Mit den Augen des Westens
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Mit den Augen des Westens

About this book

Rasumow, der unglückliche Held dieser zum Teil auf historischen Vorkommnissen fußenden Geschichte, der nichts als Russe ist, muß selber zum Verstehenden werden; darauf weist bereits die Bedeutung seines Namens im Russischen und im Polnischen. "Ein gewöhnlicher junger Mensch", der, unehelicher Sohn eines Fürsten, ohne jede menschliche Bindung, nur auf sein Studium, seine Karriere bedacht ist. Der Fanatiker Haldin, der einen Minister ermordet hat, macht ihn in naivem Vertrauen zum Mitwisser, beansprucht seine Hilfe und besiegelt damit beider Geschick. Rasumow, besorgt um die Ordnung des öffentlichen und des eigenen Lebens, verrät ihn und ist nun selbst aus aller Ordnung geworfen. Er wird im Dienst der Gegenspionage nach Genf geschickt und dort von den Verschwörern im Exil als einer der ihren angesehen. Im Innersten erschüttert von der Begegnung mit Natalic Haldin, der Schwester des Verratenen, die an die Frieden und Versöhnung stiftende Kraft der Revolution glaubt, offenbart er sich ihr und den Verschwörern, erduldet er grausame Rache, erlangt er Sühne. Schuld und Sühne: 'Mit den Augen des Westens' ist Conrads verschlüsselte Antwort auf Dostojewskijauch auf Tolstoj. Abermals variiert er sein eigentlichstes Thema: das der Treue. Und auch hier zeigt der "Tragiker des Westens" die Menschen im Bann der Täuschung und auswegloser Isoliertheit - seltsame Charaktere, pittoreske Figuren, Prototypen, bewegt in dichter Atmosphäre und hoher Spannung.

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Information

Teil 1

Kapitel 1

Der Anfang von Rasumoffs Erinnerungen ist mit einem Ereignis verknüpft, wie es für das moderne Rußland charakteristisch ist: mit der Ermordung eines hervorragenden Staatsmannes und noch charakteristischer für die moralische Korruption einer unterdrückten Gesellschaft, in der die edelsten Triebe des Menschen, der Freiheitsdrang, glühende Vaterlands- und Gerechtigkeitsliebe, das Mitleid und sogar die feste Treue schlichter Gemüter der Willkür von Haß und Furcht preisgegeben sind, den unzertrennlichen Begleitern eines nicht hinreichend gefestigten Despotismus.
Das erwähnte Ereignis ist das gelungene Attentat auf Herrn von P., den Präsidenten der berüchtigten Unterdrückungskommmission, die vor einigen Jahren vom Staatsminister eingesetzt und mit außerordentlicher Macht bekleidet worden war. Die Zeitungen schrieben mehr als genug über jene fanatische schmalbrüstige Erscheinung in goldverschnürter Uniform, mit einem Gesicht wie altes Pergament, ausdruckslosen, bebrillten Augen und dem Großkreuz des Prokopius-Ordens um den faltigen Hals. Eine Zeitlang verging, wie man sich erinnern wird, kein Monat, ohne daß sein Bild in irgendeiner der illustrierten Zeitschriften Europas erschienen wäre. Er diente der Monarchie, indem er Männer und Frauen, junge und alte, ins Gefängnis, in die Verbannung oder zum Galgen schickte, mit ewig gleichem, unerschütterlichem Eifer. In seiner mystischen Verehrung des autokratischen Prinzips hatte er es sich zum Ziel gesetzt, im Lande jedwede Spur davon auszutilgen, was an Freiheit im öffentlichen Leben erinnern konnte, und bei seiner rücksichtslosen Verfolgung der neuen Generation schien er es darauf abgesehen zu haben, sogar die Hoffnung auf Freiheit zu vernichten.
Man erzählt sich, daß dieser vielfach verwünschte Mann nicht Einbildungskraft genug hatte, sich über den Haß klar zu werden, den er erweckte. Es klingt kaum glaublich; und doch ist es eine Tatsache, daß er recht wenig Maßnahmen für seine persönliche Sicherheit traf. In dem Leitartikel einer gewissen bekannten Staatszeitung hat er einmal erklärt, daß »der Freiheitsgedanke in dem Werk des Schöpfers niemals existiert habe. Aus einer Vielheit menschlicher Entschlüsse könne immer nur Auflehnung und Unordnung sich ergeben, und diese seien Sünde in einer Welt, die für Gehorsam und Ordnung geschaffen sei. Nicht Vernunft, sondern Autorität sei der Ausdruck der göttlichen Absicht. Gott sei der Selbstherrscher des Weltalls … « Es mag sein, daß der Mann, der diese Erklärung abgab, glaubte, der Himmel selbst müßte ihn in seinem rücksichtslosen Kampf für die Autokratie auf dieser Welt beschützen.
Zweifellos rettete ihn die Wachsamkeit der Polizei zu verschiedenen Malen. Fest steht aber auch, daß die zuständigen Behörden ihm keine Warnung hatten geben können, als das ihm zugedachte Geschick sich erfüllte. Sie hatten keine Kenntnis von irgendeiner Verschwörung gegen des Ministers Leben; durch ihre üblichen Kanäle war keine Kunde davon gesickert, man hatte keine Anzeichen bemerkt, keine verdächtigen Regungen oder gefährliche Personen.
Herr von P. fuhr in einem offenen, zweispännigen Schlitten nach der Bahnstation, mit Lakai und Kutscher auf dem Bock. Es hatte die ganze Nacht geschneit, und die Straße war zu dieser frühen Stunde noch nicht frei gemacht, so daß die Pferde schwer vorwärts kamen. Der Schnee fiel immer noch in dichten Flocken. Doch der Schlitten mußte genau beobachtet worden sein. Als das Gefährt nach links ausbog, um eine Ecke zu nehmen, bemerkte der Lakai einen Bauern, der langsam auf dem Bürgersteig hinschritt, die Hände in den Taschen seines Pelzrockes und die Schultern im Schneegestöber hochgezogen. Als der Schlitten ihn überholte, fuhr der Bauer plötzlich herum und erhob den Arm. Im Augenblick erfolgte ein furchtbarer Schlag, eine Detonation, die durch das Schneetreiben gedämpft wurde. Beide Pferde lagen tot und verstümmelt auf dem Boden, und der Kutscher war mit einem schrillen Aufschrei tödlich verwundet vom Bock gefallen. Der Lakai, der unverletzt blieb, hatte keine Zeit, sich das Gesicht des Mannes in dem Schafpelz einzuprägen. Dieser entfernte sich, nachdem er die Bombe geschleudert hatte. doch vermutet man, daß er es für klüger gehalten habe, zu dem Ort der Explosion zurückzukehren, da er von allen Seiten eine Menge von Leuten durch das Schneetreiben heraneilen sah.
In unglaublich kurzer Zeit hatte sich eine aufgeregte Masse rings um den Schlitten versammelt. Der Ministerpräsident, ebenfalls unverletzt, war in den tiefen Schnee hinausgetreten, stand neben dem sterbenden Kutscher und sprach zu wiederholten Malen den Leuten mit seiner schwachen, farblosen Stimme zu: »Ich bitte euch, bleibt weg. Um der Liebe Gottes willen bitte ich euch, gute Leute, wegzubleiben.«
In diesem Augenblick trat ein schlanker junger Mensch, der bisher regungslos in einem Torweg zwei Häuser weiter gestanden hatte, in die Straße hinaus, ging rasch ein paar Schritte und schleuderte über die Köpfe der Menge weg eine zweite Bombe. Diese traf den Ministerpräsidenten gerade an der Schulter, während er sich über seinen sterbenden Diener beugte, fiel dann zu seinen Füßen nieder, explodierte mit grauenhafter Gewalt und streckte ihn selbst tot zu Boden, gab dem Verwundeten den Rest und vernichtete den leeren Schlitten in einem Umsehen. Mit einem Schrei des Entsetzens stob die Menge nach allen Richtungen auseinander, mit Ausnahme jener, die tot oder sterbend nächst dem Ministerpräsidenten liegen blieben, und einem oder zwei anderen, die erst niederstürzten, nachdem sie eine kurze Strecke gerannt waren. Die erste Explosion hatte wie durch Hexerei eine Menschenmenge zur Stelle gebracht, die zweite ebenso rasch eine völlige Leere in der Straße geschaffen, für Hunderte von Metern nach jeder Seite hin. Durch den fallenden Schnee blickten Leute von ferne auf den kleinen Haufen von Leichen, die übereinander lagen, neben den beiden Pferdekadavern. Niemand wagte sich in die Nähe, bis ein paar Kosaken von einer Straßenpatrouille angaloppierten, absaßen und die Toten umzuwenden begannen. Unter den unschuldigen Opfern der zweiten Explosion, die man auf den Bürgersteig gebettet hatte, war auch ein Mann in einem bäuerlichen Schafpelz, doch das Gesicht war unkenntlich, in den Taschen seiner ärmlichen Kleidung wurde absolut nichts gefunden, und er war der einzige, dessen Identität niemals festgestellt wurde.
An jenem Tage stand Rasumoff zur gewöhnlichen Stunde auf und verbrachte den Vormittag in der Universität, indem er Vorlesungen hörte und eine Zeitlang in der Bibliothek arbeitete. Bei Tisch in der Mensa academica, wo er sein Mittagsmahl zu nehmen pflegte, hatte er die ersten leisen Andeutungen über irgend etwas wie ein Bombenattentat gehört. Doch diese Andeutungen wurden nur geflüstert, und man war in Rußland, wo es nicht immer rätlich war, besonders für einen Studenten, an gewissen Arten von Geflüster zu viel Anteil zu nehmen; Rasumoff war einer jener Leute, die in einer Periode geistiger und politischer Unruhen leben und dabei instinktiv im normalen, praktischen, alltäglichen Leben Halt suchen. Er war sich der hochgradigen Spannung seiner Zeit bewußt. Er reagierte sogar darauf in unbestimmter Weise; sein Hauptaugenmerk aber war auf seine Arbeit, seine Studien und seine eigene Zukunft gerichtet.
Da er offiziell und tatsächlich keine Familie besaß (denn die Tochter des Erzpriesters war längst tot), so hätten keine äußerlichen Einflüsse auf seine Überzeugungen oder Gefühle einwirken können. Er stand in der Welt so allein wie ein Mann, der auf hoher See schwimmt. Das Wort Rasumoff war nichts als die Spitzmarke für eine einsame Persönlichkeit. Nirgendwo gab es Rasumoffs, die zu ihm gehörten. Seine nächsten verwandtschaftlichen Beziehungen waren mit der Feststellung gegeben, daß er ein Russe war, und diese Beziehung allein konnte ihm alles Gute, was er vom Leben erhoffte, geben oder versagen. Diese ungeheure Verwandtschaft litt unter·inneren Zerwürfnissen. Doch er schreckte instinktiv vor dem Getriebe zurück, so wie ein gutmütiger Mensch davor zurückschrecken mag, in einem heftigen Familienzwist Partei zu nehmen.
Auf dem Heimweg überlegte Rasumoff, daß er nun seine ganze Zeit der Preisarbeit widmen könne, da er mit den Vorarbeiten für die nächste Prüfung fertig sei. Er strebte nach der Silbernen Medaille. Das Unterrichtsministerium hatte einen Preis ausgesetzt, die Namen der Bewerber sollten dem Minister selbst vorgelegt werden. Die bloße Beteiligung mußte höheren Ortes als verdienstvoll angesehen werden, und der Erringer des Preises sollte nach Erlangung des Doktorgrades Anspruch auf eine bessere Anstellung bei der Regierung haben. In einer Anwandlung von Stolz vergaß der Student Rasumoff die Gefahren, die den Bestand der Einrichtungen bedrohten, die Belohnungen und Anstellungen zu vergeben hatten; dachte er aber an den Preisträger des Vorjahres, dann fühlte Rasumoff, der junge Mann ohne irgendwelche Verwandte, sich ernüchtert. Er und einige andere waren zufällig im Zimmer ihres Kameraden anwesend, als diesem gerade die offizielle Verständigung von seinem Erfolg zugestellt wurde. Er war ein ruhiger, anspruchsloser junger Mensch. »Verzeiht«, hatte er gesagt, während er mit einem schwachen Lächeln der Entschuldigung nach seiner Pelzmütze griff, »ich gehe fort und lasse Wein heraufschicken. Zuerst aber muß ich meinen Leuten nach Hause telegraphieren. Ich bin sicher, daß die beiden Alten ein Fest deswegen feiern und die Leute zwanzig Meilen in der Runde zu Gaste laden werden.«
Rasumoff dachte, daß es für ihn nichts dergleichen in der Welt gäbe. Über seinen Erfolg würde sich niemand freuen. Dennoch fühlte er keine Bitterkeit gegen seinen hochadeligen Protektor, der übrigens kein Provinzmagnat war, wie man allgemein annahm. Tatsächlich war es niemand Geringeres als Fürst K., der einst eine große und glänzende Rolle in der Welt gespielt hatte und nun, da seine Zeit um war, als Senator und gichtischer Invalide zwar immer noch glänzend, doch mehr in seine Häuslichkeit zurückgezogen lebte. Er hatte ein paar junge Kinder und eine Frau, die ebenso adelsstolz war wie er selbst.
In seinem ganzen Leben war es Rasumoff nur einmal vergönnt gewesen, mit dem Fürsten in persönliche Berührung zu kommen.
Dies eine Mal trug den Anschein eines zufälligen Zusammentreffens in dem Büro des kleinen Sachwalters. Als Rasumoff sich eines Tages auf eine Einladung dort einfand, sah er einen Fremden vor sich stehen, einen schlanken Mann von aristokratischem Äußeren, mit seidigem, grauem Backenbart. Der kahlköpfige, listige kleine Advokat rief mit leicht ironischer Herzlichkeit: »Treten Sie ein, treten Sie ein, Herr Rasumoff!« Dann wandte er sich ehrfurchtsvoll an den großartigen Fremden mit den Worten: »Mein Mündel, Ew. Exzellenz, einer der meistversprechenden Studenten seiner Fakultät an der St. Petersburger Universität.« Zu seiner maßlosen Überraschung sah Rasumoff, wie sich ihm eine weiße, wohlgeformte Hand entgegenstreckte. Er nahm sie in großer Verwirrung (sie war weich und schlaff) und hörte zur gleichen Zeit ein herablassendes Murmeln, von dem er nur die Worte erfaßte: »erfreulich« und »so fortmachen«. Das Erstaunlichste dabei aber war, daß er plötzlich einen deutlichen Druck der weißen wohlgeformten Hand fühlte, knapp bevor sie zurückgezogen wurde, einen leichten Druck wie ein geheimes Zeichen. Rasumoff wurde dadurch unglaublich erregt. Das Herz schien ihm in die Kehle zu springen. Als er die Augen wieder erhob, hatte die aristokratische Persönlichkeit eben den kleinen Sachwalter zur Seite gewinkt, die Türe geöffnet und war im Hinausgehen.
Der Advokat wühlte eine Zeitlang unter den Papieren auf seinem Tisch. »Wissen Sie, wer das war?« fragte er plötzlich.
Rasumoff, dessen Herz noch immer hart pochte, schüttelte schweigend den Kopf.
»Das war Fürst K. Sie wundern sich, was er in der Bude eines armen Aktenschnüfflers, wie ich es bin, zu tun haben könnte, he? Diese grausam hohen Herrschaften kennen die sentimentale Neugier so gut wie gewöhnliche Sünder. Wenn ich aber Sie wäre, Kyrill Sidorowitsch«, fuhr er fort – mit einem scharfen Seitenblick und eigentümlicher Betonung des ersten Vornamens, »dann würde ich mich dieser Vorstellung nicht weiter rühmen. Das wäre nicht schlau, Kyrill Sidorowitsch, bei Gott nicht! Im Gegenteil, es wäre gefährlich für Ihre Zukunft.«
Dem jungen Menschen brannten die Ohren wie Feuer. Sein Blick war umnebelt. »Dieser Mann«, sagte sich Rasumoff, »Er!« Von da ab wurde es Rasumoff zur Gewohnheit, dieses »Er« zu gebrauchen, wenn er an den Fremden mit dem grauen seidigen Backenbart dachte. Von dieser Zeit an achtete er auch mit besonderer Aufmerksamkeit auf die prachtvollen Pferde und Wagen mit den Lakaien des Fürsten K. auf dem Bock, sooft er sie in den Straßen traf. Einmal sah er die Fürstin aussteigen – sie machte Einkäufe –, von zwei Mädchen gefolgt, von denen das eine fast um einen Kopf größer war als das andere. Ihr blondes Haar hing ihnen offen über den Rücken, nach englischer Art; sie hatten frohe Augen, ihre Pelzjacken, Muffe und kleinen Pelzkappen waren vollkommen gleich, und ihre Wangen und Nasenspitzen hatte die Kälte lustig gerötet. Sie kreuzten gerade vor ihm die Straße, und Rasumoff ging seines Weges weiter und lächelte verstohlen vor sich hin. »Seine« Töchter. Sie waren »Ihm« ähnlich. Der junge Mann fühlte eine warme Sympathie für diese Mädchen, die nie von seiner Existenz erfahren sollten. Heute oder morgen würden sie Generale oder Kammerherren heiraten und wieder Mädel und Buben haben, die vielleicht einmal von ihm hören würden, wenn er ein berühmter alter Professor sein würde, mit vielen Orden, vielleicht ein Geheimrat, eine von den Größen Rußlands und nichts mehr.
Doch ein berühmter Professor war immerhin auch etwas. Die Berühmtheit würde die Spitzmarke Rasumoff zu einem geehrten Namen machen. In der Sehnsucht des Studenten Rasumoff nach Berühmtheit lag nichts Außergewöhnliches. Das wahre Leben eines Mannes beginnt ja erst, wenn er in der Begriffssphäre anderer Menschen in Ehrfurcht oder natürlicher Liebe festen Fuß gefaßt hat. Als er am Tage des Attentats an Herrn von P. nach Hause kam, faßte er den Entschluß, seine volle Kraft für die Silberne Medaille einzusetzen. – Während er langsam in dem dunkeln, schmutzigen Stiegenhaus die vier Stockwerke bis zu seiner Wohnung emporklomm, fühlte er eine feste Siegeszuversicht. Der Name des Gewinners sollte am Neujahrstage in den Zeitungen veröffentlicht werden, und bei dem Gedanken, daß »Er« ihn da höchstwahrscheinlich lesen würde, machte Rasumoff auf der Treppe kurz halt und stieg dann mit einem leisen Lächeln über seine eigene Erregung weiter. »Das sind ja nur Träume«, sagte er sich, »die Medaille ist aber doch ein fester Anfang.«
Mit diesen verheißenden Plänen im Kopfe empfand er die Wärme seines Zimmers doppelt angenehm und ermutigend. »Ich will vier Stunden lang fest arbeiten«, sagte er. Kaum aber hatte er die Tür hinter sich geschlossen, da erschrak er furchtbar. Gegen den landesüblichen, hohen weißen Kachelofen, der durch das Dämmer schimmerte, hob sich ganz schwarz eine merkwürdige Gestalt ab, in einem langen, eng anliegenden, braunen Tuchrock mit einem Gürtel um die Taille, in hohen Stiefeln und mit einer kleinen Astrachanmütze auf dem Kopf. Ein leichtes Grauen schien von dem Fremden auszugehen.
Rasumoff war aufs tiefste bestürzt. Erst als die Gestalt zwei Schritte vortrat und ihn mit ruhiger, ernster Stimme fragte, ob die äußere Tür geschlossen sei, gewann er die Sprache zurück.
»Haldin … Viktor Viktorowitsch, sind Sie es … ? Ja, die Außentür ist gut zu. – Doch das hatte ich wirklich nicht erwartet.«
Viktor Haldin, ein Student, der älter war als die meisten seines Jahrganges an der Universität, war keiner von den Fleißigen. Fast nie sah man ihn in den Vorlesungen. Im Rektorat wurde er als »unruhig« und »ungläubig« geführt – eine sehr üble Klassifikation. Unter seinen Kameraden aber erfreute er sich hohen Ansehens und beeinflußte ihre Gedanken stark. Rasumoff war mit ihm nie vertraut gewesen. Von Zeit zu Zeit waren sie in Versammlungen bei anderen Studenten zusammengetroffen. Einmal hatten sie sogar eine Diskussion miteinander geführt, eine jener Diskussionen über grundlegende Prinzipien, wie die heißköpfige Jugend sie liebt.
Rasumoff wünschte, daß der Mann eine andere Zeit für eine Plauderstunde gewählt hätte. Er fühlte sich in der richtigen Verfassung, die Preisarbeit anzugehen. Da er nun aber Haldin nicht kurzweg hinausweisen konnte, so bequemte er sich zu einem gastfreundlichen Ton und forderte ihn auf, Platz zu nehmen und zu rauchen.
»Kyrill Sidorowitsch«, sagte der andere und warf seine Kappe weg, »wir stehen vielleicht nicht ganz im selben Lager, Ihr Urteil ist mehr philosophisch gefärbt, Sie sind ein Mensch von wenig Worten; ich habe aber niemand getroffen, der die Großmut Ihrer Gefühle anzuzweifeln gewagt hätte. In Ihrem Charakter liegt eine Festigkeit, die ohne Mut nicht denkbar ist.«
Rasumoff fühlte sich geschmeichelt und murmelte verlegen etwas von »sehr erfreut über die gute Meinung«. Da hob Haldin die Hand.
»Das sagte ich zu mir selbst«, fuhr er fort, »während ich mich in dem Holzlager am Fluß unten versteckt hielt; ›er ist ein fester Charakter, dieser junge Mensch‹, sagte ich mir, ›er trägt nicht das Herz auf der Zunge‹. Ihre Zurückhaltung hat mir immer ausgezeichnet gefallen, Kyrill Sidorowitsch. Also versuchte ich, mich Ihrer Adresse zu erinnern, und sehen Sie an, ich hatte Glück. Ihr Dwornik war eben von der Tür fort und sprach mit einem Schlittenkutscher auf der anderen Straßenseite. Ich traf niemand auf den Stiegen, keine Seele. Als ich hier oben ankam, erblickte ich Ihre Wirtin, die aus Ihrem Zimmer kam, doch sie sah mich nicht. Sie ging über den Flur in ihre eigenen Zimmer, und dann schlüpfte ich herein. Ich bin nun seit zwei Stunden hier und erwartete, Sie jeden Augenblick kommen zu hören.«
Rasumoff hatte verwundert zugehört. Bevor er aber den Mund öffnen konnte, fügte Haldin mit langsamer Betonung hinzu: »Ich war es, der heute früh P. beiseite geschafft hat.«
Rasumoff unterdrückte einen Schrei des Entsetzens. Das...

Table of contents

  1. Titel
  2. Teil 1
  3. Teil 2
  4. Teil 3
  5. Teil 4