Teil 1/Part 1: Forschungsgeschichte/ History of Research
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Johannes Wischmeyer
Universalismus als Tendenzund Entwicklungsmoment. Die Fragenach Markus und Paulus in derhistorisch-kritischen Geschichtsschreibungdes Urchristentums von 1850 bis 1910
Das VerstĂ€ndnis der Entstehung des Neuen Testaments und seiner Einzelschriften wandelte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch die Leistung einiger protestantischer Exegeten in grundlegender Weise. Sie lieĂen sich von einer allgemeinen ideengeschichtlichen Dynamik leiten, die im Gefolge romantischer und idealistischer Diskurse den Begriff der Geschichte zu einer zentralen ErschlieĂungskategorie wissenschaftlicher Erkenntnis befördert hatte. In der interdisziplinĂ€ren Diskussion wĂ€hrend der ersten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts erfuhr der Begriff der Geschichte dabei eine PluralitĂ€t von Auslegungen, die auf den ersten Blick verwirren mag. Einerseits betonte man das Eigenrecht bzw. die IndividualitĂ€t allen vergangenen Geschehens und legte damit dem Historiker eine einfĂŒhlsame und von Rationalisierungen oder anderen ideenpolitischen Vereinnahmungen freie hermeneutische Grundhaltung ans Herz. Andererseits gewann die Vergangenheit groĂe Bedeutung als sinn- und identitĂ€tsstiftende Instanz fĂŒr die Selbstvergewisserungsprozesse der zeitgenössischen Gesellschaft. Geschichte bot einen Rahmen, innerhalb dessen das VerhĂ€ltnis von Institutionen wie der Nation, ebenso aber auch der christlichen Kirche oder des Protestantismus zu ihren UrsprĂŒngen und Referenzpunkten als kontinuierliches Werden thematisiert werden konnte.
Diese Ambivalenz von Abstand und gleichzeitiger KontinuitĂ€t der Gegenwart zu ihren GrĂŒndungsgeschichten kennzeichnet den frĂŒhen Historismus oder die âSchwellenzeitâ im deutschsprachigen Geschichtsdiskurs zwischen 1800 und 1850 â eine Epoche, die sich charakteristisch ebenso vom Pragmatismus der SpĂ€taufklĂ€rung wie von der betonten SubjektivitĂ€t und (zumindest behaupteten) Theorieabstinenz des nachfolgenden âklassischen Historismusâ unterschied. Die theologischen Disziplinen erschlossen sich die historistischen Fragestellungen nur mit einer gewissen Verzögerung und in unterschiedlicher Form und IntensitĂ€t; dennoch prĂ€gte das neue Interesse an einer als normativ verstandenen Geschichtlichkeit der christlichen Ăberlieferung die Theologieproduktion positionenĂŒbergreifend vom liberalen bis ins konfessionalistische Lager.
In der neutestamentlichen Exegese fĂŒhrte der historistische Ansatz im Verlauf des 19. Jahrhunderts zur Etablierung weitgreifender und raffinierter Interpretationsverfahren, mit deren Hilfe man dem aus der AufklĂ€rung ĂŒberkommenen Anliegen der Quellenkritik auf einem neuen Niveau gerecht werden wollte. Als Interpretationsgrundlage dienten nicht lĂ€nger eine ahistorische Universalanthropologie oder kausale Rekonstruktionen im Sinne einer Alltagslogik. Vielmehr wurden anspruchsvolle, meist nach dialektischen oder organologischen Mustern konstruierte Modelle diskutiert, mit deren Hilfe die Entwicklungstendenzen vergangener Epochen untersucht werden sollten. Am innovativsten erwiesen sich hier Vertreter des dogmatisch und kirchenpolitisch freisinnigen bzw. liberalen Spektrums â beinahe alle im Folgenden nĂ€her vorgestellten Exegeten sind diesem zuzurechnen. Kristallisationspunkt der Richtung, die herkömmlich in der alt- und neutestamentlichen Wissenschaft als âhistorisch-kritischeâ bezeichnet wird, die aber nach dem bisher Gesagten womöglich auch als Bestandteil der pluralen (frĂŒh-)historistischen Bewegung in der Historiographie des 19. Jahrhunderts gesehen werden kann, war die sogenannte jĂŒngere TĂŒbinger Schule Ferdinand Christian Baurs.
Auch die Frage nach dem VerhĂ€ltnis zwischen dem Markusevangelium und der paulinischen Ăberlieferung wurde vor allem von Exegeten aus Baurs Umfeld aufgegriffen: Hatte zuvor die Diskussion an den frĂŒhchristlichen Traditionen angesetzt, die eine persönlich Beziehung des Johannes Markus zum Apostel Paulus nahelegten, so bildeten jetzt hypothetische Rekonstruktionen der Theologiegeschichte des Urchristentums die Basis fĂŒr einen neuen Diskurs. In methodischer Hinsicht kam die sogenannte âTendenzkritikâ ins Spiel. Baur hatte darauf hingewiesen, dass die Frage nach der historischen Wahrheit biblischer Texte bei den Motiven und Zielen ansetzen mĂŒsse, die die jeweiligen Verfasser in ihrem zeitgenössischen Kontext zu ihrem literarischen Unternehmen motivierten. Eine zentrale theologische Tendenz im Urchristentum, so waren sich die meisten AnhĂ€nger Baurs mit ihrem Schulhaupt einig, war die paulinische VerkĂŒndigung im Sinne einer gesetzesfreien Heidenmission. Was das Markusevangelium betraf, konnte man nun gezielt untersuchen, inwieweit es (unter anderem) ein Produkt dieses âPaulinismusâ war.
Gleichzeitig rĂŒckte die Frage nach der Beziehung der fĂŒr authentisch erachteten paulinischen Briefe und des Markusevangeliums in die NĂ€he der heiĂ diskutierten synoptischen Frage: Man musste sich, um Klarheit ĂŒber die OriginalitĂ€t der markinischen Ăberlieferung und ihren zeitlichen Abstand zu den bereits relativ genau datierten Paulinen zu gewinnen, an eines der gĂ€ngigen Synoptikermodelle anschlieĂen. Dies machte gleichzeitig eine VerhĂ€ltnisbestimmung zu den anderen Evangelien notwendig, ebenso eine hypothetische Gesamtchronologie der neutestamentlichen Schriften.
1 Adolf Hilgenfeld und Ferdinand Christian Baur
Der erste bedeutende Entwurf, der unter diesen PrĂ€missen â wenn auch nur im VorĂŒbergehen â das Problem âMarkus und Paulusâ in den Blick nahm, stammte von dem theologisch freisinnigen Jenaer Exegeten Adolf Hilgenfeld (1823-1907). FĂŒr Hilgenfeld befindet sich der âUr-Markusâ â der spĂ€ter im Zuge der Kanonisierung einer Redaktion unterzogen worden sei â seiner theologischen Tendenz nach zwischen dem deutlich âjudaisierendenâ MatthĂ€usevangelium und dem âheidenchristlichenâ Lukasevangelium. Der Verfasser habe die judaistische Tendenz des ersten Evangeliums planmĂ€Ăig gemildert. Der Autor des Lukasevangeliums wiederum habe den Ur-Markus wegen dessen relativ ausgeprĂ€gter NĂ€he zu seiner eigenen Theologie umstandslos als Vorlage verwenden können.
Die im Vergleich zum Autor des MatthĂ€usevangeliums âliberalereâ Tendenz des Ur-Markus bringt Hilgenfeld auf die Formel des âUniversalismusâ. Dieser ziehe sich wie ein Leitmotiv durch das Evangelium (vgl. nur Mk 16,20; 11,17) â die Beobachtung, so setzt er hinzu, mĂŒsse aber in keinem Fall bedeuten, dass der Evangelist paulinische EinflĂŒsse aufgenommen habe. Hilgenfeld zufolge handelt es sich eher um den Universalismus von sich allmĂ€hlich emanzipierenden Judenchristen , die jĂŒdische Gesetzlichkeit und die damit verbundene Absonderung ablehnten, aber an Grundthemen jĂŒdischer Theologie wie einem strikten Monotheismus und der Liebe als ethischer Pflicht und gleichzeitig Gottesattribut festhielten â er postuliert eine inhaltliche Verwandtschaft mit den Pseudo-Clementinen. Auch die Wichtigkeit des persönlichen Glaubens und die hohen moralischen AnsprĂŒche im Markusevangelium scheinen Hilgenfeld in diese Richtung zu weisen. Dies bedeutet ĂŒbrigens auch eine implizite Kritik an Albrecht Ritschl, der alle synoptischen Stellen, die den Begriff des Glaubens hervorheben, fĂŒr paulinisch beeinflusst hielt.
Ferdinand Christian Baur (1792-1860) schloss sich in seinem Markuskommentar Hilgenfeld insoweit an, als er die theologische OriginalitĂ€t des Evangelisten nun höher bewertete als in seinen frĂŒheren Publikationen. Zwar mochte er nach wie vor nicht einmal eine PrioritĂ€t des Markus vor dem Lukasevangelium zugestehen. Markus bleibt in Baurs Analyse ein Eklektiker âsekundĂ€ren Charaktersâ und ohne ein âdurchgreifenderes dogmatisches Interesseâ. Doch fĂŒr die auffĂ€lligen Unterschiede gegenĂŒber dem MatthĂ€usevangelium â etwa das Fehlen der Bergpredigt oder die deutlich selteneren alttestamentlichen Zitate âerkennt er jetzt âdogmatische GrĂŒndeâ an, die mit einer âfreieren Stellung zum Alten Testament, zum Judenthum und Judaismusâ zusammenhingen. Zwar sei dem Autor der âpaulinische Universalismusâ fremd geblieben, doch nehme sein Evangelium nicht nur in formaler, sondern eben auch in dogmatischer Hinsicht eine âmittlere Stellungâ zwischen den beiden anderen Synoptikern ein, allerdings mit einer stĂ€rker ausgeprĂ€gten NĂ€he zum judenchristlichen MatthĂ€usevangelium. Es fĂ€llt Baur erkennbar schwer, die leitende Idee des Markusevangeliums auf eine Formel zu bringen, ohne die seinem historistischen Interpretationsmuster zufolge doch kein Autor eines literarischen Werkes in seiner historischen IndividualitĂ€t verstanden werden kann. Doch nimmt er den Verfasser des Markusevangeliums als Historiker ernst, wenn er ihm attestiert, dieser habe sich zur Aufgabe gemacht, das âobjectiv ThatsĂ€chlicheâ darzustellen; in Baurs von Dichotomien geprĂ€gter geschichtsmethodologischer Nomenklatur bedeutet dies die âKunst, mit welcher er das einzelne auszumalen und dadurch seiner Darstellung Leben und Farbe zu geben weiĂâ. Lob fĂŒr die Anschaulichkeit verbindet sich mit Kritik daran, dass der Verfasser nicht vermocht habe, in geschĂ€rfter Reflexion seinen Subjektivismus zu ĂŒberwinden. Seine eigene literarische Leistung beschrĂ€nke sich vor allem darauf, vordergrĂŒndige Motivationen fĂŒr den Gang der Ereignisse gefunden zu haben, sich in die âEmpfindungen und GemĂŒthsaffektionenâ der handelnden Personen hineinzuversetzen und die VorgĂ€nge âmit einer gewissen Aufregung und mit GerĂ€uschâ darzustellen.
2 Gustav Volkmar
FĂŒr Baur und seinen engeren SchĂŒlerkreis stellte sich die Frage nach dem Charakter der Beziehung zwischen dem Markusevangelium und den paulinischen Schriften, wie gesehen, nur am Rande. Ungleich drĂ€ngender wurde sie fĂŒr diejenigen, die im Gefolge der beiden Pioniere Chr. G. Wilke (1786-1854) und Ch. H. Weisse (1804-1866) die Hypothese der MarkusprioritĂ€t akzeptierten. Doch auch unter dieser Bedingung ergab sich keineswegs ein zwingendes Interesse an der Fragestellung; ĂŒber die TĂŒbinger Schule hinaus blieben viele Exegeten bei der Suche nach âpaulinischenâ Spuren in den Synoptikern auf das Lukasevangelium fixiert. Es war vor allem der ZĂŒrcher Neutestamentler Gustav Volkmar (1809-1893), der die Konsequenz aus der zeitlichen Priorisierung des Markusevangeliums zog und es als ein Dokument des expliziten Paulinismus deutete. Dies geschah zuerst 1857 im Rahmen einer populĂ€rwissenschaftlichen Darstellung des Urchristentums, mit der Volkmar eine Summe aus seinen bisherigen Forschungen zog.
Selbstbewusst weist der ZĂŒrcher Exeget dort auf die Bedeutung seiner âgeschichtlichen ErklĂ€rung der Ă€ltesten Evangelien ĂŒberhauptâ hin: Das Gesamtbild werde in Zukunft durch den wissenschaftlichen ...