es ihm um vorgetäuschte Selbstverteidigung, mit deren Hilfe er sich vor den bösen anderen nichts weiter als schützen möchte.
Die Friedenspfeife, sagte Mark Twain, ist im Gegensatz zum immer griffbereiten Kriegsbeil oft nicht auffindbar. Das könnte damit zu tun haben, dass Menschen wesentlich mehr Kriegsbeile lagern als Friedenspfeifen vergraben. Diesem Grundgesetz menschlichen Verhaltens verdanken wir es, dass die Rüstungsausgaben im Jahr 2017 trotz aller Friedensbeteuerungen weltweit wieder zunahmen.
Laut dem Internationalen Institut für Strategische Studien wurden in diesem Zeitraum 971,9 Milliarden Euro für Verteidigung ausgegeben. Wie hoch wäre die Summe, wenn es nicht bloß um Verteidigung im Frieden ginge?
Der in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts verklungene Ruf nach Frieden ohne Waffen wirkt in unseren rüstungsgeilen Tagen nicht nur anachronistisch, sondern weltfremd. Dem Gedanken an eine Welt ohne Aufrüstung ist heute nichts mehr abzugewinnen – eher ließe sich mit der blühenden Rüstungsindustrie über die Aufstockung von Massenvernichtungs- und konventionellen Waffen in einer atomar bereits ausgelöschten Welt verhandeln.
Als der Nachbar verschwand
Man wohnt schon eine ganze Weile nebeneinander. Wie lang, weiß man nicht genau. Der eine, Mieter von Nummer 16, ist jung und freundlich, geht morgens weg und kommt spätnachmittags heim. Der Nachbar von Nummer 17 ist Pensionist, ein ebenfalls freundlicher älterer Mann. Wenn man einander gelegentlich trifft, sagt man: »Heiß ist es«, »Kalt ist es« oder sonst was. Einmal kommt der junge Mieter von Nummer 16 und denkt: Da hab ich wohl was Essbares vergessen wegzuräumen, weil es so stinkt. Er lüftet gründlich. Das Gleiche wiederholt er die nächsten drei Tage, aber der Geruch geht nicht weg. Jetzt will ich doch den Nachbarn fragen, denkt er sich.
Er geht zu dessen Tür, aber da sieht er nur zwei Zettel vom Rauchfangkehrer und vom Postzusteller kleben, und auf das Läuten öffnet niemand. Also denkt er sich, der alte Mann ist auf Urlaub gefahren. Vier Tage später findet die Polizei in der Wohnung Nummer 17 die verweste Leiche des Bewohners, die sich jetzt, in der Sommerhitze, rapid aufgelöst hat. Laut Obduktionsbericht stellte sich heraus, dass er herzkrank war und an einem Herzanfall starb. Wäre jetzt nicht ein heißer, sondern ein kalter Sommer, vielleicht hätte man den freundlichen Mann erst zu Weihnachten gefunden. Dem jungen Nachbarn von Nummer 16 wär’s sicher nicht aufgefallen.
Die zunehmende soziale Isolation der Briten, die sich als Insulaner einst ihrer »Splendid Isolation« wegen rühmten, hat Premierministerin Theresa May zur Gründung eines Ministeriums der Einsamkeit (Ministry of Loneliness) veranlasst. Ein nicht uninteressanter Zeitpunkt für eine solch ungewöhnliche Maßnahme, steht doch die wirtschaftspolitische Isolierung des Königreiches durch den Brexit bevor. Einsamkeit, die zur Vereinsamung führt, ist weder individuell noch gesellschaftlich erstrebenswert.
Alter ist für viele mit Unbehagen verbunden. Wer freut sich schon, wenn Freunde und Verwandte wegsterben, Pflege, Demenz und Unselbstständigkeit drohen und die Erfüllung unerfüllter Träume zunehmend unwahrscheinlicher wird? Spätestens dann kommt es auf die wesentlichen Dinge des Lebens an: Geborgenheit, Zuwendung und zwischenmenschlicher Austausch im persönlichen Gespräch.
Wenn, wie in Großbritannien, 13 Prozent der Bevölkerung von Einsamkeit betroffen sind und an die 200 000 Senioren höchstens einmal im Monat ein Gespräch führen, dann hat das Symptom epidemische Ausmaße erreicht.
Dass das Leid von Mitmenschen uns alle und demzufolge auch die Politik angeht, steht im christlich-jüdischsozial-liberal geprägten Österreich außer Streit. Und dennoch dürfte die gesellschaftliche wie familiäre Isolierung von Menschen der Vorbote einer späteren Vereinsamung sein.
Einsamkeit beginnt dort, wo das Miteinander zu einem Nebeneinander degeneriert. Wer dem anderen nichts mehr zu sagen oder zu geben hat, darf sich nicht wundern, eines Tages ausgeschlossen, ungeliebt und unbeachtet zu sein.
Die hohe Kunst des Fremdschämens
Wenn man auf eine harmlose Amtsanfrage die Antwort »Datenschutz« bekommt, darf man in den meisten Fällen annehmen, dass es sich um einen Beamten handelt, der sich profilieren will – oder dass absichtlich gemauert wird. Immerhin war im gegenständlichen Fall bereits durch kurze Zeitungsnotizen zu erfahren, dass von einem exklusiven Event eines exklusiven Klubs in Ebreichsdorf am Ende des Festes 15000 mit Marmelade beziehungsweise Vanillecreme gefüllte Krapfen übergeblieben waren. Am 9. Juli spätnachmittags wurde die Feuerwehr von Ebreichsdorf von einem größeren Feuer im Schlosspark verständigt, als dessen Ursache sich die Verbrennung der besagten 15 000 Krapfen herausstellte.
Wo, wie und wann leben wir eigentlich? Verkommt unser ach so christliches, sich besser als alle anderen dünkendes Abendland immer rascher zu einer unerträglich hedonistischen Exklusivgesellschaft, die nicht einmal mehr die Brosamen von einem Event Bedürftigen – in dem Fall den keine zwölf Kilometer entfernten Armen in Traiskirchen – überlässt? Sind uns die Reflexe der Mitmenschen so fremd, dass uns das Selbstverständliche nicht mehr einfällt? Ich habe mich oft gefragt, was das Wort »fremdschämen« eigentlich bedeutet. Jetzt weiß ich es.
Wer sich stärker mit seinen Mitmenschen identifiziert, leidet laut psychologischen Studien öfters an Fremdschämen als Menschen mit geringer oder fehlender Empathie. Wer sich für die Taten anderer schämt, hat es im Berufsleben daher schwerer. Insofern ist Fremdschämen eine Karriere schädigende Tugend, die sich Normalsterbliche nur bedingt leisten können.
Fremdschämen beginnt mit dem näheren Hinsehen und Nicht-mehr-alles-für-bare-Münze-Nehmen. Für die Jugend ist es die geilste und coolste Art, den Eltern zu zeigen, wie peinlich sie sind. Ein Klassiker ist der zu haltende Abstand von den biologischen Erzeugern. Meterweites Vorauslaufen oder erbarmungswürdiges Hinterherschleichen bei einem nicht zu vermeidenden öffentlichen »Auftritt« reichen zumeist schon aus, um den zu befürchtenden Peinlichkeiten mit den Alten aus dem Weg zu gehen. Doch wenn die Eltern das Ruder an sich reißen, sich jünger geben als sie sind und gar Gespräche mit Freunden anfangen, dann wird das Fremdschämen für die alten Trotteln blamabel. Und da die Eltern dummerweise meist am falschen Ort zur falschen Zeit sind, hat es seine Richtigkeit, wenn sie den Shitstorm ihrer »Kleinen« voll abbekommen.
Erfahrene Mütter und Väter nehmen das jedoch nicht persönlich, sondern eher sportlich als erkenntnisbringende Herausforderung fürs Leben danach, in dem sie die wichtigsten Bezugspersonen ihrer Kinder bleiben. Denn wenn das Fremdschämen nicht aus einem empathischen Gefühl entspringen würde, würden diese sich die aufreibende Auseinandersetzung mit ihren Alten von Haus aus ersparen.
Die Schande von Hiroshima
Vor 73 Jahren, am 6. August 1945, hat sich die Menschheit bewiesen, dass sie von nun an imstande sein wird, sich selbst zu vernichten. Von dem ausgebrochenen Atomzeitalter erfuhren wir europäischen Normalbürger aus den Abendnachrichten per Radio und in den folgenden Tagen über die totale Zerstörung der Stadt Hiroshima durch die Urgewalt einer einzigen Bombe. Es gab damals kein Fernsehen, kein Internet oder sonstige Elektronik. Erst in der nächsten Wochenschau im Kino sahen wir die Trümmerbilder der Stadt, umherirrende oder grauenhaft verstümmelte und verkohlte Menschen. Es waren grässliche Kriegsbilder, aber sie vermittelten damals nichts vom Ausmaß und von den Folgen der Katastrophe. Es dauerte eine ganze Weile, bis man sich bewusst wurde, dass mit der Atomkraft die Büchse der Pandora geöffnet wurde.
Sieht man sich heute, 73 Jahre danach, die Welt mit den gefährlichen Drohgebärden der Mächtigen, den blutigen nationalen Kleinkriegen, den mittelalterlichen Religionskriegen und der Völkerwanderung der Flüchtlinge an, müsste man eigentlich verzweifeln. Wenn man nicht hoffen dürfte, dass die existenzielle Atomangst nicht aufhören wird. Es ist eine Schande für die Menschheit, dass sie es nicht ihrer Vernunft, sondern der Angst vor sich selbst zu verdanken hat, dass der dritte und letzte Weltkrieg noch nicht ausgebrochen ist.
»Das Rationale am Menschen«, sagt Friedrich Dürrenmatt, »sind die Einsichten, die er hat. Das Irrationale, dass er nicht danach handelt.« Diese Einsicht sollte einkalkuliert werden, wenn wir uns über den im Kalten Krieg geprägten Begriff »Gleichgewicht des Schreckens« Gedanken machen. In englischsprachigen Ländern spricht man von der Mutually-Assured-Destruction-Doctrine, der Wechselseitig-Zugesicherten-Zerstörungs-Doktrin, aus deren drei Anfangsbuchstaben das Akronym MAD-Doctrin gebildet wird. MAD bedeutet im Englischen verrückt beziehungsweise wahnsinnig, was in diesem konkreten Fall mit Sicherheit kein Zufall ist.
Die MAD-Doctrin geht davon aus, dass der Mensch ein rational handelndes Wesen ist. Demnach wäre keine Seite so irrational, die Vernichtung des eigenen Landes zwecks Vernichtung des Gegners in Kauf zu nehmen. Erstschlag und Gegenschlag halten sich so die Waage, weshalb beide Seiten auf den atomaren Erstschlag verzichten. Die Spannung des ins...