Amerika
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About this book

Der 17-jährige Karl Roßmann wird von seinen Eltern in die USA geschickt, da er von einem Dienstmädchen "verführt" wurde und dieses nun ein Kind von ihm bekommen hat. Im Hafen von New York angekommen, trifft er noch auf dem Schiff einen reichen Onkel, der ihn zu sich nimmt und von dessen Reichtum Karl nun lebt. Doch bald verstößt der Onkel den Jungen, als Karl die Einladung eines Geschäftsfreundes des Onkels zu einem Landhausbesuch eigenmächtig annimmt. Der ohne Aussprache vom Onkel auf die Straße gesetzte Karl lernt zwei Landstreicher kennen, einen Franzosen und einen Iren, die sich seiner annehmen, freilich immer zum Nachteil von Karl. Wegen des Iren verliert er eine Anstellung als Liftjunge in einem riesigen Hotel mit bedrückenden Arbeitsbedingungen. Anschließend wird er in einer Wohnung, die die beiden Landstreicher mit der fetten älteren Sängerin Brunelda teilen, gegen seinen Willen als Diener angestellt und ausgenutzt.

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Information

Ein Asyl

Es mußte wohl eine entlegene Vorstadtstraße sein, in der das Automobil haltmachte, denn ringsherum herrschte Stille, am Trottoirrand hockten Kinder und spielten. Ein Mann mit einer Menge alter Kleider über den Schultern rief beobachtend zu den Fenstern der Häuser empor. In seiner Müdigkeit fühlte sich Karl unbehaglich, als er aus dem Automobil auf den Asphalt trat, den die Vormittagssonne warm und hell beschien.
»Wohnst du wirklich hier?« rief er ins Automobil hinein.
Robinson, der während der ganzen Fahrt friedlich geschlafen hatte, brummte irgendeine undeutliche Bejahung und schien darauf zu warten, daß Karl ihn hinaustragen werde.
»Dann habe ich hier also nichts mehr zu tun. Leb wohl«, sagte Karl und machte sich daran, die ein wenig sich senkende Straße abwärts zu gehen.
»Aber Karl, was fällt dir denn ein?« rief Robinson und stand schon vor lauter Sorge ziemlich aufrecht, nur mit noch etwas unruhigen Knien, im Wagen.
»Ich muß doch gehen«, sagte Karl, der der raschen Gesundung Robinsons zugesehen hatte.
»In Hemdärmeln?« fragte dieser.
»Ich werde mir schon noch einen Rock verdienen«, antwortete Karl, nickte Robinson zuversichtlich zu, grüßte mit erhobener Hand und wäre wirklich fortgegangen, wenn nicht der Chauffeur gerufen hätte: »Noch einen kleinen Augenblick Geduld, mein Herr!«
Es zeigte sich unangenehmerweise, daß der Chauffeur noch Ansprüche auf eine nachträgliche Bezahlung stellte, denn die Wartezeit vor dem Hotel war noch nicht bezahlt.
»Nun ja«, rief aus dem Automobil Robinson in Bestätigung der Richtigkeit dieser Forderung, »ich habe ja dort so lange auf dich warten müssen. Etwas mußt du ihm noch geben.«
»Ja, freilich«, sagte der Chauffeur.
»Ja, wenn ich nur noch etwas hätte«, sagte Karl und griff in die Hosentaschen, obwohl er wußte, daß es nutzlos war.
»Ich kann mich nur an Sie halten«, sagte der Chauffeur und stellte sich breitbeinig auf, »von dem kranken Mann dort kann ich nichts verlangen.«
Vom Tor her näherte sich ein junger Bursch mit zerfressener Nase und hörte aus einer Entfernung von einigen Schritten zu. Gerade machte durch die Straße ein Polizeimann die Runde, faßte mit gesenktem Gesicht den hemdärmeligen Menschen ins Auge und blieb stehen.
Robinson, der den Polizeimann auch bemerkt hatte, machte die Dummheit, aus dem anderen Fenster ihm zuzurufen: »Es ist nichts, es ist nichts!«, als ob man einen Polizeimann wie eine Fliege verscheuchen könnte. Die Kinder, welche den Polizeimann beobachtet hatten, wurden nun durch sein Stillstehen auch auf Karl und den Chauffeur aufmerksam und liefen im Trab herbei. Im Tor gegenüber stand eine alte Frau und sah starr hinüber.
»Roßmann!« rief da eine Stimme aus der Höhe. Es war Delamarche, der das vom Balkon des letzten Stockwerks rief. Er selbst war nur schon recht undeutlich gegen den weißlich blauen Himmel zu sehen, hatte offenbar einen Schlafrock an und beobachtete mit einem Operngucker die Straße. Neben ihm war ein roter Sonnenschirm aufgespannt, unter dem eine Frau zu sitzen schien. »Halloh!« rief er mit größter Anstrengung, um sich verständlich zu machen, »ist Robinson auch da?«
»Ja«, antwortete Karl, von einem zweiten, viel lauteren »Ja« Robinsons aus dem Wagen kräftig unterstützt.
»Halloh!« rief es zurück, »ich komme gleich!«
Robinson beugte sich aus dem Wagen. »Das ist ein Mann«, sagte er, und dieses Lob Delamarches war an Karl gerichtet, an den Chauffeur, an den Polizeimann und an jeden, der es hören wollte. Oben auf dem Balkon, den man aus Zerstreutheit noch ansah, obwohl ihn Delamarche schon verlassen hatte, erhob sich nun unter dem Sonnenschirm tatsächlich eine starke Frau in rotem, taillenlosem Kleid, nahm den Operngucker von der Brüstung und sah durch ihn auf die Leute hinunter, die nur allmählich die Blicke von ihr wandten. Karl sah in Erwartung Delamarches in das Haustor und weiterhin in den Hof, den eine fast ununterbrochene Reihe von Geschäftsdienern durchquerte, von denen jeder eine kleine, aber offenbar sehr schwere Kiste auf der Achsel trug. Der Chauffeur war zu seinem Wagen getreten und putzte, um die Zeit auszunutzen, mit einem Fetzen die Wagenlaternen. Robinson befühlte seine Gliedschmerzen, schien erstaunt über die geringen Schmerzen zu sein, die er trotz größter Aufmerksamkeit fühlen konnte, und begann vorsichtig, mit tief geneigtem Gesicht, einen der dicken Verbände am Bein zu lösen. Der Polizeimann hielt sein schwarzes Stöckchen quer vor sich und wartete still, mit der großen Geduld, die Polizeileute haben müssen, ob sie nun im gewöhnlichen Dienst oder auf der Lauer sind. Der Bursche mit der zerfressenen Nase setzte sich auf einen Torstein und streckte die Beine von sich. Die Kinder näherten sich Karl allmählich mit kleinen Schritten, denn dieser schien ihnen, obwohl er sie nicht beachtete, wegen seiner blauen Hemdärmel der Wichtigste von allen zu sein.
An der Länge der Zeit, die bis zur Ankunft Delamarches verging, konnte man die große Höhe dieses Hauses ermessen. Und Delamarche kam sogar sehr eilig, mit nur flüchtig zugezogenem Schlafrock. »Also, da seid ihr!« rief er erfreut und streng zugleich. Bei seinen großen Schritten enthüllte sich stets für einen Augenblick seine farbige Unterkleidung. Karl begriff nicht ganz, warum Delamarche hier, in der Stadt, in der riesigen Mietskaserne, auf der offenen Straße, so bequem angezogen herumging, als sei er in seiner Privatvilla. Ebenso wie Robinson hatte auch Delamarche sich sehr verändert. Sein dunkles, glatt rasiertes, peinlich reines, von roh ausgearbeiteten Muskeln gebildetes Gesicht sah stolz und respekteinflößend aus. Der grelle Schein seiner jetzt immer etwas zusammengezogenen Augen überraschte. Sein violetter Schlafrock war zwar alt, fleckig und für ihn zu groß, aber aus diesem häßlichen Kleidungsstück bauschte sich oben eine mächtige, dunkle Krawatte aus schwerer Seide.
»Nun?« fragte er alle insgesamt. Der Polizeimann trat ein wenig näher und lehnte sich an den Motorkasten des Automobils. Karl gab eine kleine Erklärung.
»Robinson ist ein wenig marod, aber wenn er sich Mühe gibt, wird er schon die Treppen hinaufgehen können; der Chauffeur hier will noch eine Nachzahlung zum Fahrgeld, das ich schon bezahlt habe. Und jetzt gehe ich. Guten Tag.«
»Du gehst nicht«, sagte Delamarche.
»Ich habe es ihm auch schon gesagt«, meldete sich Robinson aus dem Wagen.
»Ich gehe doch«, sagte Karl und machte ein paar Schritte. Aber Delamarche war schon hinter ihm und schob ihn mit Gewalt zurück.
»Ich sage, du bleibst!« rief er.
»Aber laßt mich doch«, sagte Karl und machte sich bereit, wenn es nötig sein sollte, mit den Fäusten sich die Freiheit zu verschaffen, so wenig Aussicht auf Erfolg gegenüber einem Mann wie Delamarche auch war. Aber da stand doch der Polizeimann, da war der Chauffeur, hie und da gingen Arbeitergruppen durch die sonst freilich ruhige Straße; würde man es denn dulden, daß ihm von Delamarche ein Unrecht geschehe? In einem Zimmer hätte er mit ihm nicht allein sein wollen, aber hier? Delamarche zahlte jetzt ruhig dem Chauffeur, der unter vielen Verbeugungen den unverdient großen Betrag einsteckte und aus Dankbarkeit zu Robinson ging und mit diesem offenbar darüber sprach, wie er am besten herausbefördert werden könnte. Karl sah sich unbeobachtet, vielleicht duldete Delamarche ein stillschweigendes Fortgehen leichter; wenn Streit vermieden werden konnte, war es natürlich am besten, und so ging Karl einfach in die Fahrbahn hinein, um möglichst rasch wegzukommen. Die Kinder strömten zu Delamarche, um ihn auf Karls Flucht aufmerksam zu machen, aber er mußte selbst gar nicht eingreifen, denn der Polizeimann sagte mit vorgestrecktem Stabe: »Halt!«
»Wie heißt du?« fragte er, schob den Stab unter den Arm und zog langsam ein Buch hervor. Karl sah ihn jetzt zum erstenmal genauer an, es war ein kräftiger Mann, hatte aber schon fast ganz weißes Haar.
»Karl Roßmann«, sagte er.
»Roßmann«, wiederholte der Polizeimann, zweifellos nur, weil er ein ruhiger und gründlicher Mensch war, aber Karl, der es hier eigentlich zum erstenmal mit amerikanischen Behörden zu tun bekam, sah schon in dieser Wiederholung das Aussprechen eines gewissen Verdachtes. Und tatsächlich konnte seine Sache nicht gut stehen, denn selbst Robinson, der doch so sehr mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt war, bat aus dem Wagen heraus mit stummen lebhaften Handbewegungen den Delamarche, er möge Karl doch helfen. Aber Delamarche wehrte ihn mit hastigem Kopfschütteln ab und sah untätig zu, die Hände in seinen übergroßen Taschen. Der Bursche auf dem Türstein erklärte einer Frau, die jetzt erst aus dem Tore trat, den ganzen Sachverhalt von allem Anfang an. Die Kinder standen in einem Halbkreis hinter Karl und sahen still zum Polizeimann hinauf.
»Zeig deine Ausweispapiere«, sagte der Polizeimann. Das war wohl nur eine formelle Frage; denn wenn man keinen Rock hat, wird man auch nicht viel Ausweispapiere bei sich haben. Karl schwieg deshalb, um lieber auf die nächste Frage ausführlich zu antworten und so den Mangel der Ausweispapiere möglichst zu vertuschen.
Aber die nächste Frage war: »Du hast also keine Ausweispapiere?« und Karl mußte antworten: »Bei mir nicht.«
»Das ist aber schlimm«, sagte der Polizeimann, sah nachdenklich im Kreise umher und klopfte mit zwei Fingern auf den Deckel seines Buches. »Hast du irgendeinen Verdienst?« fragte der Polizeimann schließlich.
»Ich war Liftjunge«, sagte Karl.
»Du warst Liftjunge, bist es also nicht mehr, und wovon lebst du denn jetzt?«
»Jetzt werde ich mir eine neue Arbeit suchen.«
»Ja, bist du denn entlassen worden?«
»Ja, vor einer Stunde.«
»Plötzlich?«
»Ja«, sagte Karl und hob wie zur Entschuldigung die Hand. Die ganze Geschichte konnte er hier nicht erzählen, und wenn es auch möglich gewesen wäre, so schien es doch ganz aussichtslos, ein drohendes Unrecht durch Erzählung eines erlittenen Unrechts abzuwehren. Und wenn er sein Recht nicht von der Güte der Oberköchin und von der Einsicht des Oberkellners erhalten hatte, von der Gesellschaft hier auf der Straße hatte er es gewiß nicht zu erwarten.
»Und ohne Rock bist du entlassen worden?« fragte der Polizeimann.
»Nun ja«, sagte Karl; also auch in Amerika gehörte es zur Art der Behörden, das, was sie sahen, noch eigens zu fragen. (Wie hatte sein Vater bei der Beschaffung des Reisepasses über die nutzlosen Fragereien der Behörden sich ärgern müssen!) Karl hatte große Lust wegzulaufen, sich irgendwo zu verstecken und keine Fragen mehr anhören zu müssen. Und nun stellte gar der Polizeimann jene Frage, vor der sich Karl am meisten gefürchtet und in deren unruhiger Voraussicht er sich bisher wahrscheinlich unvorsichtiger benommen hatte, als es sonst geschehen wäre.
»In welchem Hotel warst du denn angestellt?«
Er senkte den Kopf und antwortete nicht, auf diese Frage wollte er unbedingt nicht antworten. Es durfte nicht geschehen, daß er, von einem Polizeimann eskortiert, wieder ins Hotel Occidental zurückkäme, daß dort Verhöre stattfanden, zu denen seine Freunde und Feinde beigezogen würden, daß die Oberköchin ihre schon sehr schwach gewordene gute Meinung über Karl gänzlich aufgab, da sie ihn, den sie in der Pension Brenner vermutete, von einem Polizeimann aufgegriffen, in Hemdärmeln, ohne ihre Visitenkarte, zurückgekehrt fand, während der Oberkellner vielleicht nur voll Verständnis nicken und der Oberportier dagegen von der Hand Gottes sprechen würde, die den Lumpen endlich gefunden habe.
»Er war im Hotel Occidental angestellt«, sagte Delamarche und trat an die Seite des Polizeimannes.
»Nein«, rief Karl und stampfte mit dem Fuße auf, »es ist nicht wahr!« Delamarche sah ihn mit spöttisch zugespitztem Munde an, als könne er noch ganz andere Dinge verraten. Unter die Kinder brachte die unerwartete Aufregung Karls große Bewegung, und sie zogen zu Delamarche hin, um lieber von dort aus Karl genau anzusehen. Robinson hatte den Kopf völlig aus dem Wagen gesteckt und verhielt sich vor Spannung ganz ruhig; hie und da ein Augenzwinkern war seine einzige Bewegung. Der Bursche im Tor schlug in die Hände vor Vergnügen, die Frau neben ihm gab ihm einen Stoß mit dem Ellbogen, damit er ruhig sei. Die Gepäckträger hatten gerade Frühstückspause und erschienen sämtlich mit großen Töpfen schwarzen Kaffees, in dem sie mit Stangenbroten herumrührten. Einige setzten sich auf den Trottoirrand, alle schlurften den Kaffee sehr laut.
»Sie kennen wohl den Jungen?« fragte der Polizeimann den Delamarche.
»Besser, als mir lieb ist«, sagte dieser. »Ich habe ihm seinerzeit viel Gutes getan, er aber hat sich dafür sehr schlecht bedankt, was Sie wohl, selbst nach dem ganz kurzen Verhör, das Sie mit ihm angestellt haben, leicht begreifen werden.«
»Ja«, sagte der Polizeimann, »er scheint ein verstockter Junge zu sein.«
»Das ist er«, sagte Delamarche, »aber es ist das noch nicht seine schlechteste Eigenschaft.«
»So?« sagte der Polizeimann.
»Ja«, sagte Delamarche, der nun im Reden war und dabei mit den Händen in den Taschen seinen ganzen Mantel in schwingende Bewegung brachte, »das ist ein feiner Hecht. Ich und mein Freund dort im Wagen, wir haben ihn zufällig im Elend aufgegriffen, er hatte damals keine Ahnung von amerikanischen Verhältnissen, er kam gerade aus Europa, wo man ihn auch nicht hatte brauchen können; nun, wir schleppten ihn mit uns, ließen ihn mit uns leben, erklärten ihm alles, wollten ihm einen Posten verschaffen, dachten, trotz allen Anzeichen, die dagegen sprachen, noch einen brauchbaren Menschen aus ihm zu machen, da verschwand er einmal in der Nacht, war einfach weg, und das unter Begleitumständen, die ich lieber verschweigen will. War es so oder nicht?« fragte Delamarche schließlich und zupfte Karl am Hemdärmel.
»Zurück, ihr Kinder!« rief der Polizeimann, denn diese hatten sich so weit vorgedrängt, daß Delamarche fast über eines gestolpert wäre. Inzwischen waren auch die Gepäckträger, die bisher die Interessantheit dieses Verhörs unterschätzt hatten, aufmerksam geworden und hatten sich in dichtem Ring hinter Karl versammelt, der nun auch nicht einen Schritt hätte zurücktreten können und überdies unaufhörlich in den Ohren das Durcheinander der Stimmen dieser Gepäckträger hatte, die in einem gänzlich unverständlichen, vielleicht mit slawischen Worten untermischten Englisch mehr polterten als redeten.
»Danke für die Auskunft«, sagte der Polizeimann und salutierte vor Delamarche. »Jedenfalls werde ich ihn mitnehmen und dem Hotel Occidental zurückgeben lassen.« Aber Delamarche sagte: »Dürfte ich die Bitte stellen, mir den Jungen vorläufig zu überlassen, ich hätte einiges mit ihm in Ordnung zu bringen. Ich verpflichte mich, ihn dann selbst ins Hotel zurückzuführen.«
»Das kann ich nicht tun«, sagte der Polizeimann.
Delamarche sagte: »Hier ist meine Visitenkarte«, und reichte ihm ein Kärtchen.
Der Polizeimann sah es anerkennend an, sagte aber, verbindlich lächelnd: »Nein, es ist vergeblich.«
So sehr sich Karl bisher vor Delamarche gehütet hatte, jetzt sah er in ihm die einzig mögliche Rettung. Es war zwar verdächtig, wie sich dieser beim Polizeimann um Karl bewarb, aber jedenfalls würde sich Delamarche leichter als der Polizeimann bewegen lassen, ihn nicht ins Hotel zurückzuführen. Und selbst wenn Karl an der Hand des Delamarche ins Hotel zurückkam, so war es viel weniger schlimm, als wenn es in Begleitung des Polizeimannes geschah. Vorläufig aber durfte natürlich Karl nicht zu erkennen geben, daß er tatsächlich zu Delamarche wollte, sonst war alles verloren. Und unruhig sah er auf die Hand des Polizeimannes, die sich jeden Augenblick erheben konnte, um ihn zu fassen.
»Ich müßte doch wenigstens erfahren, warum er plötzlich entlassen worden ist«, sagte schließlich der Polizeimann, während Delamarche mit verdrießlichem Gesicht beiseite sah und die Visitenkarte zwischen den Fingerspitzen zerdrückte.
»Aber er ist doch gar nicht entlassen!« rief Robinson zu allgemeiner Überraschung und beugte sich, auf den Chauffeur gestützt möglichst weit aus dem Wagen. »Im Gegenteil, er hat ja dort einen guten Posten. Im Schlafsaal ist er der Oberste und kann hineinführen, wen er will. Nur ist er riesig beschäftigt, und wenn man etwas von ihm haben will, muß man lange warten. Immerfort steckt er beim Oberkellner, bei der Oberköchin und ist Vertrauensperson. Entlassen ist er auf keinen Fall. Ich weiß nicht, warum er das gesagt hat. Wie kann er denn entlassen sein? Ich habe mich im Hotel schwer verletzt, und da hat er den Auftrag bekommen, mich nach Hause zu schaffen, und weil er gerade ohne Rock war, ist er eben ohne Rock mitgefahren. Ich konnte nicht noch warten, bis er den Rock holt.«
»Nun also«, sagte Delamarche mit ausgebreiteten Armen, in einem Ton, als werfe er dem Polizeimann Mangel an Menschenkenntnis vor, und diese seine zwei Worte schienen in die Unbestimmtheit der Aussage Robinsons eine widerspruchslose Klarheit zu bringen.
»Ist das aber auch wahr?« fragte der Polizeimann schon schwächer. »Und wenn es wahr ist, warum gibt der Junge vor, entlassen zu sein?«
»Du sollst antworten«, sagte Delamarche.
Karl sah den Polizeimann an, der hier zwischen fremden, nur auf sich selbst bedachten Leuten Ordnung schaffen sollte, und etwas von seinen allgemeinen Sorgen ging auch auf Karl über. Er wollte nicht lügen und hielt die Hände fest verschlungen auf dem Rücken.
In dem Tore erschien ein Aufseher und klatschte in die Hände, zum Zeichen, daß die Gepäckträger wieder an ihre Arbeit gehen sollten. Sie schütteten den Bodensatz aus ihren Kaffeetöpfen und zogen verstummend mit schwankenden Schritten ins Haus.
»So kommen wir zu keinem Ende«, sagte der Polizeimann und wollte Karl am Arm fassen. Karl wich unwillkürlich noch ein wenig zurück, fühlte den freien Raum, der sich ihm infolge des Abmarsches der Gepäckträger eröffnet hatte, wandte sich um und setzte sich unter einigen großen Anfangssprüngen in Lauf. Die Kinder brachen in einen einzigen Schrei aus und liefen mit ausgestreckten Ärmchen ein paar Schritte mit.
»Haltet ihn!« rief der Polizeimann die lange, fast leere Gasse hinab und lief unter gleichmäßigem Ausstoßen dieses Rufes in geräuschlosem, große Kraft und Übung verratendem Lauf hinter Karl her. Es war ein Glück für Karl, daß die Verfolgung in einem Arbeiterviertel stattfand. Die Arbeiter halten es nicht mit den Behörden. Karl lief mitten in der Fahrbahn, weil er dort die wenigsten Hindernisse hatte, und sah nun hie und da auf dem Trottoir Arbeiter stehenbleiben und ihn ruhig beobachten, während der Polizeimann ihnen sein »Haltet ihn!« zurief und in seinem Lauf, er hielt sich klugerweise auf dem glatten Trottoir, unaufhörlich den Stab gegen Karl hin ausstreckte. Karl hatte wenig Hoffnung und verlor sie fast ganz, als der Polizeimann nun, da sie sich Quergassen näherten, die gewiß auch Polizeipatrouillen enthielten, geradezu betäubende Pfiffe ausstieß. Karls Vorteil war lediglich seine leichte Kleidung, er flog, oder besser stürzte, die sich immer mehr senkende Straße hinab, nur machte er, zerst...

Table of contents

  1. Titel
  2. Der Heizer
  3. Der Onkel
  4. Ein Landhaus bei New York
  5. Weg nach Ramses
  6. Hotel Occidental
  7. Der Fall Robinson
  8. Ein Asyl
  9. Das Naturtheater von Oklahoma
  10. Fragmente