G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik
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G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik

Birgit Sandkaulen, Birgit Sandkaulen

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G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik

Birgit Sandkaulen, Birgit Sandkaulen

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In seinen Vorlesungen über die Ästhetik hat Hegel einen der wichtigsten und wirkmächtigsten Beiträge zur Ästhetik und Philosophie der Kunst entwickelt. Von der systematischen Klärung der Idee des Schönen über die geschichtliche Unterscheidung der symbolischen, klassischen und romantischen Kunstform bis hin zur Darstellung der einzelnen Künste (Architektur, Skulptur, Malerei, Musik, Poesie) werden alle relevanten Aspekte entfaltet und miteinander vernetzt. Eindrucksvoll ist nicht nur Hegels plastischer Zugriff auf die Fülle konkreten Materials. Bedeutsam ist vor allem sein kulturphilosophischer Ansatz, der die Kunst auf dem Rang des "absoluten Geistes" als zentrales Medium menschlicher Selbstverständigung begreift. Die vieldiskutierte These vom "Ende der Kunst" in der Moderne hängt damit direkt zusammen.

Hegel hat seine vier Berliner Ästhetik-Kollegien nicht selbst publiziert. Dieser Kommentarband orientiert sich an der Edition des Hegel-Schülers H.G. Hotho und zieht ergänzend die Nachschriften, insbes. des letzten Kollegs von 1828/29 hinzu. In dieser Form wird Hegels Ästhetik auf dem aktuellen Forschungsstand für ein breites philosophisches und kulturwissenschaftliches Interessenfeld erschlossen.

Mit Beiträgen von B. Collenberg-Plotnikov, N. Hebing, G. Hindrichs, S. Houlgate, W. Jaeschke, R. Pippin, B. Sandkaulen, U. Seeberg, M. Seel, A. Speight u. J. Stolzenberg.

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Information

Year
2018
ISBN
9783110380187
Birgit Sandkaulen

1 Einleitung: Über das Projekt einer Philosophie der Kunst

1.1 Das Einleitungsparadox: Eine methodische Orientierung vorab

Üblicherweise steht dem Kommentarteil eines Klassiker-Auslegen-Bandes eine Einleitung voran, die über das zu kommentierende Werk eine Art Überblick gibt. Im vorliegenden Fall ist das nicht nötig – nicht weil eine solche Einleitung entbehrlich wäre, sondern weil sie hier mit dem Text gleich mitgeliefert wird. Die Einleitung in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik gleicht einer musikalischen Ouvertüre. Alle im folgenden durchzuspielenden Motive klingen an, und lässt man sich darauf nicht flüchtig, sondern ernsthaft ein, ist man aufs Beste für die Auseinandersetzung mit dem anschließenden Durchgang präpariert. Das Lob für diese Komposition gebührt Hotho. Hothos Notiz, dass es sich bei seiner Edition von Hegels Ästhetikvorlesungen „nicht etwa darum [handelte], ein von Hegel selber ausgearbeitetes Manuscript, oder irgend ein als treu beglaubigtes nachgeschriebenes Heft mit einigen Styl-Veränderungen abdrucken zu lassen, sondern die verschiedenartigsten oft widerstrebenden Materialien zu einem wo möglich abgerundeten Ganzen mit größter Vorsicht und Scheu der Nachbesserung zu verschmelzen“ (Hotho 1842, IX), trifft auf die Einleitung exemplarisch zu.
Im Abgleich der Vorlesungsnachschriften wird das ganz deutlich. Was Hegel seinen Hörern einleitend mitteilt, wechselt von Kolleg zu Kolleg mit anderen Akzenten, Anordnungen und sogar neu hinzukommenden (dann auch wieder verschwindenden) Aspekten, wobei der Zustand des Vorlesungsmaterials den Eindruck erweckt, dass Hegel bis zuletzt nach der Bestform einer Einleitung wirklich noch sucht. „Wie gehen wir daran, eine Philosophie des Schönen einzuleiten?“ (vdP, 51) Mit einer Unsicherheit über sein Projekt hat diese Suchbewegung offensichtlich nichts zu tun. Hier geht es vielmehr um die spezifische Textform „Einleitung“, der Hegel seit seiner ersten Publikation der Differenzschrift eine ganz eigentümliche Aufmerksamkeit schenkt (Sandkaulen 2017). Einleitungen und Vorreden sind bei Hegel wichtige, methodisch eigens ausgewiesene Texte, und daher wundert es nicht, dass sich die Reflexion auf die Einleitung auch durch alle überlieferten Nachschriften der Ästhetik zieht mit dem Signal, dass Einleitungen umso dringender sind, je weniger sie direkt zur Sache führen können. Dieses für Hegels Gesamtwerk so typische Einleitungsparadox hat Hotho kongenial erfasst. In einer bewundernswerten Kompilation vorliegender Notate macht er das Problem nicht nur völlig transparent (VÄ 1, 40 – 43; vgl. Ho, 219, 224 f.; vdP, 51 f.; Ke, 2 ff.; Hm, 5 f.). Mit seiner Organisation des sperrigen Einleitungsmaterials realisiert Hotho die Logik des Einleitungsparadoxes auch praktisch, einschließlich mehrfacher plausibler Verschiebungen zwischen den Einleitungsteilen und dem Auftakt der Sache selbst.
Das fragliche Problem ist höchst interessant. Das Einleitungsparadox steht und fällt mit dem wissenschaftlichen oder, was in Hegels Augen dasselbe ist, systematischen Anspruch seiner Philosophie. Unter wissenschaftlichem Aspekt verlangt jede Aussage nach ihrer hinreichenden Begründung, die sie rückwärts und vorwärts in einen lückenlosen Zusammenhang mit weiteren Aussagen stellt, was konsequent zu Ende gedacht zu Hegels holistischem Ansatz führt. Im Zusammenschluss einer durchgehenden Entwicklung aller Bestimmungen auseinander hängt alles mit allem zusammen – das Modell dafür ist ein „in sich zurückkehrender Kreis“ (VÄ 1, 43; vgl. Enz, § 17). Realisiert wird dieser Kreis im parallel zu den Ästhetikvorlesungen entstehenden Großprojekt der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, die auch die Kunst in sich enthält. Das im Einleitungsparadox reflektierte Problem entsteht nun dann, wenn ein Teilbereich des Ganzen, in diesem Fall die Kunst, aus dem Ganzen herausgenommen wird, um ihn insbesondere, nicht zuletzt ausführlich zu erörtern. Dann ist der wissenschaftliche Zusammenhang von allem mit allem gleichsam verloren. Ohne Rückbindung und Herleitung der Aussagen im Gang des Systems muss man jetzt einen unmittelbaren Anfang machen und den „Begriff der Kunst sozusagen lemmatisch“, als etwas Gegebenes hilfsweise aufnehmen (VÄ 1, 42; vgl. Hm, 6).
Genau hier macht Hegel die Aufgabe der Einleitung methodisch fest. Über das Phänomen Kunst existieren die verschiedensten Überzeugungen, und bei diesen sei es gewöhnlichen sei es philosophisch bereits elaborierteren Überzeugungen muss die Einleitung ansetzen – nicht um sich in beliebigen Meinungen herumzutreiben, sondern um in der Auseinandersetzung mit vorhandenen Ansichten sukzessive diejenigen Aspekte herauszustellen, die zu einem qualifizierten Begriff der Kunst gehören und den Weg zu seiner wissenschaftlichen, mit dem allgemeinen Teil beginnenden Erörterung bahnen. Hegels technischer Ausdruck dafür ist der konstruktive Umgang mit „Vorstellungen“ (VÄ 1, 43). Der Modus der Vorstellung ist ungenügend. Jedoch gibt es keinen anderen Weg, als in der Diskussion verbreiteter Vorstellungen, der vorausgesetzten Bekanntschaft mit der Materie, zu ihrer systematischen Erkenntnis vorzudringen (vgl. die generelle Parallele in Enz, § 1, sowie früher in der Phänomenologie des Geistes GW 9, 26 f.). Damit wird das Projekt einer Philosophie der Kunst von Anfang an kontextualisiert. Eine Philosophie der Kunst, die im Nullpunkt einer tabula rasa ansetzen würde, wäre in Hegels Augen eine komplette Fiktion.

1.2 Kunst und Wissenschaft: Diskussionen über ein strittiges Verhältnis

Umso interessanter ist, mit welcher Einschätzung aus dem Bereich der Vorstellung die Einleitung beginnt, nachdem zunächst in aller Kürze Gegenstand und Titel des Projekts geklärt worden sind. Den Titel „Ästhetik“ kann man Hegel zufolge verwenden, weil er sich seit Baumgartens Begründung einer neuen Disziplin dieses Namens eingebürgert hat. Da aber die Assoziation einer „Wissenschaft des Sinnes, des Empfindens“ im affekttheoretischen Umgang mit Kunst in die Irre führt, ist der „eigentliche Ausdruck […] für unsere Wissenschaft […] ‚Philosophie der Kunst‘ und bestimmter ‚Philosophie der schönen Kunst‘“ (VÄ 1, 13). Mit dem bestimmten Zusatz schöne Kunst ist die Grenze gegenüber den technischen Künsten und Kunstfertigkeiten gezogen; auch dann, wenn im Weiteren nur von „Kunst“ die Rede ist, ist immer die „schöne Kunst“ im Unterschied etwa zur „Uhrmacherkunst“ gemeint. Das entspricht unserem heutigen Sprachgebrauch, zu dessen Herausbildung Hegels Ästhetik wesentlich beigetragen hat. Was aber macht die „schöne Kunst“ schön? Anstatt sich dieser Frage direkt zuzuwenden, kommt zuerst ein ganz anderer Diskurs in Gang, der nicht dieses oder jenes Detail, sondern das ganze Unternehmen in Zweifel zieht. Das beginnt mit der Kritik am Ausschluss des Naturschönen und setzt sich fort in dem fundamentalen Einwand, ob eine Philosophie der Kunst überhaupt möglich und durchführbar ist. Auf Anhieb spricht alles gegen diesen Plan. Philosophie und Kunst haben nichts miteinander gemein, es handelt sich um zwei völlig verschiedene Welten. Das Ausmaß der Differenz wird von Hegel sehr genau beschrieben, wobei er gegenüber dem Versuch einer Ermäßigung des Konflikts darauf insistiert, dass es nicht um irgendwelche „philosophische Reflexionen“ über Kunst, sondern um „eigentlich wissenschaftliche Betrachtung“ geht (VÄ 1, 18; vgl. Ho, 221). Genau formuliert lautet also die zentrale und ganz grundsätzliche Frage: Gibt es eine philosophische Wissenschaft der Kunst? Lassen sich die Einwände gegen ein solches Unternehmen erfolgreich widerlegen und mit welchen Konsequenzen für die Auffassung sowohl der Kunst als auch der Philosophie ist im Erfolgsfall zu rechnen?
Zum Gewicht dieser Fragen passt, dass man die bedeutendsten Auskünfte über Hegels Ästhetik gleich eingangs der Einleitung findet. Gewiss haben sie hier nur Thesencharakter – die Ausführung ist dem großen Vorlesungsgang überlassen. Aber die Gelegenheit ist günstig und unbedingt zu nutzen: An keiner anderen Stelle seines Werks, und natürlich schon gar nicht in der Enzyklopädie, wo der Status der Philosophie der Kunst ja intern als ausgewiesen gilt, geht Hegel so grundlegend auf die Probleme und Motive seiner Ästhetik ein. Deshalb konzentriere ich mich vor allem auf das Eröffnungskapitel „Widerlegung einiger Einwürfe gegen die Philosophie der Kunst“ inklusive der Frage des Naturschönen und der „Wissenschaftlichen Behandlungsarten des Schönen und der Kunst“ (VÄ 1, 13 – 40). Auf das Kapitel „Gewöhnliche Vorstellungen von der Kunst“ (VÄ 1, 44 – 82), mit dessen in der Hauptsache aus dem Kolleg 1823 stammenden Material die späteren Vorlesungen besonders chaotisch verfahren, werde ich jeweils an geeigneter Stelle verweisen. Im zweiten Schritt geht es um Hegels Darstellung der Vorgängerpositionen (VÄ 1, 83 – 99). Der letzte Schritt gilt dem programmatischen Überblick über die Durchführung des Projekts (VÄ 1, 100 – 124).

1.2.1 Geist und Natur: Der Primat des Kunstschönen vor dem Naturschönen

Mit dem „Ausdruck“ Philosophie der schönen Kunst „schließen wir sogleich das Naturschöne aus“: Das stellt das erste Problem dar, das diskutiert und ausgeräumt werden muss (VÄ 1, 13; vgl. Ke, 1 f.; Hm, 1). Der Ausschluss erscheint als eine „willkürliche Bestimmung“, die sich kontraintuitiv darüber hinwegsetzt, dass wir im „gewöhnlichen Leben […] von schöner Farbe, einem schönen Himmel, schönem Strome, ohnehin von schönen Blumen, schönen Tieren und noch mehr von schönen Menschen“ sprechen (VÄ 1, 13 f.). Das wird von Hegel allerdings auch nicht bestritten, so wie die Begrenzung der Ästhetik auf das Schöne der Kunst generell nicht bedeutet, das Naturschöne zu ignorieren oder gar zu behaupten, dass es so etwas gar nicht gibt. In der Hotho-Edition wird ihm später ein langes Kapitel gewidmet, in dem einschlägige Äußerungen der Nachschriften verarbeitet sind. Worum geht es aber dann?
Aus dem Kolleg 1828/29 stammt ein Argument, das den Willkürverdacht aus wissenschaftstheoretischer Perspektive entschärfen soll. Nicht zufällig hat bisher noch niemand eine systematische Darstellung schöner Natur unternommen – es fehlt das bestimmte Kriterium für eine solche Klassifizierung (VÄ 1, 15; vgl. Hm, 1). Auf Anhieb leuchtet das ein, aber weit trägt das Argument nicht, wie sich alsbald zeigt: Als Produkt freier Phantasie scheint sich das Kunstschöne erst recht wissenschaftlicher Bearbeitung zu widersetzen, während der Bezug auf die Natur immerhin das wissenschaftlich einschlägige Moment der Notwendigkeit verbürgt (VÄ 1, 19; vgl. Hm, 1). Das entscheidende Argument ist darum ein anderes. Dem Willkürverdacht stellt dieses Argument aus dem Kolleg 1826 den Appell an eine normative Dimension entgegen, die uns unseren ästhetischen Naturalismus bewusst machen und ihm entgegenwirken soll. Das Kunstschöne steht „höher“ als die Natur: „Denn die Kunstschönheit ist die aus dem Geiste geborene und wiedergeborene Schönheit, und um soviel der Geist und seine Produktionen höher steht als die Natur und ihre Erscheinungen, um soviel auch ist das Kunstschöne höher als die Schönheit der Natur.“ (VÄ 1, 14; vgl. Ke, 1)
Dass das Kunstwerk „Produkt menschlicher Tätigkeit“ ist, ist eine der „gewöhnlichen Vorstellungen von der Kunst“, die später noch einmal eigens erörtert wird. Allerdings geht gerade auch sie gewöhnlich mit der Meinung des Vorrangs der Natur einher: Anders als die Natur ist das Kunstwerk kein lebendiges, sondern ein totes fühlloses Gebilde (VÄ 1, 48). Um die Behauptung des Vorrangs des Kunstschönen zu rechtfertigen, genügt der Hinweis auf sein „künstliches“ Erzeugtsein demnach nicht. Notwendig ist vielmehr, auf die ganz basale Frage des Verhältnisses von Natur und Geist zurückzugehen. Im Bezug auf die Natur ist Geist das Andere der Natur. Mit dieser dialektischen Bestimmung setzt Hegels Philosophie des Geistes im Übergang aus der Naturphilosophie ein (Enz, § 381), und diese komplexe Bestimmung zeichnet dann auch der Kunst ihre Position vor. Wollten wir im Ernst behaupten, dass der Natur der Vorrang vor dem Geist gebührt, würden wir nichts Geringeres als die Freiheit preisgeben. Selbst der schlechteste Einfall ist einem Naturprodukt vorzuziehen, weil er „Geistigkeit und Freiheit“, den Ausbruch aus dem Naturzwang bezeugt (VÄ 1, 14).
Mit dem Primat des Kunstschönen vor dem Naturschönen tritt so von Anfang an das geistesphilosophische Profil von Hegels Ästhetik hervor (Jaeschke 2014). Als Werk des Geistes konstituiert Kunst einen Bereich eigenen, „schön“ genannten Rechts, der sich, und genau darauf kommt es im Folgenden an, der ganzen Bandbreite des Natürlichen und Sinnlichen in interner Gestaltung öffnet. Dem entspricht, dass die Hierarchie von Natur und Geist nicht als quantitative oder relative Aufstufung, sondern aus der Perspektive einer qualitativen Umkehrung zu verstehen ist: „der Geist erst ist das Wahrhaftige, alles in sich Befassende, so daß alles Schöne nur wahrhaft schön ist als dieses Höheren teilhaftig und durch dasselbe erzeugt“. In diesem Sinne wird das Naturschöne nicht verdrängt. Als „Reflex“ des Geistes ist es aber keine genuine als vielmehr eine kulturell vermittelte Größe (VÄ 1, 14 f.; vgl. vdP, 51; Ke, 2). Mit den Augen des Geistes angesehen, erscheint Natur als schön und das gemalte Bild einer Landschaft nimmt einen höheren Rang als die natürliche Landschaft ein, weil es das Schöne der Landschaft sehen lässt (VÄ 1, 49).
Vor diesem Hintergrund distanziert sich Hegel nicht allein von der Genieästhetik, soweit sie eine im Künstler unbewusst wirkende Macht der Natur behauptet (VÄ 1, 45 ff., 363 ff.). Vor allem ist ihm an der radikalen Emanzipation der Kunst von der von der Antike bis ins 18. Jahrhundert geltenden ästhetischen Vorschrift der Nachahmung der Natur gelegen (VÄ 1, 64 – 70). In der Kritik der Nachahmungsnorm ist Hegels Ästhetik ein durch und durch modernes Projekt. Interessanterweise wird er damit die These verbinden, dass sich nur so verstehen lässt, was Kunst zu allen Zeiten gewesen ist.

1.2.2 Freie Kunst und neue Wissenschaft

Zunächst kommen jetzt aber die entscheidenden Einwände gegen das ganze Unternehmen ins Spiel: Mit dem nunmehr begründeten Fokus auf dem Kunstschönen ist nichts gewonnen, weil zweifelhaft ist, ob sich Kunst überhaupt „einer wissenschaftlichen Behandlung würdig zeige“ und ob sie ein „angemessener Gegenstand“ wissenschaftlicher Betrachtung sei (VÄ 1, 16, 18). Dass das Moment der Wissenschaft ernst zu nehmen ist, wurde bereits gesagt. Andernfalls würde das von Hegel erörterte Problem gar nicht auftreten. Zu beachten ist darum umso mehr, dass die Einwände und ihre Widerlegung im Folgenden nicht nur der Seite der Kunst gelten. Das Kapitel ist deshalb so besonders interessant, weil auch in Frage steht, ob Wissenschaft das geeignete Medium ist, sich mit Kunst zu befassen. Jedes Mal stehen zwei Faktoren in der Diskussion.
Wie sehen die Einwände aus? Erstens ist Wissenschaft mit ernsthaften Dingen befasst, während Kunst der Unterhaltung und Entspannung dient und sich, selbst wenn sie hier und da auch ernstere moralische Zwecke verfolgt, jedenfalls im Medium der „Täuschung“ bewegt: „Denn das Schöne hat sein Leben in dem Scheine.“ (VÄ 1, 17) Zweitens kommt es in der Wissenschaft auf den abstrakten, streng notwendigen Gedanken an, während Kunst sich zwanglos an Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Phantasie adressiert. Ob man für die Seite der Kunst oder für die der Wissenschaft votiert – es handelt sich um zwei völlig verschiedene Formate. Zurecht hält Hegel diese Einwürfe für verbreitete Einschätzungen, die nicht zuletzt in der französischen Literatur ein Echo gefunden haben (VÄ 1, 19). In Sachen des Schönen und des Geschmacks hat man hier vom „je ne sais quoi“ gesprochen: vom unbestimmbaren „gewissen Etwas“ des ästhetischen Gegenstands, der sich begrifflicher Festlegung entzieht (vgl. Baeumler 1923). Auch Kant ist noch überzeugt, dass es eine „Wissenschaft des Schönen“ nicht gibt, was Hegel zweifellos vor Augen steht, wenngleich er es nicht erwähnt (Kant 2006, § 44). Und vielleicht ertappt man sich auch selbst dabei, mit dem ein oder anderen Argument der Unverträglichkeit von Kunst und Wissenschaft zu sympathisieren. Das wäre nicht trivial, sondern die Standardoption, die Hegel in einer Art Überkreuzstrategie konterkariert. Im ersten Fall wird ein verkürztes Kunstverständnis kritisiert (1), im zweiten Fall (das merkt man bereits in der Art der Präsentation der Einwände) ist ein unzureichendes Konzept von Wissenschaft im Visier (2).
(1) Im ersten Fall gib...

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