Epochenwende
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Epochenwende

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Epochenwende

About this book

Der Westen scheint im Wandel begriffen und die Verheißung des ewigen Wachstums lĂ€sst zunehmend an Leuchtkraft nach. Diese Beobachtung nimmt der renommierte Soziologe Meinhard Miegel zum Anlass, ein grundlegendes Umdenken in Politik und Wirtschaft zu fordern. Nur ein Abschied vom Mythos des ewigen Wachstums ermögliche es Deutschland und Europa, die nötigen Reformen in die Wege zu leiten. Vermehrt mĂŒsse auf SolidaritĂ€t, Nachhaltigkeit und Angemessenheit geachtet werden. Schonungslos und klarsichtig richtet Miegel seinen Blick auf die westliche Misere, bietet aber gleichzeitig konstruktive LössungsvorschlĂ€ge. Ein ebenso wichtiges wie erhellendes Buch.-

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Information

WACHSTUMSMYTHOS – WOHLSTANDSWAHN

Ideale im Wandel

Die Geschichte der EuropĂ€er ist eine Geschichte abrupter BrĂŒche, grundlegender Neuorientierungen und Kehrtwendungen. WĂ€hrend des ganzen Mittelalters, etwa vom 5. bis zum 15. Jahrhundert, hatten sie mit dem Christentum eine Religion verinnerlicht, die, stĂ€rker noch als andere Hochreligionen, alles Diesseitige gering erachtete und sich ganz am Jenseitigen orientierte. Materielle GĂŒter erschienen auf dem Weg zum Heil hinderlich. Besser war es, sich auf das Notwendigste zu beschrĂ€nken. Was nicht unabweisbar zum Lebensunterhalt benötigt wurde, sollte der Verherrlichung Gottes dienen. PrĂ€chtige Sakralbauten, Kirchen und Klöster, die oft von bedĂŒrftigen GlĂ€ubigen errichtet wurden, kĂŒnden bis heute von diesem Geist.
Er schwand mit dem Anbruch der Neuzeit, mit Renaissance und Reformation. Unter RĂŒckgriff auf antikes Gedankengut wandten sich die bis dahin so jenseitig orientierten EuropĂ€er nunmehr Diesseitigem mit einer Ausschließlichkeit zu, wie dies zuvor wohl noch keine Zivilisation getan hatte. Die Konflikte, die mit diesem Wechsel der Sichtweise einhergingen, waren betrĂ€chtlich. Eine Zeit lang schien es, als zerbrĂ€chen die EuropĂ€er an ihnen. Doch schließlich lösten sie sie. Von den sieben Tagen der Woche stellten sie sechs in den Dienst Mammons. Ein Tag blieb den alten Gottesdiensten gewidmet. Dann verwiesen sie alles Religiöse in den Privatbereich. Wer wollte, konnte jetzt die ganze Woche, das ganze Jahr ĂŒber materielle Wohlstandsmehrung betreiben. Inzwischen ist der christliche Wertekanon, der rund ein Jahrtausend lang die EuropĂ€er prĂ€gte, fĂŒr die meisten nur noch eine ferne Erinnerung. Und oft nicht einmal mehr das. Das Leben gehört ungeteilt und ungeschmĂ€lert Diesseitigem. Es kreist um die Befriedigung materieller BedĂŒrfnisse.
Nirgendwo offenbart sich das Scheitern des Christentums brutaler als hier. Der irdische Ankerpunkt dieser Religion, Jesus von Nazareth, lebte und lehrte völlige materielle BedĂŒrfnislosigkeit. In wenigen Punkten sind die biblischen Berichte ĂŒber ihn so eindeutig wie in diesem. Vermutlich wĂ€chst er in Ă€rmlichen VerhĂ€ltnissen auf. Anders als die FĂŒchse, die ihre Höhlen, und die Vögel, die ihre Nester haben, hat er noch nicht einmal eine StĂ€tte, wo er sein Haupt hinlegen kann (MatthĂ€us 8, 20). Das aber ist fĂŒr ihn kein Anlass zur Klage. Vielmehr erwartet er von seinen JĂŒngern eine Ă€hnliche BedĂŒrfnis- und Mittellosigkeit. Sie sollen sich weder Goldnoch Silber- noch KupfermĂŒnzen verschaffen noch einen Ranzen fĂŒr die Reise, ebenso wenig Schuhe oder einen zweiten Leibrock (Mt 10, 10). »Macht euch doch keinen Kummer wegen des Morgen«, ermuntert Jesus seine JĂŒnger, »der morgige Tag wird schon fĂŒr sich selbst sorgen« (Mt 6, 34).
Wer diese und Ă€hnliche Aussagen als Ausdruck der UnbekĂŒmmertheit eines antiken Blumenkindes interpretiert, verfehlt den Wesenskern des Christentums. Dessen Distanzierung von materiellen GĂŒtern ist grundsĂ€tzlich. Wo solche SchĂ€tze sind, da ist nĂ€mlich auch das Herz des Menschen (Mt 6, 21). Der Mensch aber kann keinen zwei Herren dienen. Er muss sich entscheiden zwischen Gott und dem Mammon (Mt 6, 24). Dabei wird der Kluge um des Himmelreiches willen sein GrundstĂŒck aufgeben (Mt 19, 29), seinen Acker verkaufen und auf all sein Hab und Gut verzichten (Mt 13, 44). Denn eher gelangt ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel (Mt 19, 24). Beim Wohlhabenden fĂ€llt »das Wort« unter Dornen (Mt 13,22). Wer vollkommen sein will, verzichtet auf allen Besitz und folgt Jesus nach (Mt 19, 23). Im Übrigen ist es ohnehin sinnlos, auf Erden SchĂ€tze zu sammeln, wo Motten und Rost daran zehren und Diebe einbrechen und stehlen (Mt 6, 19).
Die frĂŒhe Kirche nahm diese Aussagen im Allgemeinen recht ernst, was nicht zuletzt fĂŒr Jahrhunderte zu einer gewissen LĂ€hmung wirtschaftlicher AktivitĂ€ten beigetragen haben dĂŒrfte. Zwar erwarb sie im Laufe der Zeit Grund und Boden sowie sonstigen Besitz. Doch sie betrachtete diese Erwerbungen als bloßes Lehen Gottes, vor allem aber als Voraussetzung der ArmenfĂŒrsorge. Die Sorge fĂŒr Arme war fĂŒr sie tĂ€tige NĂ€chstenliebe – das zweite wirtschaftsrelevante Postulat des Neuen Testaments neben dem weitestgehenden Verzicht auf materielle GĂŒter.
Diese tĂ€tige NĂ€chstenliebe, die Sorge fĂŒr die Armen, war der Sprengsatz, der in das hohe und strenge GemĂ€uer des Armutspostulats die breite Bresche riss, durch die die Christenheit im ausgehenden Mittelalter aus der kirchlichen Ordnung ausbrach, um sich weltlichen, namentlich wirtschaftlichen Dingen zuzuwenden. GestĂŒtzt auf das Argument, materielle GĂŒter und deren Mehrung mĂŒssten Gott gefallen, weil nur so den Armen wirksam geholfen werden könne, ging ein Ruck durch Europa – stĂ€rker im Westen, schwĂ€cher im Osten.
Im Wirken des Reformators Luther ist diese Entwicklung geradezu modellhaft nachzuvollziehen. Zu Beginn betrachtet er wertschöpfende Arbeit als ethisch neutral. Sie ist wie Essen und Trinken weder gut noch schlecht. In einer nachfolgenden Phase ist sie fĂŒr ihn Ausdruck von NĂ€chstenliebe und ihre Vermeidung ein Verstoß gegen diese. In seiner SpĂ€tzeit schließlich sieht Luther in der ErfĂŒllung innerweltlicher Pflichten den einzigen Weg, um Gott wohlzugefallen. Sein Zeitgenosse Calvin geht mitsamt seiner puritanischen Bewegung noch weiter. Wer nicht arbeitet, sĂŒndigt. Der nach Gewinn strebende Mensch erfreut Gott. Reichtum und Besitz sind ethisch nicht verwerflich. Verwerflich ist nur deren Genuss. Materielle GĂŒter zu schaffen und sie nicht zu genießen gehört hingegen zum Höchsten, was der Mensch zu erreichen vermag.
Von hier bis zum ungehemmten Genussmaterialismus unserer Tage war es nicht weit. Was sollte die ganze GĂŒtermehrung zum Wohle des NĂ€chsten? War sich nicht jeder selbst der NĂ€chste? Nach und nach löste sich die mental-sittliche Verbindung von GĂŒtermehrung und NĂ€chstenliebe auf. Die Mehrung materieller GĂŒter zur Steigerung des individuellen Wohls wurde zur neuen gesellschaftlichen Leitidee. Sie bedurfte keiner Rechtfertigung oder BegrĂŒndung mehr. Das christliche Armutspostulat hatte ausgedient. Die Bahn war frei fĂŒr das auf Wirtschaftswachstum und materiellen Wohlstand fixierte Europa, wie wir es heute kennen. ZwangslĂ€ufig war diese Entwicklung nicht. Es hĂ€tte auch anders kommen können.

PrÀgungen

Alle Lebewesen werden von ihrer Umwelt geprĂ€gt. Wie weit solche PrĂ€gungen gehen können, hat der Verhaltensforscher Konrad Lorenz schon vor einem halben Jahrhundert eindrucksvoll gezeigt. Nachdem er sich schlĂŒpfenden GraugĂ€nsen vom ersten Augenblick an als »Leittier« zur VerfĂŒgung gestellt hatte, folgten sie nur ihm. Andere GraugĂ€nse bedeuteten ihnen nichts.
Auch Menschen sind vielfĂ€ltig geprĂ€gt. Das beginnt mit der Sprache der ersten Lebensjahre, die nicht nur Zunge und Kehlkopf, sondern auch spĂ€tere Denkmuster formt, und setzt sich fort in unterschiedlichsten Zu- und Abneigungen, Wertund Unwerturteilen. Was macht einen EuropĂ€er zum EuropĂ€er, einen Briten zum Briten oder einen Franzosen zum Franzosen? PrĂ€gungen. Warum lieben die einen Klassik und die anderen Pop? Weil sie so geprĂ€gt worden sind. Was ist Heimat? Abermals das Ergebnis von PrĂ€gungen, die so oder anders sein können. Wer am grauen Meer aufgewachsen ist, fĂŒhlt sich nicht selten ein Leben lang nur da richtig wohl. Nicht anders ergeht es den Kindern der Berge. Nur da geht ihnen das Herz auf.
PrĂ€gungen umfassen aber noch mehr. Die Menschen des Westens sind seit langem geprĂ€gt von stĂ€ndigem Wachstum in fast allen Lebensbereichen. Es wuchs nicht nur ihre eigene Zahl. Noch stĂ€rker wuchs die Zahl der Wohnungen, der Automobile, der Straßenkilometer – einfach alles. Viele können sich eine Welt ohne Wachstum kaum noch vorstellen. Wachstum ist fĂŒr sie eine unverzichtbare Voraussetzung fĂŒr das Funktionieren der Wirtschaft, der sozialen Sicherungssysteme und der politischen Ordnung. Selbst das individuelle Wohlbefinden hĂ€ngt fĂŒr sie von Wachstum ab. Ohne Wachstum, befĂŒrchten Politiker, seien westliche Gesellschaften unregierbar. Oder wie eine große deutsche Volkspartei in ihrem Programm schnörkellos erklĂ€rt: »Ohne Wachstum ist alles nichts.« 80
Menschen frĂŒherer Zeiten hĂ€tten fĂŒr eine solche Sichtweise kein VerstĂ€ndnis gehabt. Sie durchlebten die Jahrhunderte, ohne dass sich viel verĂ€nderte, und folglich waren sie auch nicht von VerĂ€nderungs–, von Wachstumsvorstellungen geprĂ€gt. Die Masse wollte leben »nach alter VĂ€ter Sitte«, und sie war stolz darauf, wenn ihr das halbwegs gelang. VerĂ€nderungen, wie sie unvermeidlich mit Wachstumsprozessen einhergehen, waren ihr verdĂ€chtig. Sie fĂŒrchtete sie.
Die UmprĂ€gung, die die EuropĂ€er im ausgehenden Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit erfuhren, dĂŒrfte zu den grĂ¶ĂŸten Transformationen und zugleich Ironien der Menschheitsgeschichte gehören. Da macht sich eine Gesellschaft auf den Weg, um – idealiter – durch Verzicht und Askese, die BeschrĂ€nkung auf das Notwendige und die GeringschĂ€tzung materieller GĂŒter bis dahin unerreichte geistige Höhen zu erklimmen – oder, in der Sprache jener Zeit: Gott wohlzugefallen – und dadurch die ewige Seligkeit zu erlangen. Und sie endet in einer Welt des fast ausschließlich Materiellen, des Massenwohlstands, des Genusses und des materiellen Überflusses.
Die RadikalitĂ€t dieser UmprĂ€gung offenbart ein Blick in einen etwas Ă€lteren Beichtspiegel der katholischen Kirche. Was noch vor einigen Jahrzehnten als SĂŒnde galt, gilt heute als Tugend: Geiz, Habsucht, Eitelkeit. Was vormals als Tugend angesehen wurde, ist jetzt Dummheit: Ehrlichkeit, Selbstlosigkeit, Bescheidenheit. Ein krasserer Wandel ist kaum denkbar. Im 15. Jahrhundert litt Jakob Fugger II., einer der bedeutendsten Vertreter des FrĂŒhkapitalismus in Deutschland, ob seines Reichtums noch Höllenqualen. Er sah sich auf ewig vom Himmel ausgeschlossen und versuchte durch gute Werke – die Fuggerei zum Wohle bedĂŒrftiger BĂŒrger und die Fuggerkapelle in Augsburg stehen noch heute – Gnade zu erlangen. Diejenigen, die in seine Schuhe schlĂŒpften, kannten derartige Skrupel nicht mehr. Ihre ReichtĂŒmer konnten gar nicht groß genug sein, und kaum einer bangte, durch sie sein Seelenheil zu verspielen.

Wendepunkte

StĂ€ndiges Wachstum in fast allen Lebensbereichen, namentlich die Mehrung materieller GĂŒter, hat den Westen so tief geprĂ€gt, dass jedes Hinterfragen dieser PrĂ€gung abwegig oder zumindest befremdlich erscheint. Oft wird sie ĂŒberhaupt nicht mehr als PrĂ€gung wahrgenommen. Wie Deutsche, Italiener oder Spanier geneigt sind zu glauben, wie sie sich verhalten, verhalte man sich eben, und wer sich nicht so verhalte, verhalte sich abnorm, so betrachten die Völker des Westens Expansion als einen gewissermaßen natĂŒrlichen Prozess und Stagnation oder gar Kontraktion als dessen Störung. Stagnation bezeichnen sie explizit als WachstumsschwĂ€che, Kontraktion als negatives Wachstum. Das VerstĂ€ndnis dafĂŒr, dass Stagnation und Kontraktion genauso »natĂŒrlich« sind wie Expansion, ist weithin verloren gegangen. Dabei zeigt die uns umgebende Wirklichkeit, dass alle drei ein genau austariertes GefĂŒge bilden, aus dem ein dauerhafter Ausbruch nicht möglich ist.
Das macht die PrĂ€gung des Westens ĂŒberaus problematisch. Denn letztlich fußt sie auf etwas objektiv Unmöglichem. Ob sich das Universum bis in alle Ewigkeit ausdehnen kann, ist noch nicht abschließend geklĂ€rt. GeklĂ€rt ist hingegen, dass auf unserer endlichen Erde nichts immerfort wĂ€chst. Dass BĂ€ume nicht in den Himmel wachsen, wusste schon der Volksmund. Die Wissenschaft hĂ€lt ungezĂ€hlte weitere Belege bereit. Erreicht der Schalldruck den AtmosphĂ€rendruck, wird Krach zur Stille – bei 194 Dezibel. Regentropfen, die zu Boden fallen, sind nie grĂ¶ĂŸer als neun Millimeter. Was grĂ¶ĂŸer ist, zerplatzt im Fall. Luftbewegungen können höchstens eine Geschwindigkeit von 520 Stundenkilometern erreichen. Dann ist Schluss. 81 Die Liste derartiger Beispiele ist lang. Sie alle zeigen: In der Natur ist nichts unendlich. Grenzen des Wachstums in Abrede zu stellen zeugt nur von Unwissen. Sinnvoll kann immer nur gefragt werden, wann Wachstum zum Stillstand kommt, nicht, ob dies jemals geschehen wird.
Diese Feststellung ist nicht Ausdruck von Wachstumsskeptizismus und erst recht keine Wachstumskritik, sondern nur die Anerkenntnis der Bedingungen irdischer Existenz. Menschen, die von der Erfahrung anhaltenden Wachstums geprĂ€gt sind, fĂ€llt diese Anerkenntnis jedoch schwer. Viele halten es beispielsweise fĂŒr ein UnglĂŒck, dass die Einwohnerschaft von StĂ€dten und Gemeinden nach jahrhundertelanger Zunahme jetzt in einigen Regionen Europas zurĂŒckgeht. GemeindevĂ€ter und -mĂŒtter hoffen, dass ihnen dieses Schicksal erspart bleibt. Sie setzen auf Wachstum. Noch 1990 glaubten manche Politiker, Berlin werde in absehbarer Zeit zehn Millionen Einwohner zĂ€hlen. Das Ziel des wachsenden Hamburg ist bis heute nicht aufgegeben. Köln kĂ€mpfte lange verbissen und schließlich erfolgreich um eine Einwohnerschaft von einer Million. Ähnliche Ziele werden in ganz Europa verfolgt.
Auf die Frage nach dem Sinn solcher Zielsetzungen gibt es meist nur verschwommene Antworten. Von allem mehr zu haben, auch mehr Menschen, ist fĂŒr viele ein Wert an sich. Was diesem Mehr zuwiderlĂ€uft, ist in ihren Augen eine Krise. Die bekannteste dieser Krisen ist die Wachstumskrise. Sie wird flankiert von einer BeschĂ€ftigungskrise, einer Krise der öffentlichen Haushalte, einer Zahlungskrise, einer Investitionskrise, einer Wertekrise. Es gibt nur noch wenig, was sich nicht in einer Krise befindet. Gleichzeitig werden die Krisen immer lĂ€nger. In einigen europĂ€ischen LĂ€ndern – so eine verbreitete Sichtweise – befindet sich die Wirtschaft, vor allem die Bauwirtschaft, schon seit einem Jahrzehnt und lĂ€nger in der Krise. Das sagt alles.
Die Krisen nehmen kein Ende und hören damit auf, Krisen zu sein. Denn Krisen sind keine ZustĂ€nde, sondern Zeitpunkte, in denen ein neuer Kurs eingeschlagen wird – Wendepunkte. Von da an geht es anders weiter als bisher. Europa befindet sich an einem solchen Wendepunkt. Doch noch sperren sich viele EuropĂ€er, die Wende zu vollziehen. Ihre ĂŒberkommenen PrĂ€gungen hindern sie daran. Zwar sehen sie, dass vieles anders ist als frĂŒher. Aber sie halten die VerĂ€nderungen fĂŒr eine Störung des Normalen und begreifen nicht, dass dies die neue NormalitĂ€t ist.
Diese neue NormalitĂ€t entspringt, wie die vorangegangene, dem Wirken von Menschen. Deshalb kann und muss sie von Menschen gestaltet werden. Und wie die vorangegangene, so ist auch die neue NormalitĂ€t voller Ungereimtheiten, WidersprĂŒche und Fehlentwicklungen. Ihnen ist Rechnung zu tragen. Das Ă€ndert jedoch nichts daran, dass die EuropĂ€er wie die Völker aller frĂŒhindustrialisierten LĂ€nder zur Kenntnis nehmen mĂŒssen, dass der Strom der Geschichte eine andere Richtung eingeschlagen hat. Sie tĂ€ten sich um vieles leichter, wenn sie nicht stĂ€ndig versuchten, in der bisherigen Richtung weiterzurudern.

Angebot und Nachfrage

Kurz nach Öffnung des Eisernen Vorhangs luden deutsche Unternehmer sowjetische Kombinatsdirektoren ein, sich im Westen mit marktwirtschaftlichen Managementmethoden vertraut zu machen. Der Kursus sollte vier Wochen dauern. Doch schon nach wenigen Tagen begannen die GĂ€ste zu murren. Die deutschen Instruktoren kannten zunĂ€chst nicht den Grund, bis einer der Kombinatsdirektoren erklĂ€rte: Seit unserer Ankunft hören wir immer nur, wie wir unsere Produkte am besten vermarkten können. Das ist nicht unser Problem. Unser Problem ist, dass wir nicht wissen, woher wir die Produkte nehmen sollen. Dazu haben wir bisher kein Wort gehört.
Zwei Welten waren aufeinander geprallt. Jemandem erklĂ€ren zu mĂŒssen, wie GĂŒter erzeugt werden, war den Deutschen nicht in den Sinn gekommen. Sie lebten in einer Welt permanenten Überflusses. In dieser Welt lautete die entscheidende Managementfrage: Wie schlagen wir Produkte – Waren und Dienste – gewinnbringend los? Und ihnen gegenĂŒber saßen Angehörige einer Welt permanenter VersorgungsengpĂ€sse. Gelang es in dieser Welt, dreißig Paar Herrenschuhe, alle gleich, GrĂ¶ĂŸe 43, an ein Warenhaus zu liefern, konnte man gewiss sein, dass sie innerhalb kĂŒrzester Zeit vergriffen sein wĂŒrden. Die Menschen kauften, ob sie die Schuhe brauchten oder nicht. Irgendjemand wĂŒrde sich schon finden, der fĂŒr sie Verwendung haben wĂŒrde.
In der gesamten Wachstumsdebatte, die seit Jahrzehnten nicht nur in Europa, sondern weltweit gefĂŒhrt wird, wird dieser Frage viel zu wenig Raum gegeben: Lahmt das Wirtschaftswachstum, weil die Produktion oder weil der Absatz stockt?
Bei reichlich der HĂ€lfte der Menschheit stockt die Produktion. Ihr fehlen das Wissen oder das Kapital oder die Rohstoffe und zumeist alles zusammen, um einen breiten GĂŒterstrom fließen zu lassen. Ihre Wertschöpfung ist so gering, dass die ErwerbstĂ€tigen im Durchschnitt nicht einmal zwei Euro verdienen – am Tag. FĂŒr etwa 3,5 Milliarden Menschen ist von brennender AktualitĂ€t nicht was sie morgen, sondern was sie heute essen und trinken, wie sie sich heute kleiden und behausen sollen.
Die Völker der frĂŒhindustrialisierten LĂ€nder und einiger weiterer Regionen stehen vor genau der entgegengesetzten Herausforderung. Auf die Frage, was fĂŒr sie das grĂ¶ĂŸte wirtschaftliche Risiko sei, antworteten vier von fĂŒnf deutschen Managern: abnehmende Nachfrage. 82 Risiken bei der Produktion, LieferengpĂ€sse und dergleichen spielten hingegen nur eine untergeordnete Rolle. Zwar gibt es das alles gelegentlich auch im Westen. Aber wirkliche Sorgen bereitet es nicht. Wird es bei den KapazitĂ€ten einmal eng, werden sie schnell erweitert. Das ist eine rein betriebliche Angelegenheit. FĂŒr die Volkswirtschaft ist es kein Thema.
Ungleich hĂ€ufiger als KapazitĂ€tsengpĂ€sse sind ÜberkapazitĂ€ten. Welche ungenutzten Reserven in den Volkswirtschaften des Westens schlummern, zeigte sich bei der deutschen Wiedervereinigung. Wer gemeint hatte, dass fĂŒr den Aufbau des in jedweder Hinsicht darniederliegenden Ostens und fĂŒr die Versorgung der dortigen Bevölkerung vom Papiertaschentuch bis zum Pkw, vom Dachziegel bis zum Großgenerator erhebliche zusĂ€tzliche Produktionsanlagen erforderlich seien, hatte sich geirrt. Rund 16 Millionen Ostdeutsche ließen sich weitgehend aus den vorhandenen KapazitĂ€ten der 64 Mi...

Table of contents

  1. Titel
  2. Kolophon
  3. Inhalt
  4. VORBEMERKUNG
  5. PROLOG
  6. KONFLIKTE
  7. WACHSTUMSMYTHOS – WOHLSTANDSWAHN
  8. DIE ZUKUNFT GEWINNEN
  9. SCHLUSSBEMERKUNG
  10. DANKSAGUNG
  11. ABKÜRZUNGEN
  12. BIBLIOGRAPHIE
  13. ÜberEpochenwende
  14. Anmerkungen