Geschichte in Bewegung
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Geschichte in Bewegung

Das Mittelalter jenseits der Politik

Christian Domenig

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  1. 254 pages
  2. German
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Geschichte in Bewegung

Das Mittelalter jenseits der Politik

Christian Domenig

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Das Ende der 1980er Jahre brachte nicht nur große politische UmbrĂŒche in Europa, sondern auch einen Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft. Fortan wird die MediĂ€vistik nicht mehr von politischer Geschichte und der Darstellung von Strukturen dominiert. Vielmehr steht seitdem der Mensch in allen seinen LebensĂ€ußerungen im Mittelpunkt der historischen Betrachtung. Die Kombination von Kulturgeschichte, Historischer Anthropologie und Alltagsgeschichte entfesselte eine kreative Dynamik, durch die unser VerstĂ€ndnis von der Vergangenheit erheblich geschĂ€rft wurde.Christian Domenig beschreibt gut lesbar die neuen, erhellenden Wege in eine vermeintlich finstere Epoche.

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Information

Year
2022
ISBN
9783170327771
Edition
1

1 Geschichtswissenschaft in Ost und West

Die Geschichtswissenschaft – und mit ihr die MediĂ€vistik – hat im 20. Jahrhundert große UmbrĂŒche erfahren. Als das Jahrhundert begann, stand noch der Historismus im Mittelpunkt. Er fĂŒhrte bereits im 19. Jahrhundert zu einer Professionalisierung und Institutionalisierung des Faches. Aus Geschichtsschreibung wurde Geschichtsforschung. Die Geschichtswissenschaft wurde zu einer Leitwissenschaft ĂŒber den deutschen Sprachraum hinaus. Themen der mittelalterlichen Geschichte im Rahmen des Historismus waren vor allem Reich und Nation sowie Kirche und Staat. Dieser Blickwinkel spiegelt durchaus die Geschichte des 19. Jahrhunderts wider. Im Fokus der Forschung standen besonders Quellen, die nach historisch-kritischer Methode aufbereitet wurden. Diese Forschungstraditionen ließen sich ĂŒberaus leicht in die nationalsozialistische Ideologie transferieren. Deutsche Historiker haben fast mĂŒhelos die Auffassungen des nationalsozialistischen Geschichtsbilds ĂŒbernehmen können, »die einen mehr in völkischer oder gar rassistischer Richtung, die anderen mehr in der Erhebung reiner Machtpolitik zum höchsten Beurteilungsmaßstab und im Traum vom â€șReich der Deutschenâ€č, das ĂŒber andere Völker zu herrschen berufen sei.«1
Nach den Zweiten Weltkrieg blieb es beim Festhalten am Konzept der »â€șNationâ€č als Movens historischer Prozesse, deren Gang durch die Geschichte nun zwar nicht mehr als Heldenepos, wohl aber als Tragödie weitererzĂ€hlt werden konnte.«2
War der Historismus die Geschichtswissenschaft der Moderne, so kann die Wirtschafts- und Sozialgeschichte als jene der Postmoderne verstanden werden. Bei diesen ForschungsansĂ€tzen ist es nicht einfach, den Übergang vom einen zum anderen genau zu definieren. In der deutschen MediĂ€vistik ist das Jahr 1945 allerdings keinesfalls als Stunde Null zu sehen. Das kommt auch daher, dass das Mittelalter mehr als lange vor der Zeit des Nationalsozialismus als Tiefpunkt deutscher Geschichte liegt. »Bei der Suche nach Ursachen fĂŒr die Katastrophe war das deutsche Mittelalter kaum gefragt.«3 Die Entnazifizierung blieb im Westen oberflĂ€chlich, eine RĂŒckkehr emigrierter Professoren fand kaum statt, durchgreifende Reformen der UniversitĂ€ten wurden nicht vorgenommen.
Im kommunistischen Osten hingegen wurde die Geschichtswissenschaft ab den 1950er Jahren in den Dienst des politischen Systems gestellt. Rasch kam es zu einem Generationenwechsel, denn die alten FachkrĂ€fte traten bald ab und eine mittlere Generation fehlte aufgrund des Krieges. Außerdem setzten sich viele Wissenschaftler in den Westen ab. Die nun nachrĂŒckenden jungen waren systemtreu.4 Sie stellten sich in den Dienst Stalins, der schon 1928 zum Sturm auf die Festung Wissenschaft aufgerufen hatte: »Diese Festung mĂŒssen wir um jeden Preis nehmen. Diese Festung muß die Jugend nehmen, wenn sie der Erbauer eines neuen Lebens sein, wenn sie zu einem wirklichen Nachwuchs der alten Garde werden will.«5 Verbunden mit einer massiven Aufstockung der Stellen entstanden geschichtswissenschaftliche Kader. Es zĂ€hlte nicht die individuelle Forschungsleistung, sondern eine kontrollierte Mannschaftsbildung in Schwerpunktbereichen. Die Geschichtswissenschaft wurde den Staats- und Parteiinteressen untergeordnet, sie galt offiziell als »eine scharfe ideologische Waffe bei der ErfĂŒllung der vom IV. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands gestellten Aufgaben bei der Erziehung der Arbeiterklasse und aller WerktĂ€tigen im Geiste des Patriotismus und des proletarischen Internationalismus.«6 Der Beschluss half wesentlich »mit, einer von der SED abhĂ€ngigen und ihr bis zuletzt treu ergebenen Geschichtswissenschaft den Weg zu bereiten.«7 Nun herrschte die Lehre des Historischen Materialismus mit festgelegten GesetzmĂ€ĂŸigkeiten und strikter Parteilichkeit. Keiner anderen Wissenschaft in der Deutschen Demokratischen Republik wurden derartige ideologische Vorgaben gemacht, nicht zuletzt von Walter Ulbricht persönlich. Unbedingt zu verifizieren waren die Aussagen von Karl Marx, Friedrich Engels, Lenin und anfangs Stalin.8 Vorbilder aus der Geschichtswissenschaft waren keine vorhanden, deshalb »haben die jungen MediĂ€visten der SBZ/DDR die Lehren der â€șKlassikerâ€č selbst fĂŒr ihre Forschungszwecke adaptiert.«9 WĂ€hrend der Kontakt zum Westen zusehends abgebrochen wurde, entwickelte sich ein reger Austausch mit den sozialistischen Bruderstaaten.10 Die Geschichtswissenschaft in der Sowjetunion galt gemeinhin als Vorbild.
Innerhalb des Faches Geschichte war das Mittelalter in der DDR von nachrangiger Bedeutung. Es wurde dabei zur Zeit des Feudalismus,11 die teilweise bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts ausgeweitet wurde, und stellte ein Experimentierfeld fĂŒr die neue Geschichtsinterpretation dar.12 Daneben waren Stadtgeschichtsforschung, Deutsche Ostexpansion und Geschichte der Westslawen sowie religiöse Bewegungen und HĂ€resien Schwerpunkte der DDR-MediĂ€vistik.13 StaatssekretĂ€r Wilhelm Girnus brachte es bereits 1958 im Rahmen der 3. Hochschulkonferenz der SED unter dem Titel »Perspektiven der Germanistik« auf den Punkt: »In der Deutschen Demokratischen Republik hat das Mittelalter endgĂŒltig ausgespielt, und die Weltanschauung unseres Jahrhunderts ist der dialektische Materialismus.« Die seit der Romantik ĂŒbliche Überbetonung des Mittelalters gleich in mehreren FĂ€chern an UniversitĂ€ten mĂŒsse ein Ende haben: »Die religiös-klerikale Gedanken- und GefĂŒhlswelt des Mittelalters vollends gehören ins Museum wie Kettenpanzer und Lanze.«14
Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft im Westen, wo man im Prinzip davon ausging, dass das Hochschulsystem im Wesentlichen gut aufgestellt sei und nach dem Vorbild der Humboldt’schen UniversitĂ€tsidee auch wiederhergestellt werden sollte,15 wurde befördert von einem massiven Ausbau der UniversitĂ€tslandschaft in den 1960er und 70er Jahren. In keinem Zeitabschnitt zuvor stieg die Zahl der UniversitĂ€ten so stark an. Diese Erweiterung hatte ihren Hintergrund zum einen Teil in einer heftig gefĂŒhrten bildungspolitischen Diskussion, die Bildung als wirtschaftlichen Standortfaktor begriff und rasch von der Politik absorbiert wurde, und zum anderen Teil mit der grĂ¶ĂŸeren Nachfrage nach StudienplĂ€tzen der geburtenstarken Nachkriegsgeneration. Dem wurde aber weniger durch Einrichtung klassischer UniversitĂ€ten Rechnung getragen, sondern durch Regional- und Spezialhochschulen, die sich auf Schwerpunkte konzentrierten. Das kam vielen lokalen politischen und wirtschaftlichen Interessen entgegen, zumal in der Bundesrepublik Deutschland die UniversitĂ€ten unter die Kulturhoheit der BundeslĂ€nder fallen. Die volle personelle Einrichtung dieser ReformuniversitĂ€ten zog sich oft ĂŒber Jahre hin, nicht alle FĂ€cher waren vertreten, die Zusammensetzung der FakultĂ€ten war mitunter experimentell. So ergab sich der Zwang, kreativ zu kooperieren und interdisziplinĂ€r zu arbeiten. Gerade diese neuen Hochschulen wurden zu Innovationszentren in Forschung und Lehre, wĂ€hrend sich die alten UniversitĂ€ten ihrer Tradition verpflichtet fĂŒhlten.
Gab es nach dem Zweiten Weltkrieg in der BRD 16 UniversitĂ€ten und in der DDR sechs, so waren es kurz vor der Wende 1989 in der BRD 244 Hochschulen und 54 in der DDR. Nach der Wiedervereinigung erfolgte ein Konzentrationsprozess. In Österreich vermehrte sich die Zahl von drei UniversitĂ€ten bis Anfang der 1990er Jahre auf zwölf. Danach kamen ab 1994 noch Fachhochschulen und seit 2007 neun PĂ€dagogische Hochschulen hinzu. Nur in der Schweiz blieb die Anzahl der kantonalen UniversitĂ€ten fast gleich.
Inhaltlich geschah im Gesamtfach nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Hinwendung zur Zeitgeschichte eine Aufarbeitung des Nationalsozialismus und seiner Vorgeschichte. Bedeutend im Kalten Krieg war der Ausbau des Faches osteuropĂ€ische Geschichte. Damit einher ging eine Abkehr von der nationalen und europĂ€ischen Geschichtssicht. Allerdings gehörte der Osten schon zu den favorisierten Forschungsthemen des Dritten Reiches. Das Aufkommen der Strukturgeschichte förderte die Abspaltung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom klassischen Fach. Gerade an den neu eingerichteten UniversitĂ€ten konnten diese Felder prosperieren. »Der deutlichste Wandel spiegelt sich in den unsicher und vorsichtig gewordenen Einstellungen gegenĂŒber der Nation und damit der Nationalgeschichte wie auch in der Haltung gegenĂŒber der Bonner Republik und der Demokratie wider.«16 Hier wird die grĂ¶ĂŸte VerĂ€nderung zur Zwischenkriegszeit deutlich: »TatsĂ€chlich ist unbestreitbar, daß die deutschen Historiker nach 1945 die demokratische Neuordnung in jener Geschlossenheit begrĂŒĂŸt haben, in der sie sie nach 1918/19 angegriffen haben.«17
Im Bereich der mittelalterlichen Geschichte Ànderte sich an der historistischen Ausrichtung bis zum Beginn der 1960er Jahre noch nichts Wesentliches. Das hÀngt mit einem Grundprinzip seit dem 19. Jahrhundert zusammen, das nun vollends zum Tragen kam.
»Die traditionelle deutsche Auffassung von Geschichtswissenschaft, die ĂŒblicherweise mit dem Begriff Historismus umschrieben wird, hat sich unter den deutschen Historikern nicht oder zumindest nicht kraft ihrer ĂŒberlegenen wissenschaftlichen QualitĂ€t und schon gar nicht aufgrund ihrer angeblichen politischen Funktion durchgesetzt, sondern vornehmlich deshalb, weil ihre BegrĂŒnder es verstanden, eine treue Gefolgschaft heranzuziehen und fortlaufend mit den wichtigsten Positionen des Faches zu betrauen, so daß Außenseiter von vornherein ausgeschlossen wurden oder isoliert blieben.«18
Die Rolle der MediĂ€vistik im Nationalsozialismus ist auch deshalb bis heute nicht ausreichend reflektiert. Es gab eine starke personelle KontinuitĂ€t, die meist mit fachlicher Kompetenz begrĂŒndet wurde. Auffallend an den verschiedenen Nachkriegsbiographien ist aber, dass die Netzwerke aus der Zeit des Nationalsozialismus weiter einwandfrei funktioniert zu haben scheinen.
Oft wird zur ErklĂ€rung des Zustands ein Generationenkonzept der um 1900 Geborenen bemĂŒht. Dabei geht es um die Erinnerungsgemeinschaft der Weltkriegsteilnehmer und der Kriegsjugendgeneration, die direkt oder indirekt ein Fronterlebnis hatten.19 Schon in der Zwischenkriegszeit lehnten viele MediĂ€visten die Republik ab und blieben Monarchisten, unter denen der Deutschnationalismus weit verbreitet war. So begrĂŒĂŸten viele bedeutende österreichische Historiker den â€șAnschlussâ€č von 1938 als ErfĂŒllung des deutschen Nationalstaates. Insgesamt blieben selbst spĂ€ter fĂŒhrende MediĂ€visten dem Nationalsozialismus bis zum Schluss treu ergeben, einige wurden im Rahmen der Aktion Sonderelbe Wissenschaft ab 1943 sogar vom Wehrdienst befreit.20 Bei dieser Aktion ging es um die Erhaltung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses fĂŒr die ungewisse Zeit nach dem Krieg, denn fĂŒr Vertreter der weniger kriegswichtigen FĂ€cher war es ansonsten schwer, unabkömmlich gestellt zu werden.21 Insgesamt acht Professoren aus der Alten, Mittleren und Neuen Geschichte wurde dieses Privileg zuteil.22 Viele prĂ€gten den Wissenschaftsbetrieb noch lange mit, bis sie am Ende der 1960er Jahre heftig kritisiert wurden.23
Ein wesentlicher Einschnitt erfolgte erst im Zuge der Studentenbewegung von 1968, als an den UniversitÀten die Ordinarienstruktur, mangelnde Demokratie und fehlende Selbstreflexion kritisiert wurden. Die marxistische Ideologiekritik wurde im Westen als universitÀ...

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