1Phänomenologische Annäherung: Erscheinungsformen der Spiritualität
Was ist „christliche Spiritualität“? Eine individuelle Form von Religiosität? Bestimmte religiöse Übungen, die man zu Hause für sich macht? Eine irgendwie geartete Beschäftigung mit irgendwelchen „höheren“, geistigen Wirklichkeiten? Wer die heutige Verwendung des Begriffs betrachtet, kann leicht zu dem Schluß kommen, daß es sich bei „Spiritualität“ jedenfalls vor allem um eine Privatsache handelt, die unabhängig von ihrer Form und inhaltlichen Füllung dem einzelnen überlassen bleiben muß, weil es dabei um die Art und Weise geht, wie das Individuum eine beliebige geistige Dimension (vielleicht sogar eine geistliche Dimension) in seinem Leben gestaltet.
Bei einer solchen Sicht der Dinge wird jedoch mancherlei übersehen, das nach meinem Eindruck zum Verstehen christlicher Spiritualität unbedingt einzubeziehen ist:
1. Spiritualität ist keine Erfindung der Christen, doch sie gehört zu den christlichen Gemeinschaften vom ersten Moment an untrennbar hinzu, zu ihrem Leben, zu ihrem Feiern und zu der daraus erwachsenden Theologie. Spiritualität und Theologie sind von ihren Ursprüngen her ebensowenig zu trennen wie Spiritualität und Lebensalltag, wie Seele und Leib6.
2. Christliche Spiritualität ist seit jeher nicht ohne die Gemeinschaft zu denken, vielmehr ist sie aus ihr erwachsen. Bei der heute oft anzutreffenden Verwendung des Begriffs wird dies Moment meist übersehen; damit wird der Begriff jedoch unzulässig verkürzt verwendet. Generell möchte ich das Feld der Spiritualität nicht von den vorfindlichen Defiziten her erörtern. Natürlich ist vor allem den evangelischen Kirchen in diesem Bereich – teils aus theologischer Notwendigkeit, teils aus einem Mißverstehen zentraler Aussagen heraus (wie vor allem der von der Rechtfertigung allein aus Glauben, die oft zu einem Vergessen der Heiligung führte) – vieles verlorengegangen. Doch vor allem von dorther zu argumentieren brächte die Gefahr mit sich, den Defiziten und Abgrenzungen gerade verhaftet zu bleiben.
3. Dennoch sind Abgrenzungen nötig. Es ist nicht alles gut oder wahr und schon gar nicht alles mit dem christlichen Glauben vereinbar, was unter diesem Schlagwort begegnet. Das Wahrgenommene ist also kritisch zu sichten und theologisch zu werten, entsprechend der ebenfalls zur Spiritualität immer schon gehörenden Gabe und Aufgabe der diakrisis, der discretio, der Unterscheidung der Geister. Nötig scheint mir eine solche Suche nach Kriterien auch, damit nicht das Resultat der gegenwärtigen eklektischen, mitunter synkretistischen Vermischung der Traditionen die Sache selbst in Mißkredit bringt und als etwas letztlich Außerkirchliches und Außerchristliches erscheinen läßt, sondern damit vielmehr dieses sehr alte Thema der christlichen Kirchen für die Christen, insbesondere diejenigen, die einer der Kirchen der Reformation angehören, zurückgewonnen wird.
4. Ein solches theologisch verantwortetes Zurückgewinnen des Themas „Spiritualität“ ist unverzichtbar, weil das geistliche Leben innerhalb unserer Kirche, verstärkt seit der Zeit der Aufklärung, immer ärmer geworden ist, bis dahin, daß beispielsweise immer weniger Menschen wissen, wie sie eigentlich beten sollen. Die persönliche Frömmigkeit scheint in vieler Hinsicht ausgetrocknet zu sein – es ist also der Reichtum der Tradition wenigstens in Ausschnitten für die Gegenwart zu erschließen.
5. Das betrifft nicht nur das Leben der Christinnen und Christen. Eine sich selbst absolut setzende wissenschaftliche Theologie, die die Dimension der Spiritualität, des gelebten Glaubens, aus dem Blick verliert, verarmt. Umgekehrt wird natürlich die Spiritualität auch durch die Theologie geprägt, denn was nicht denkmöglich scheint, kann auch nicht ohne weiteres gelebt werden.
6. Schließlich ist es ein ökumenisches Anliegen, die Vielfalt der verschiedenen ausdifferenzierten Formen, auch die konfessionellen Ausprägungen und Besonderheiten im Bereich der Spiritualität in ihren Stärken wahrzunehmen, doch vor allem ihre gemeinsamen Wurzeln und Grundthemen zu erkennen, um gemeinsam und voneinander zu lernen und auch auf diesem Wege daran zu arbeiten, die Trennung der Kirchen zu überwinden.
Doch was ist nun „christliche Spiritualität“? Wie sieht sie aus, in welchen Formen begegnet sie? Auswelchen Wurzeln und in welche Richtungen hat sie sich entwickelt? Was kann ein Mensch tun, der sein Leben im Sinne einer christlichen Spiritualität führen möchte? Und wie sind die Erscheinungsformen, die dabei zu beobachten sind, zu beurteilen, wie ist es theologisch zu verstehen und zu begründen, daß manche geistlich lebenden Menschen unter schwierigsten Bedingungen froh erscheinen, andere aber äußerst bedrückt? Wie ist es zu verstehen, daß einige nur mehr schweigen und andere unendlich produktiv werden? Gibt es Kriterien zum Erkennen richtiger und falscher, oder vorsichtiger: Kriterien geeigneter und ungeeigneter, christlicher Spiritualität? Einsetzen möchte ich mit der Frage nach den Erscheinungsformen, da eine Definition des Begriffes immer von dem Vorverständnis beeinflußt sein wird, das aus der Wahrnehmung gelebter Spiritualität erwächst7.
Doch auch jede phänomenologische Annäherung an einen Sachverhalt erfolgt auf der Grundlage eines Vorverständnisses, das offenzulegen ist. Nach meiner Auffassung gehören zum Phänomen „Spiritualität“ verschiedene Komponenten: 1. eine Beziehung zwischen Gott, oder vorsichtiger formuliert: einer als transzendent wahrgenommenen Macht und Mensch, 2. eine dadurch konstituierte Gottes- bzw. Transzendenzerfahrung auf Seiten des Menschen, 3. eine Gestaltung dieser Beziehung im Lebensverlauf durch den Menschen, 4. damit zusammenhängend, vielleicht daraus resultierend eine Gestaltung des Weltverhältnisses, und 5. die Reflexion des entsprechenden Erlebens und Tuns.
Nach christlichem Verständnis hat die Transzendenz einen Namen und ein Gesicht, das des dreieinigen Gottes. Spiritualität hat es also mit dem Gottesverhältnis des Menschen zu tun. Der Mensch sucht Gott8. Immer wieder scheint es der Fall, daß er, als ein Ergebnis dieser Suche, Gott findet. Dies ist (denk)möglich, weil wir von der theologischen Voraussetzung ausgehen können, daß Gott seinerseits den Menschen sucht und sich vom Menschen finden lassen will (vgl. II Chr 15,2; Jes 55,6; Lk 11,10 u. ö.). Diese Gottsuche des Menschen hat Konsequenzen für sein ganzes Leben, für sein Verhältnis zu sich selbst, zum Mitmenschen und zur Welt. Die Ergebnisse der Suchbewegungen haben natürlich wiederum Einfluß auf sein Verhältnis zu Gott, so daß man im Laufe eines Lebens diesen Kreis immer von neuem durchlaufen und bedenken kann. Dabei ist es möglich, Pfade mit je anderen Schwerpunkten einzuschlagen.
Generell ist zu beobachten, daß Menschen Gott auf sehr verschiedene Weise und an unterschiedlichen Orten suchen, wohl – so wird man vermuten dürfen – ihrer jeweiligen Berufung entsprechend, doch ist dies nicht aus der Beobachtung als solcher zu folgern, sondern eher aus den Auskünften der Suchenden. Sechs verschiedene Wege möchte ich zur Annäherung an das Phänomen „Spiritualität“ vorstellen. Diese Wege sind nicht exklusiv zu verstehen, so als könne man nur den einen Weg gehen. Es kann im Laufe eines Lebens zu Veränderungen kommen, und wer zuerst Gott in der Einsamkeit gesucht hat, sucht ihn später vielleicht in der Gemeinschaft. Ebenso ist zu beobachten, daß verschiedene Wege in einer Biographie kombiniert begegnen – diejenigen, die den Weg der Nächstenliebe gehen, finden die Kraft dazu häufig im Schweigen. Und die, die Gott in sich selbst finden, finden ihn genauso oft gar nicht, so daß ihr Weg von vergeblicher Suche bestimmt scheint. Die im folgenden aufgeführten Beispiele sind nicht als Vorbilder zu verstehen, lediglich als Idealtypen der Gottsuche, der Gestaltung eines Lebens im hellen oder verborgenen, im freundlich zugewandten, im leidenden Angesicht Gottes.
Um die Beispiele auszuwerten, lehne ich mich an die Methode an, die Michael J. Buckley verwendet:
„Jede christliche Spiritualität ist eine Aussage (1) über Gott, (2) darüber, was es bedeutet, ein Mensch zu sein und (3) die Form oder die Mittel oder den Weg, auf dem der Mensch mit dem Göttlichen vereint wird. [...] Die Konstellation der drei Elemente macht das Wesen oder die Form jedes spirituellen Lebens und der anschließenden reflektierenden Betrachtung aus. Es geht sogar weiter: Jedes dieser drei Themen oder Variablen erhält durch einen Komplex von vier zusammenhängenden Einflüssen seinen Wert oder seine Bedeutung. 1. Welche Erfahrung liegt diesen Werten zugrunde, welches sind die für diese Spiritualität entscheidenden Erfahrungen? 2. Welches ist der Ausdruck, durch den diese Erfahrungen geformt und artikuliert werden? Erreichen doch die grundlegenden Erfahrungen ihre eigene Vollendung in dem ihnen gemäßen Ausdruck! 3. Welches ist die wissenschaftliche Methode, Hermeneutik oder die Theologie, durch die diese Erfahrung und ihre entsprechenden Ausdrucksformen untersucht und erklärt werden, die gedankliche Vorgehensweise, die diese Erfahrung strukturiert? 4. Und schließlich, welches sind die Wege, Instrumentarien und Ratschläge, durch die diese Dreiheit aus Erfahrung-Ausdruck-Erklärung kommunizierbar gemacht werden, verfügbar für andere?“9
Ich frage also nach den Gottes- und Menschenbildern, die bei den Vertretern der verschiedenen Wege explizit oder implizit zu finden sind und versuche, ihren jeweiligen Weg der Gottsuche, über die erste Einordnung hinaus, möglichst genau zu charakterisieren. Ebenso werde ich die Fragen nach der auslösenden Erfahrung und der Form ihres Ausdrucks, der Gestaltung, zu bedenken versuchen, sowie die Frage nach der darauf folgenden theologischen Annäherung an die Erfahrung und an den Ausdruck, den sie erhält (um das heute mißverständliche Wort ‚Deutung‘ zu vermeiden) und – gegenüber Buckley etwas modifiziert – die Frage nach den Gefahren, die die Wege implizieren und diejenige nach den Folgerungen für die gegenwärtige menschliche Suche nach Gott.
1.1„Das Gebet blüht in der Wüste“ – Gott suchen in der Einsamkeit
So wie sich Jesus, vom Geist geführt, in die Wüste zurückgezogen hat (Mt 4,1–11 parr.), wie er immer wieder die Menge (z. B. Mt 8,18; Mt 14,13) und sogar die Jüngergemeinschaft verließ, um in der Stille und Einsamkeit Gott zu suchen (z. B. Mt 14,23 parr., Mk 1,35), haben dies zu allen Zeiten auch Menschen getan und tun es bis heute. Sie befolgen damit ein Gebot Jesu, das immer wieder als anstößig empfunden, aber dennoch befolgt worden ist: „Wenn jemand zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern, dazu auch sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein. Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein.“ (Lk 14,26f.)
1.1.1Thomas Merton
Einen solchen Weg aus der Welt heraus ist im 20. Jahrhundert der Mönch Thomas Merton gegangen, ein viel rezipierter und einflußreicher theologischer Autor und Dichter, der aus den vielfältigen Quellen der mystisch-prophetischen bis hin zur hesychastischen10 Tradition schöpft und diese in neuzeitlicher Terminologie erschließt. Er selbst hat seinen Weg in seiner Autobiographie11 auf Geheiß seiner Ordensoberen beschrieben.
Geboren wird Thomas Merton am 31.1.1915 in Prades, einer Kleinstadt in der Nähe der südfranzösischen Pyrenäen. Seine Eltern, die Amerikanerin Ruth Jenkins und der Neuseeländer Owen Merton, sind beide Artisten, sie gehören keiner Kirche oder religiösen Vereinigung an. Durch ihren Beruf ist die Familie viel unterwegs, Merton besucht Schulen in den USA, auf den Bermudas, in Frankreich und England. Früh verliert er beide Eltern, sein jüngerer Bruder fällt im Zweiten Weltkrieg. Merton studiert englische Literatur im Clare College in Cambridge und an der Columbia Universität in New York; nach Beendigung des Studiums läßt er sich 1938 in einer römisch-katholischen Kirche in New York taufen. Am 10.12.1941 tritt er unter dem Ordensnamen Brother Louis in die Abtei Gethsemani in Louisville, Kentucky, ein, ein Kloster des Zisterzienserordens der strengen Befolgung (Ordo Cisterciensium Reformatorum seu Strictioris Observantiae, OCSO), also der Trappisten, die er bei einer Einkehrzeit kennen gelernt hatte. Die Regel dieses Ordens legt die Schwerpunkte auf Kontemplation, auf strenge Askese, d. h. Fasten, vegetarische Kost, stetes Schweigen und auf körperliche Arbeit in Landwirtschaft und Industrie. Nach seiner Aufnahme in den Orden empfängt er die Priesterweihe und wird nach einiger Zeit Novizenmeister, Ausbilder für die jungen Mönche. Innerhalb seines Klosters wird er für viele zum geistlichen Begleiter und Ratgeber.
In der Zurückgezogenheit seines Ordens betätigt sich Merton auf Wunsch seines Abtes schriftstellerisch, als Essayist, Dichter und Sozialkritiker. Mindestens 300 Bücher12, acht Bände mit poetischen Texten13 und mehr als 600 Artikel, darunter zahlreiche Stellungnahmen zu wichtigen theologischen Fragen, entstehen. Die Schwerpunkte seines Arbeitens, denen er sich stets neu annähert, sind die Meditation und eine apophatisch (bildlos) zu nennende Spiritualität, die „in der Tradition der Dunkelheit“ steht14.
In den 1950er Jahren ändert sich sein Verhältnis zur Welt, nicht, was seine Lebensform – er bleibt im Kloster –, jedoch was seine Einstellung angeht. Er schreibt über das auslösende Erlebnis, in einer Einkaufspassage in Louisville habe er voller Freude das Einssein mit den Menschen gespürt. „Es war, als erwachte ich aus einem Traum des Abgetrenntseins, des Isoliertseins als Partikel in einer Eigenwelt für mich, in der Welt der Entsagung und der vorgeblichen Heiligkeit. Die Vorstellung, man könne abgetrennt von der übrigen Menschheit eine heilige Existenz führen, ist ein frommes Wunschbild, e...