Der Totschläger
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Der Totschläger

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Protagonistin des Romans ist die junge Wäscherin Gervaise Macquart, die zu Beginn der Handlung von ihrem Liebhaber Auguste Lantier verlassen wird. Er nimmt ihr ganzes Geld mit und hinterlässt als einziges Andenken die beiden gemeinsamen Söhne Claude und Etienne. Gervaise, eine tugendhafte und fleißige, aber nunmehr bettelarme Wäscherin, heiratet daraufhin den ehrbaren, aber recht lebenslustigen Zinkarbeiter Coupeau.

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Information

Kapitel 1

Gervaise hatte Lantier bis zwei Uhr morgens erwartet. In leichter Nachtjacke der scharfen Luft des geöffneten Fensters ausgesetzt, zitterte sie vor Kälte. Endlich war sie entschlummert, quer über das Bett gestreckt, fiebernd und die Wangen von Tränen genetzt. Seit acht Tagen schickte er sie und die Kinder beim Verlassen des Gasthauses »Zum zweiköpfigen Kalbe«, wo sie aßen, zu Bett und erschien erst sehr spät in der Nacht wieder; er erzählte dann, daß er Arbeit suche. Als sie heute abend seine Rückkehr erspähte, glaubte sie ihn gesehen zu haben; er trat in den Tanzsaal »Zum großen Balkon«, dessen zehn strahlend helle Fenster ein breites Lichtfeld auf den dunklen Straßenzug des äußeren Boulevard warfen; und fünf bis sechs Schritte hinter ihm hatte sie die kleine Adele bemerkt, eine Plätterin, die in ihrem Restaurant aß; diese schlenkerte mit ihren Händen, als ob sie eben seinen Arm habe fahren lassen, um nicht mit ihm zusammen unter den hellen Gaslichtern in die Tür zu treten.
Als Gervaise gegen fünf Uhr, steif vom Frost und die Lenden von Übermüdung wie zerschlagen, erwachte, brach sie in lautes Schluchzen aus. Lantier war nicht heimgekehrt. Zum ersten Male brachte er die Nacht außer dem Hause zu. Sie blieb auf dem Rande des Bettes sitzen unter dem Lappen ausgeblichenen Möbelkattuns, der von einer Stange herunterhing, die mit Bindfaden an der Decke befestigt war. Sie ließ ihre von Tränen verschleierten Blicke langsam in dem elenden Zimmer umherschweifen, dessen Ausstattung in einer Nußholzkommode, der eine Schieblade fehlte, drei Strohstühlen und einem kleinen fettigen Tisch bestand, auf den ein zerbrochener Wasserkrug gestellt war.
Man hatte für die Kinder ein eisernes Bett hinzugefügt, das den Zugang zur Kommode verstellte und zwei Drittel des ganzen Raumes einnahm.
Der Koffer von Gervaise und Lantier lag weit geöffnet in einer Ecke und zeigte sein leeres Innere; ein alter Männerhut war ganz auf dem Grunde zwischen schmutzige Hemden und Strümpfe hineingepfercht, während an der Wand und auf der Lehne eines Stuhls ein durchlöcherter Schal und ein vom Straßenschmutz zerfressenes Beinkleid hingen, die letzten Lumpen, welche die Kleiderhändler nicht mehr wollten. In der Mitte des Kaminsimses zwischen zwei ungleichen Zinkleuchtern lag ein Paket Pfandscheine des Leihhauses von zarter rosa Farbe. Es war das schönste Zimmer des Hotels, das Zimmer im ersten Stock mit der Aussicht auf den Boulevard.
Indes schliefen die beiden Kinder nebeneinander auf demselben Kopfkissen. Claude, der acht Jahre alt war, atmete langsam, während seine kleinen Hände auf der Bettdecke lagen, und der nur vierjährige Etienne hatte lächelnd einen Arm um den Nacken des Bruders geschlungen. Als der tränenfeuchte Blick der Mutter auf ihnen ruhte, hatte diese einen neuen Anfall von Schluchzen, sie drückte ein Taschentuch an ihren Mund, um den leisen Schrei zu ersticken, der sich ihr unwillkürlich entrang. Barfuß, ohne daran zu denken, ihre zu Boden gefallenen Morgenschuhe wieder anzuziehen, kehrte sie zum Fenster zurück und spähte wieder wie in der Nacht wartend hinaus, die Bürgersteige weithin mit ihren Blicken absuchend.
Das Hotel befand sich auf dem Kapellenboulevard links von dem Fischertor. Es war ein altes, zweistöckiges Gebäude, mit roter Farbe getüncht, dessen durch den Regen faul gewordene Fensterläden zerfielen. Über einer Laterne, in deren Scheiben sich Sterne befanden, las man mühsam zwischen den beiden Fenstern: Marsouillers Hotel »Zum guten Herzen«, in gelben Buchstaben, denen durch das Abspringen des Mörtels große Stücke fehlten. Gervaise, der die Laterne hinderlich war, richtete sich auf und preßte ihr Taschentuch gegen die Lippen. Sie blickte zur Rechten nach der Seite des Boulevard Rochechouart, wo Gruppen von Schlächtern in blutigen Schürzen vor den Schlachthäusern sich aufhielten; der frische Morgenwind trug hin und wieder einen stinkenden, faden Geruch von abgeschlachteten Tieren herüber. Sie blickte zur Linken, ihr suchendes Auge irrte die lange Allee hinab, um schließlich beinahe ihr gegenüber auf der weißen Masse des Krankenhauses Lariboisiere auszuruhen, das damals noch im Bau begriffen war. Langsam verfolgte sie dann von einem Ende des Horizonts zum andern den Lauf der Mauer des Schlachthauses, hinter der sie hin und wieder während der Nacht das Geschrei von geschlachteten Tieren gehört hatte; sie durchforschte die versteckten Winkel, die von Feuchtigkeit und Unrat geschwärzten dunklen Ecken in der geheimen Furcht, dort den Körper Lantiers zu entdecken, den Leib von Messerstichen durchbohrt. Als sie die Augen über diese graue, unendliche Mauer erhob, die Paris gleichsam mit einem Streifen Wüste umgibt, bemerkte sie eine große Helligkeit, eine Flut von Sonnenlicht, die schon ganz von dem morgendlichen Getöse der Stadt erfüllt war. Aber immer wieder wendete sie dem Fischertor ihre Blicke zu, mit vorgestrecktem Halse betäubte sie sich an dem ununterbrochenen Strom von Männern, Tieren und Karren, den sie zwischen den beiden niedrigen Zollhäuschen hervorbrechen sah und der von den Höhen des Montmartre und von la Chapelle sich herniederwälzte. Das war ein Gestampfe wie von Herden, eine Menge, deren hin und wieder plötzliches Anhalten sich gleich Pfützen auf der Chaussee ausbreitete, ein endloses Vorüberziehen von Handwerkern, die zur Arbeit gingen, ihre Werkzeuge auf dem Rücken, ihr Brot im Arm; all dieses Gewühl stürzte sich auf Paris, das es fortwährend verschlang. Wenn Gervaise unter allen diesen Menschen Lantier zu erkennen glaubte, so beugte sie sich, auf die Gefahr hin zu fallen noch weiter nach vorn; fester preßte sie ihr Taschentuch an den Mund, um ihren Schmerz zurückzudämmen.
Eine junge, lustige Stimme bewog sie zum Verlassen des Fensters.
»Ihr Mann ist wohl nicht da, Frau Lantier?«
»Nein, Herr Coupeau,« antwortete sie und versuchte dabei zu lächeln.
Es war ein Zinkarbeiter, der ganz oben im Hause ein kleines Zimmer zu zehn Franken bewohnte. Er hatte seinen Sack auf der Schulter. Da er den Schlüssel in der Tür stecken sah, war er freundschaftlich eingetreten.
»Sie wissen,« fuhr er fort, »ich arbeite jetzt dort drüben am Krankenhause … Ha! das ist ein feiner Maimonat! Es weht ein bißchen scharf heute morgen!
Er betrachtete Gervaises Gesicht, das vom Weinen gerötet war. Als er sah, daß das Bett fast unberührt dastand, schüttelte er leise den Kopf; dann kam er bis zum Bettchen der Kinder, die immer noch mit ihren rosigen Engelsmienen schliefen; und mit gedämpfter Stimme fuhr er fort:
»Ei der Tausend! Ihr Mann ist wohl ein bißchen bummlig, nicht wahr? Trösten Sie sich, Madame Lantier. Er beschäftigt sich viel mit Politik; als man neulich bei der Wahl für Eugène Sue stimmte (es ist das einer von den Guten, wie es scheint), da war er rein närrisch. Vielleicht hat er die Nacht mit Freunden zugebracht und auf die bonapartistische Schweinewirtschaft geschimpft.«
»Nein, nein,« murmelte sie gepreßt, »wie Sie glauben, ist es nicht. Ich weiß, wo Lantier ist … Mein Gott, wir haben eben unsern Kummer wie alle Welt.«
Coupeau blickte sie pfiffig an, um zu zeigen, daß er auf diese Lüge nicht hineinfalle. Im Fortgehen erbot er sich, ihr die Milch zu holen, wenn sie nicht ausgehen wolle; sie sei eine hübsche und tüchtige Frau und könne auf ihn zählen, wenn sie eines Tages in Not sei.
Sowie er sich entfernt hatte, wandte sich Gervaise dem Fenster wieder zu.
Durch die Zollgrenze strömte noch immer die Menge in der Kälte des Morgens. Man erkannte die Schlosser an ihren blauen Arbeitskitteln, die Maurer an ihren weißen Jacken, die Maler an den Röcken, unter denen die langen Blusen hervorsahen. Diese Menge erschien von weitem in den Farben matten Gipses in einem unbestimmten Ton, in dem verwaschenes Blau und schmutziges Grau abwechselte. Hin und wieder stand ein Arbeiter still und steckte seine Pfeife an, während die anderen um ihn herum immer vorwärtsschritten, ohne ein Lachen, ohne ein zum Kameraden gesprochenes Wort, die Backen erdfahl, das Gesicht nach Paris gerichtet, das sie einen nach dem anderen durch die weitaufgähnende Straße, die Fischerstraße, verschlang. An den beiden Ecken der Straße, an den Türen der beiden Weinschenken, die ihre Läden öffneten, wurden die Schritte der Leute langsamer; vor dem Eintreten blieben sie auf dem Rande der Bürgersteige stehen, hin und wieder halb unwillig, halb verlegen auf Paris niederblickend, mit schlaffen Armen, schon halb für einen Bummel tag gewonnen. Vor den Schenktischen waren Gruppen, welche sich freihielten; dort beieinander stehend vergaßen sie sich, füllten die Säle speiend, hustend und sich mit Hilfe kleiner Schnäpse die Kehlen reinspülend.
Gervaise spähte zur Linken der Straße nach dem Laden des Vater Colombe hinüber, wo sie Lantier gesehen zu haben glaubte, als eine dicke Frau mit bloßem Kopf und einer Schürze sie von der Straße aus anrief.
»Sie sind so früh schon auf, Frau Lantier?«
Gervaise beugte sich vor.
»Sie sind es, Madame Boche! … Oh! ich habe eine Menge zu tun heute!«
»Ja, ja, nicht wahr? Die Sachen machen sich nicht von selber!«
Jetzt begann eine Unterhaltung vom Fenster zum Fußwege. Madame Boche war die Pförtnersfrau des Hauses, in dem das Restaurant »Zum Kalbe mit den zwei Köpfen« das Erdgeschoß innehatte. Öfter hatte Gervaise Lantier in ihrem Pförtnerzimmerchen erwartet, um sich nicht allein neben all die Männer zu Tisch zu setzen, die dort mit ihnen aßen. Die Pförtnersfrau erzählte, daß sie nur zwei Schritte von hier nach der Kohlenstraße gehe, um einen Beamten dort noch im Bette anzutreffen, von dem ihr Mann die Bezahlung für Ausbesserung eines Überziehers nicht erlangen könne.
Hierauf erzählte sie von einem ihrer Mieter, der abends mit einem Frauenzimmer nach Hause gekommen sei und bis drei Uhr morgens alle im Schlaf gestört habe.
Während dieses Geschwätzes betrachtete sie die junge Frau mit den Mienen unbezwinglicher Neugier und schien nur dahin gekommen zu sein und sich unter den Fenstern aufgepflanzt zu haben, um eine Vermutung, die sie hegte, bestätigt zu finden.
»Herr Lantier schläft wohl noch?« fragte sie plötzlich.
»Jawohl, er schläft,« antwortete Gervaise und errötete unwillkürlich.
Madame Boche sah, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Ohne Zweifel befriedigt von dem Ergebnis ihrer Nachforschung, entfernte sie sich, etwas von verdammten Taugenichtsen vor sich hinmurmelnd; plötzlich jedoch kam sie zurück und rief:
»Sie wollten doch heute morgen zum Waschhaus gehen, nicht wahr? Ich habe etwas zu waschen und werde Ihnen einen Platz neben mir freihalten, dann können wir plaudern.«
Wie von plötzlichem Mitleid erfaßt, fuhr sie fort:
»Meine arme Kleine, Sie würden gut tun, vom Fenster wegzugehen, Sie werden sich etwas holen. Sie sind ja schon ganz blau gefroren!«
Gervaise blieb eigensinnig noch zwei tödlich lange Stunden am Fenster bis acht Uhr. Jetzt waren die Läden geöffnet. Der Strom der Blusenmänner, der von den Höhen herabkam, hatte aufgehört, und bloß einige Nachzügler passierten die Zollgrenze eiligen Schrittes. Bei den Weinwirten standen noch dieselben Männer, die weiter tranken, husteten und spien.
Den Arbeitern waren die Arbeiterinnen gefolgt; Plätterinnen, Modistinnen, Blumenmacherinnen gingen in ihren engen Kleidchen zu dreien oder vieren die äußeren Boulevards entlang, lebhaft plaudernd, leise lachend und leuchtende Blicke um sich werfend; hin und wieder kam eine einzelne, mager, mit bleichen, ernsten Mienen, diese ging an der Mauer des Schlachthauses entlang, indem sie sorgfältig die Schmutzpfützen vermied. Hierauf waren die Beamten vorübergegangen; in die Finger blasend, aßen sie ihr Sousbrötchen im Gehen; es waren meist abgemagerte junge Leute mit kurzen Kleidern, deren matte Augen noch mit dem Schlafe kämpften; oder kleine alte Männchen, die mit kurzen schnellen Schritten dahinliefen, mit bleichem Antlitze und abgenützt durch die langen Bürostunden; sie sahen nach der Uhr, um ihren Schritt nach der Sekunde zu regeln. Alsdann hatten die Boulevards ihr friedliches Morgenaussehen wiedergewonnen; die Rentner der Nachbarschaft gingen in der Sonne spazieren; Mütter mit zottigen Haaren und schmutzigen Unterröcken wiegten auf ihren Armen Wickelkinder, die sie auf den Bänken trockenlegten, während eine ganze Schar taschentuchbedürftiger, halbnackter Gören sich unter Heulen, Lachen und Weinen auf der Erde umherbalgte und stieß.
Gervaise war es, als müsse sie ersticken, jetzt hoffte sie nicht mehr, und die Angst machte sie schwindeln; es schien ihr, als sei alles aus, als habe die Zeit aufgehört und als werde Lantier niemals zurückkehren.
Ihre Augen irrten von den durch das ewige, stinkende Blutbad geschwärzten Mauern der allen Schlachthäuser hinüber zu dem neuen bleichen Krankenhause, durch dessen noch offene Fensterreihen man in die nackten Säle blickte, in denen der Tod seine fürchterliche Ernte halten sollte. Ihr gegenüber, hinter der Stadtmauer, blendete sie der leuchtende Himmel, das Aufsteigen des Sonnenballs, der höher und höher sich über der erwachenden, ungeheuren Stadt erhob.
Die junge Frau hatte sich auf einen Stuhl gesetzt, ihre Arme hingen schlaff hernieder, sie weinte nicht mehr, als Lantier ruhig eintrat.
»Du bist es? Du bist es?« rief sie und wollte ihm um den Hals fallen.
»Ja, ich bin es, was weiter? Du wirst doch nicht wieder deine Dummheiten anfangen?«
Er war ihr ausgewichen. Dann warf er mit einer übellaunigen Bewegung seinen schwarzen Filzhut auf die Kommode. Lantier war ein kleiner, sehr dunkelfarbiger Bursche von sechsundzwanzig Jahren, mit einem hübschen Gesicht und einem kleinen Schnurrbart, den er stets mit einer unwillkürlichen Handbewegung drehte. Er trug eine Arbeiterbluse, einen alten fleckigen Überrock, den er über die Taille zuknöpfte, und sprach mit sehr bemerklich provenzalischem Dialekt.
Gervaise war auf den Stuhl zurückgesunken und beklagte sich leise in kurzen Sätzen.
»Ich habe kein Auge schließen können … Ich glaubte, man hätte dich in eine Schlägerei verwickelt … Wo bist du denn gewesen? Wo hast du die Nacht zugebracht? Mein Gott, fange nicht wieder so an, ich werde sonst wahnsinnig … Sage, August, wo bist du gewesen?«
»Wo ich zu tun hatte, zum Donnerwetter!« sagte er mit Achselzucken. »Ich war um acht Uhr auf dem Eiskeller bei dem Freunde, der die Hutfabrik errichten will. Ich habe mich verspätet und da zog ich es vor, dort zu schlafen … Übrigens du weißt, ich liebe es nicht, wenn man mich ausfragt. Laß mich in Ruhe!«
Die junge Frau begann wiederum zu schluchzen. Der Ton seiner Stimme, die rücksichtslosen Bewegungen Lantiers, der die Stühle umherrückte, weckten die Kinder. Sie richteten sich halb nackt und, die Haare mit ihren kleinen Händchen entwirrend, von ihrem Lager auf. Als sie ihre Mutter weinen sahen, weinten auch sie mit ihren kaum geöffneten Augen und fingen ein entsetzliches Geschrei an.
»Da haben wir die Musik!« rief Lantier wütend. »Ich sage euch, ich nehme die Türe in die Hand und gehe, aber dieses Mal … auf Nimmerwiedersehen … Wollt ihr wohl stille sein? Lebt wohl, ich gehe dahin, wo ich hergekommen bin.«
Er hatte schon seinen Hut wieder von der Kommode genommen. Aber Gervaise stürzte auf ihn zu und stammelte: »Nein, nein!«
Sie erstickte die Tränen der Kinder mit ihren Liebkosungen. Sie küßte ihre Haare und legte sie mit sanften Worten wieder nieder. Die Kleinen waren schnell beruhigt, sie lachten auf ihrem Kopfkissen und belustigten sich damit, einander zu kneifen. Indes hatte sich der Vater, ohne selbst seine Stiefel auszuziehen, auf das Bett geworfen; seine Mienen waren abgespannt, sein Gesicht bewegungslos und bleich durch die verschwelgte Nacht. Er schlief nicht ein, sondern spähte mit offenen Augen im Zimmer umher.
»Das ist ja recht sauber hier!« murmelte er und setzte dann, nachdem er einen Augenblick Gervaise betrachtet hatte, boshaft hinzu:
»Du wäschst dich wohl gar nicht mehr?«
Gervaise war erst zweiundzwanzig Jahre alt. Sie war groß, ein wenig mager, mit feinen Zügen, in denen sich die Härte ihres Daseins schon aussprach. Ungekämmt, in Morgenschuhen, zitternd vor Kälte in ihrer weißen Nachtjacke, auf der die Möbel die Spuren von Staub und Schmutz zurückgelassen hatten, schien sie durch die soeben durchlebten angst- und tränenreichen Stunden um zehn Jahre gealtert. Das Wort Lantiers ließ sie ihre furchtsame und duldende Haltung aufgeben.
»Du bist nicht gerecht,« sagte sie wieder lebhafter, »du weißt wohl, daß ich alles tue, was ich kann. Es ist nicht meine Schuld, daß wir hier sitzen … Ich möchte einmal sehen, was du mit den beiden Kindern anfängst in einem Zimmer, wo nicht einmal ein Ofen ist, in dem man warmes Wasser machen kann … Man hätte sich gleich, als wir nach Paris kamen, anstatt dein Geld zu vergeuden, irgendwo festsetzen sollen, wie du es auch versprochen hattest.«
»Ei, sieh doch!« schrie er, »erst hast du das goldene Kalb mit mir aufgefressen, und jetzt gefällt dir das Leben nicht mehr, weil es an feinen Bissen fehlt.
Sie schien ihn nicht zu hören und fuhr fort:
»Gleichviel, mit ein wenig Anstrengung wird man immer noch über Wa...

Table of contents

  1. Titel
  2. Vorwort
  3. Kapitel 1
  4. Kapitel 2
  5. Kapitel 3
  6. Kapitel 4
  7. Kapitel 5
  8. Kapitel 6
  9. Kapitel 7
  10. Kapitel 8
  11. Kapitel 9
  12. Kapitel 10
  13. Kapitel 11
  14. Kapitel 12
  15. Kapitel 13