Arbeit am Kindeswohl
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Arbeit am Kindeswohl

Soziale Arbeit, Schule und Justiz in Kooperation

Dieter Haller, Dieter Haller

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Arbeit am Kindeswohl

Soziale Arbeit, Schule und Justiz in Kooperation

Dieter Haller, Dieter Haller

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FachkrĂ€fte der Sozialen Arbeit, Lehrerinnen und Lehrer sowie die Justiz stehen regelmĂ€ĂŸig vor der Herausforderung, transdisziplinĂ€r das Wohl von Kindern sicherzustellen. Wie solche Kooperationen im Netzwerk der Institutionen, der Familien und weiterer nicht-professioneller Akteure gelingen können, zeigt dieses Buch forschungsbasiert fĂŒr die Hilfesysteme in der Schweiz und in Deutschland. Dabei wird die Arbeit am Kindeswohl als transdisziplinĂ€re Aufgabe anhand von empirisch untersuchten FallverlĂ€ufen im Kinderschutz vorgestellt. Außerdem thematisieren die Autorinnen und Autoren die Rahmenbedingungen des Kinderschutzes in Deutschland und der Schweiz mit einem Augenmerk auf die gesetzlichen Grundlagen sowie die Beziehungsgestaltung zu betroffenen Eltern und Kindern. Auch die besondere Bedeutung der Schule fĂŒr den Kinderschutz wird erörtert.

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Information

Year
2022
ISBN
9783170412804
Teil II Vertiefungen

9 Das Erleben und Handeln betroffener Elternteile – Zur Bedeutung der Beziehungsgestaltung zwischen Professionellen und Elternteilen

Birgit Kalter

Was Eltern konkret im Verlauf einer Maßnahme zur Abwendung von GefĂ€hrdungen fĂŒr ihr Kind tun und wie sie im Zusammentreffen mit FachkrĂ€ften agieren, ist unterschiedlich. Ihr Tun steht im Zusammenhang mit den Eigenarten eines komplexen BedingungsgefĂŒges und erhĂ€lt dadurch seinen je individuellen Aufdruck. Vom Einzelfall abstrahiert lĂ€sst sich das Handeln der Eltern dennoch entlang von Unterschieden typisieren. Auf Basis der mit Elternteilen gefĂŒhrten Interviews werden mit Widersetzen, Dulden, Instrumentalisieren und Kooperieren vier Typen des Elternhandelns sichtbar.
Sie zeigen grundlegende PrĂ€gungen, denen das Handeln der Eltern unterliegt, und eröffnen in Bezug auf konkrete, durchaus Mischformen aufweisende EinzelfĂ€lle die Möglichkeit des Vergleichs, um Erkenntnisse ĂŒber EinzelfĂ€lle in der Praxis zu bereichern (
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Kap. EinfĂŒhrung).
Wie also erleben Elternteile das Geschehen zur Abwendung einer GefÀhrdung des Wohls ihres Kindes? Was kennzeichnet konkret ihre Situation? Und wie bringen sich Eltern in das Geschehen ein?
Frau A. ist (zum Zeitpunkt des Interviews) seit einem dreiviertel Jahr als Mutter von einer Maßnahme zur Abwendung einer KindeswohlgefĂ€hrdung betroffen. Im Interview schildert Frau A., dass ihr Alltag und das Zusammenleben mit der elfjĂ€hrigen Tochter L. zunehmend schwieriger geworden waren. Immer hĂ€ufiger kam es zu Streitereien zwischen Mutter und Tochter, bis die Situation letztlich eskalierte, sie ihre Tochter geschlagen habe, was eine Inobhutnahme der Tochter durch das Jugendamt zur Folge hatte. Seitdem lebt die Tochter in einer Heimeinrichtung. Nach anfĂ€nglicher Kontaktsperre besucht Frau A. ihre Tochter mittlerweile regelmĂ€ĂŸig in der Einrichtung und steht mit den FachkrĂ€ften im Austausch. Auch wenn Frau A. nicht alle Ansichten der FachkrĂ€fte teilt, nutzt sie die GesprĂ€chsangebote der FachkrĂ€fte, um ihre Situation und die Beziehung zur Tochter zu thematisieren. Sie resĂŒmiert: »Durch die Spannung war ich ĂŒberlastet, bin wieder krank geworden und war viel mit mir selber beschĂ€ftigt. Und damit ist L. dann nicht mehr klargekommen.«
Heute steht Frau A. hinter der Maßnahme und – »auch wenn es schwer ist« – hinter der Vereinbarung, dass die Tochter vorerst in der Einrichtung verbleibt. Sie sieht den rĂ€umlichen Abstand zwischen Mutter und Tochter sowohl mit Entlastung der Tochter von der Sorge um die Mutter ebenso verbunden wie mit Vorteilen fĂŒr die schulische Entwicklung der Tochter.
Mit ihren Schilderungen gewĂ€hrt Frau A. Einblick in ihren Alltag und in jenes Geschehen, das zum behördlichen Eingreifen fĂŒhrte. Sie deutet ihre eigene Auseinandersetzung mit den Geschehnissen sowie die Auseinandersetzung mit FachkrĂ€ften an und schildert Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen ebenso wie VerĂ€nderungen in Bezug auf die Mutter-Tochter-Beziehung. Damit spricht Frau A. unterschiedliche Erfahrungsbereiche an, die miteinander und sich wechselseitig beeinflussend verknĂŒpft sind:
‱ Der alltĂ€gliche Lebensvollzug, der sozusagen jene lĂ€ngerfristigen Kontextbedingungen der Familie bildet, die das Kinderschutzgeschehen rahmen
‱ Die Zuspitzung der Situation als das der Maßnahme zugrundeliegende Auslösungsgeschehen
‱ Die Elternteil-FachkrĂ€fte-Interaktion bzw. das Zusammenwirken von Familie und FachkrĂ€ften
‱ Die kognitiv-emotionale Auseinandersetzung des Elternteils mit den Geschehnissen
‱ Die Konsequenzen im Sinne von VerĂ€nderungen, die in Zusammenhang mit dem Zusammenwirken von Elternteil/Familie und FachkrĂ€ften stehen
Im Folgenden werden (1) diese Erfahrungsfelder aufgegriffen und die darin jeweils relevanten Kategorien und deren Spannweiten an Eigenschaften aufgezeigt. Daran anschließend werden (2) die widersetzenden, duldenden, instrumentalisierenden und kooperierenden Typen des Elternhandelns charakterisiert und (3) die – mit den Typen des Elternhandelns korrespondierenden – Muster an Kontext- und Interaktionsbedingungen und Ergebnissen dargelegt. Abschließend werden (4) Konsequenzen und Hinweise fĂŒr die Praxis im Sinne eines Ausblicks thematisiert.

9.1 FĂŒnf Erfahrungsfelder des Kinderschutzgeschehens

In der Perspektive der Elternteile ist das Wohl des Kindes eingebettet in das Alltagsgeschehen und in den alltĂ€glichen Lebensvollzug der Familie. Explizit zum Thema wird das Kindeswohl allerdings erst im Zuge von Geschehnissen, die Ausgangspunkt fĂŒr behördliche Einmischung bzw. fĂŒr Einmischung von FachkrĂ€ften in den Alltag der Familie bilden. Als Prozess gesehen, bleibt das Thema Kindeswohl ab dann virulent sowohl im Alltagsleben als auch in der kognitiv-emotionalen Auseinandersetzung des Elternteils mit dem Zusammenwirken mit FachkrĂ€ften und mit die familiĂ€ren Beziehungen und den Alltag beeinflussenden Konsequenzen (
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Abb. 9.1).

Der alltÀgliche Lebensvollzug

Abb. 9.1 zeigt (links im Bild) die von Elternteilen vorrangig thematisierten, das eigene Handeln formende Bedingungen. Vom Elternteil beschrieben wird die alltĂ€gliche Praxis der Familie, die auch als Familienalltag oder Familienkultur bezeichnet werden kann. PrĂ€gende Kennzeichen der Alltagspraxis von Familien sind die Familienkonstellation sowie die personalen, auch gesundheitlichen Ressourcen der Familienakteure. Als ebenso prĂ€gend thematisiert werden die Bedingungen der materiellen Versorgungssituation der Familie, ihre Möglichkeiten der sozialen Teilhabe und Vorerfahrungen vor allem mit Institutionen und Behörden. Die prĂ€genden Kennzeichen der Alltagspraxis insgesamt bilden den Kontext fĂŒr das vom Elternteil erlebte Maß an Belastung und seine subjektive Problem- und Bedarfsdefinition.
FĂŒr die alleinerziehende Frau A. ist das Zusammenleben mit der Tochter zentrales Element ihres Lebens. Auf Transferleistungen angewiesen leben Mutter und Tochter in beengten WohnverhĂ€ltnissen. Zugunsten ihrer Tochter verzichtet Frau A. auf ein eigenes, RĂŒckzug erlaubendes Zimmer. Sie schlĂ€ft in der Wohnstube, die gleichzeitig zentraler Raum des Zusammenlebens ist: Hier wird gemeinsame Zeit verbracht, ferngesehen, gekuschelt. Frau A. kann sich »keine großen SprĂŒnge leisten«, sucht aber das Beste aus der Situation zu machen und der Tochter ein gutes Leben zu ermöglichen. Den VerselbstĂ€ndigungsbestrebungen der Tochter und den Beschwerden ĂŒber deren Verhalten von Seiten der Schule sieht sich Frau A. angesichts eigener gesundheitlicher BeeintrĂ€chtigungen immer weniger gewachsen und immer mehr ĂŒberfordert.
Das interviewte Elternteil ist Teil einer Familiensituation mit eigener Konstellation (Anzahl der Personen, der Kinder und deren Alter, vollstĂ€ndig oder unvollstĂ€ndig zusammenlebend etc.). Es ist Teil einer Familienbiografie von unterschiedlicher Dauer und mit mehr oder weniger Konstanz bzw. BrĂŒchen bspw. durch Trennung oder Scheidung. Das Elternteil, die Eltern selbst verfĂŒgen ĂŒber eine persönliche Ausstattung an Ressourcen/Defiziten in Bezug auf Ausbildung, Erwerbssituation, Gesundheit, LeistungsfĂ€higkeit, welche Einfluss nimmt auf die materielle Ausstattung der Familie und damit auch auf die materielle Versorgungssituation des Kindes/der Kinder. Die materielle Versorgungssituation eröffnet der Familie mehr oder weniger eingeschrĂ€nkte Möglichkeiten bspw. in Bezug auf Wohnraumausstattung, Auswahl der Wohnlage und Teilhabe am sozialen Leben. Kurz gesagt: Die Versorgungssituation der Familie unterliegt einer (gesicherten vs. prekĂ€ren) persönlichen und materiellen Ausstattung, welche die StabilitĂ€t und Absicherung des Alltags sowie der Wahlmöglichkeiten der Familie und der einzelnen Familienmitglieder beeinflusst. Einen zentralen Stellenwert nimmt dabei die Gesundheit der Familienmitglieder ein: Dauer und IntensitĂ€t gesundheitlicher BeeintrĂ€chtigungen einzelner Familienmitglieder berĂŒhren teils die materielle Ausstattung. Sie nehmen Einfluss auf die subjektiven Belastungen des Elternteils ebenso wie auf das Alltagsgeschehen der Familie.
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Abb. 9.1: Felder des Kinderschutzgeschehens aus Perspektive von Elternteilen
Tages- und Wochenstrukturierungen, familiĂ€re Rituale und gemeinsame Unternehmungen bilden Merkmale einer familieneigenen Praxis, in die das Elternteil eingebunden ist. Wie deutlich sich bspw. gemeinsame Mahlzeiten, abendliche Einschlaf-Rituale und/oder gemeinsame Wochenendunternehmungen im Alltagsgeschehen der Familie niederschlagen, welches Maß an VerlĂ€sslichkeit sie bieten, welche Bedeutung ihnen von Seiten der Familienmitglieder beigemessen wird und wie kongruent die diesbezĂŒglichen Bedeutungsbeimessungen der einzelnen Familienmitglieder sind, formen die Eigenart der familialen Praxis, der familieneigenen Kultur.
Eingebettet ist die Familienpraxis in Wertvorstellungen des Elternteils. »Dass Eltern das Leben in ihrer Familie hoch gewichten und entlang ihrer eigenen EntwĂŒrfe gestalten wollen, bildet einen transkulturell anzutreffenden, sozusagen anthropologisch konstanten Wert.« (
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Kap. 1.2). Welchen Stellenwert Elternhoheit und familiĂ€rer Zusammenhalt fĂŒr das Elternteil einnehmen, was an familiĂ€rer Praxis, an Strukturiertheit, Ritualisierung, Gemeinsamen wieweit gewollt ist, steht eng in Verbindung mit dem elterneigenen Entwurf davon, inwieweit dem Elternteil Familie als Wert per se wichtig ist und/oder wie bewusst, wie umfassend und tiefgehend Elternethos und Elternrolle definiert werden. Die Elternrolle, das Eltern-Sein wird von Elternteilen – mehr oder weniger deckungsgleich mit Vorstellungen und Werten der Mehrheitsgesellschaft – teils beschrĂ€nkt auf »gute Versorgung« und teils darĂŒberhinausgehend assoziiert mit der Eröffnung guter Entwicklungschancen fĂŒr das Kind. Die Elternrolle selbst kann mehr oder weniger klar bzw. diffus, konstant oder labil zum Tragen kommen. Entsprechend ĂŒberformen die Vorstellungen von Elternrolle gleichsam die elterneigenen Erziehungsintentionen. Sie unterscheiden sich vor allem darin, ob sie auf Entwicklung des Kindes intendieren oder primĂ€r auf Anpassung und Wohlverhalten gerichtet sind. Merkmale elterlicher Erziehung, wie bspw. konstruktiv vs. restriktiv; klar, konstant, begleitend vs. diffus, situativ eingreifend, stehen in Verbindung mit Eigenschaften wie bspw. liebevoll vs. lieblos; nah vs. distanziert; zugewandt vs. abgewandt; verstĂ€ndnisvoll vs. vorwurfsvoll; selbstlos vs. instrumentalisierend; einstehend vs. unsolidarisch, welche die Haltung des Elternteils zum Kind charakterisieren.
Ob und inwieweit die bisherige Biografie des Elternteils (im Sinne der Enkulturation) zur Verinnerlichung der Kultur und zur Deckungsgleichheit mit Vorstellungen und Werten der Mehrheitsgesellschaft beigetragen hat, nimmt Einfluss darauf, inwieweit die Familienmitglieder Anteil am sozialen Leben nehmen und soziale Kontakte pflegen. Ausschlaggebend fĂŒr das Maß sozialer Teilhabe und dafĂŒr, ob das Elternteil sich eher isoliert oder eher als aktiven, sozial wirksamen Part erlebt, ist zunĂ€chst, ob es ĂŒberhaupt Zugang zu Gemeinschaft – bspw. zu Religionsgemeinschaften, Vereinen und Arbeitswelt/-kollegen – hat. Des Weiteren spielt eine Rolle, ob das Elternteil in solche und weitere Gemeinschaften wie Peergroups, Freundeskreise, Nachbarschaften aktiv eingebunden ist. Maßgeblich fĂŒr das Situationserleben des Elternteils ist, ob und in welche Gemeinschaften es eingebunden ist und welche Merkmale die Eingebundenheit bzw. der Kontakt in Bezug auf Dauer, VerlĂ€sslichkeit, RegelmĂ€ĂŸigkeit aufweisen. Maßgeblich fĂŒr die Situation der Familie ist, ob Umfang und Art der Eingebundenheit eher neue Möglichkeiten eröffnen oder eher zur BestĂ€tigung und Stagnation gewohnter AblĂ€ufe beitragen bspw. indem sie den Zugang zu AktivitĂ€ten der Mehrheitsgesellschaft erleichtern oder ihn erschweren.
Dass L. mit gesundheitlichen BeeintrĂ€chtigungen zur Welt gekommen ist, schildert Frau A. als von Beginn an prĂ€gend fĂŒr das Zusammenleben: »Ich hab [
] mir immer Sorgen gemacht und war damit sehr allein. Ich hatte ja keinen, mit dem ich sprechen konnte. Das wĂŒnsche ich keinen Eltern, so allein, so machtlos, so ohnmĂ€chtig davorzustehen.«1
Im Sinne situationsprĂ€gender Erfahrungen werden von Elternteilen frĂŒhere Beziehungen in Bezug auf KontinuitĂ€t, VerlĂ€sslichkeit und in Bezug auf deren emotionalen Gehalt (bspw. als liebevoll, akzeptierend vs. missachtend, unterdrĂŒckend, demĂŒtigend) thematisiert. Gleichsam prĂ€gend schildern Elternteile die QualitĂ€t frĂŒherer Familienphasen (mit oder ohne mehr oder weniger stĂŒtzende, verlĂ€ssliche soziale Netze, Partnerschaft, Verwandte, Freundeskreise). Daneben – und vor allem den Umgang mit der Maßnahme prĂ€gend – s...

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