1.1Muster in wissenschaftlichen Texten â ein neuer Blick auf einen vermeintlich bekannten Gegenstand
Liebe Leserin, lieber Leser,
wissenschaftliche Texte sind voll von Mustern. So wie dieser Text beginnen sie normalerweise nicht. Doch vor einer AnnĂ€herung an das Musterhafte soll dieser Musterbruch dazu dienen, ĂŒber Muster in wissenschaftlichen Texten zu reflektieren. HierfĂŒr möchte ich Sie bitten, die LektĂŒre dieses Textes zunĂ€chst zu unterbrechen und einen anderen wissenschaftlichen Text zur Hand zu nehmen, die erste Seite zu lesen und zu ĂŒberlegen, wo Sie Musterhaftes in dem Text finden.
Sicherlich wurden Sie fĂŒndig. Wie viele Muster haben Sie entdeckt? â Vermutlich wird Ihnen, wenn Sie die Seite des Textes nach der LektĂŒre der vorliegenden Arbeit ein weiteres Mal durchsehen, doppelt so viel Musterhaftes auffallen. Weil Sie den vermeintlich bekannten Gegenstand âwissenschaftlicher Textâ mit einem neuen Blick wahrnehmen.
Wie ergiebig es sein kann, einen neuen Blick auf den Gegenstand âwissenschaftlicher Textâ zu richten, wird im Laufe der hier vorgelegten Arbeit deutlich werden und an spĂ€terer Stelle (s. Kap. 4.1 u. 8.2) anhand eines Textauszugs noch illustriert â zunĂ€chst möchte ich erlĂ€utern, warum dieser neue Blick so ergiebig ist: Analysieren wir einen Text bezĂŒglich seiner Musterhaftigkeit, so tun wir dies immer (teilweise bewusst, teilweise unbewusst) auf Basis unserer LektĂŒreerfahrung. Wir alle werden einen wissenschaftlichen Text als einen solchen identifizieren können. Und wir alle können intuitiv aufgrund unserer LektĂŒreerfahrung und aufgrund der Textmuster, die in unserem Kopf mental gespeichert sind, sagen, wo wir in diesem Text Musterhaftes vorliegen haben. Doch dabei fallen vor allem diejenigen Muster ins Auge, die sich funktional erklĂ€ren lassen oder die aufgrund ihrer Themenspezifik offensichtlich wissenschaftssprachlich sind. Der Blick auf Muster ist geleitet von der Vorstellung, wie ein wissenschaftlicher Text typischerweise beschaffen ist. Dieser Blick entspricht einer hypothesengeleiteten und verifikationsorientierten Analyse, wie sie bisher in der wissenschaftlichen BeschĂ€ftigung mit wissenschaftlichen Texten im Zentrum stand. Sowohl die traditionelle wie auch die jĂŒngere Fachsprachenforschung und ebenso die inzwischen etablierte Wissenschaftslinguistik haben sich mit dem typisch Wissenschaftssprachlichen befasst â ausgehend von der Ăberlegung, welche funktionalen und auch inhaltlichen Anforderungen an wissenschaftliche Texte gestellt werden. Auch die vorliegende Arbeit nimmt die Musterhaftigkeit wissenschaftlicher Texte in den Blick; die bekannte Frage nach der Musterhaftigkeit wird jedoch neu formuliert, um auf diese Weise zu neuen Erkenntnissen zu gelangen (vgl. Perkuhn/ Keibel/Kupietz 2012: 9): Den Kern der Arbeit bildet eine induktive, konsequent datengeleitete korpuslinguistische Analyse. Ziel einer solchen Sprachbeschreibung ist âdie linguistische Beschreibung [des] sprachlichen Usus auf der Basis mathematisch-statistischer Clusteringverfahrenâ (Steyer/Lauer 2007: 493). Der Erkenntniswert dieser Verfahren ist inzwischen unbestritten, und dass diese Vorgehensweise zunehmend Einfluss gewinnt, zeigt sich beispielsweise an der korpuslinguistischen Grammatikschreibung, wie sie in mehreren am Institut fĂŒr deutsche Sprache beheimateten Projekten verfolgt wird.1 Die vorliegende Arbeit folgt dieser Entwicklung und weitet sie auf Textlinguistik und Stilistik aus.
1.2Gegenstandsbereich und Zielsetzung
Gegenstand dieser Arbeit ist die induktive korpuslinguistische Analyse wissenschaftlicher Texte hinsichtlich ihrer sprachlichen Musterhaftigkeit, verbunden mit der theoretischen Einbettung des Untersuchungsgegenstandes, des methodischen Vorgehens sowie nicht zuletzt der Analyseergebnisse. Der Arbeit liegt die Annahme zugrunde, dass das Potential korpuslinguistischen Arbeitens erstens nur mit einem induktiven Vorgehen ausgeschöpft wird und dass es sich zweitens nicht mit quantitativen Analysen allein erschlieĂen lĂ€sst. Auf beide Aspekte sowie auf die Datengrundlage der Analyse soll im Folgenden kurz eingegangen werden, um den Gegenstandsbereich und die Zielsetzung der Arbeit zu konkretisieren.
Trotz des wachsenden Interesses an korpuslinguistischen ZugĂ€ngen und einer stetigen Zunahme korpuslinguistischer Untersuchungen ist festzuhalten, dass nach wie vor viele Arbeiten â trotz quantitativer Analysen â deduktiv vorgehen, im Sinne einer verifikationsorientierten Korpusforschung, bei der fĂŒr im Vorfeld formulierte Hypothesen passende Belege gesucht werden (vgl. den ForschungsĂŒberblick in Kap. 2.4). Korpusdaten stellen dann in erster Linie das âempirische Gewissen oder auch Ruhekissenâ (Steyer 2013: 14) dar. Der Blick auf das Musterhafte ist bei diesem Vorgehen zwangslĂ€ufig eingeschrĂ€nkt auf den offensichtlichen Teil des Musterhaften. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Texte darĂŒber hinaus weit mehr Musterhaftes enthalten. Denn âMusterhaftigkeiten springen nicht immer ins Auge. Oft fĂŒhrt gerade die Tatsache, dass wir immer ein bestimmtes Muster wĂ€hlen, dazu, dass wir es nicht (mehr) als Muster erkennen â es ist sozusagen einfach die âNormalitĂ€tââ (Linke 2011: 39; Ă€hnlich Sinclair 1991: 4; Steyer 2013: 13). Diesem Umstand kann nur eine induktive Herangehensweise gerecht werden, mittels derer sich der Sprachgebrauch maximal unvoreingenommen, d. h. konsequent datengeleitet analysieren lĂ€sst. Auf diese Weise lassen sich auch Muster offenlegen, die jenseits des Vermuteten liegen und bisher unentdeckt blieben. Die Arbeit folgt damit dem Anspruch, âdem PhĂ€nomen Sprache empirisch gerecht zu werdenâ (Kupietz/Keibel 2009: 49, Kursiv. i. O.). Denn bei diesem Vorgehen spricht die SprachoberflĂ€che fĂŒr sich: An ihr wird sichtbar (bzw. durch die Korpusanalyse sichtbar gemacht), welche Muster fĂŒr den Sprachgebrauch eines bestimmten Sprachausschnitts typisch sind.
Die Ăberlegungen lassen sich abschlieĂend zu folgender, der Arbeit zugrundeliegenden Hypothese zusammenfassen: Musterhaft in Texten ist mehr als das, was sich deduktiv erschlieĂen lĂ€sst. ĂberprĂŒft wird diese Hypothese mittels einer induktiven korpuslinguistischen Analyse am Beispiel wissenschaftlichen Sprachgebrauchs.
Als Datengrundlage fĂŒr die Analyse dient ein Korpus mit wissenschaftlichen Texten, die einerseits sprachwissenschaftlichen, andererseits medizinischen Fachzeitschriften entnommen sind. Dieses wird vergleichend mit einem Referenzkorpus mit journalistischen Texten analysiert. Durch die Analyse werden Muster auf Wort- und syntagmatischer Ebene offengelegt, die als musterhaft fĂŒr die Textsorte âwissenschaftlicher Aufsatzâ gelten können und die darĂŒber hinaus â aufgrund des Status des wissenschaftlichen Aufsatzes als Prototyp eines wissenschaftlichen Textes â als musterhaft fĂŒr wissenschaftlichen Sprachgebrauch allgemein anzunehmen sind. Analysiert werden sowohl mehrgliedrige Muster (n-Gramme) als auch Muster, die nur aus einem Wort bestehen (Keywords). Des Weiteren deckt die Analyse musterhafte morphosyntaktische Strukturen auf, sog. morphosyntaktische Muster, die aus vordefinierten Leerstellen bestehen, die flexibel lexikalisch gefĂŒllt werden können.
All diesen Mustern lĂ€sst sich ein textsortentypologisches und stilistisches Potential zuschreiben: Sie tragen zur Textsortenbeschreibung âwissenschaftlicher Aufsatzâ sowie zur Bestimmung des Wissenschaftsstils bei. Hausendorf/Kesselheim liefern aus textlinguistischer Sicht ein Motiv fĂŒr solch eine vergleichende induktive korpuslinguistische Analyse, wenn sie festhalten:
Hinweise auf Textsorten und die ihnen eigene Musterhaftigkeit zeigen sich am deutlichsten in der Zusammenschau einer korpuslinguistischen Untersuchung, in der man sich die Musterhaftigkeit relevanter TextualitÀtshinweise durch Wiederholung und Abweichung in anderen Exemplaren plausibel macht. (Hausendorf/Kesselheim 2008: 171)
Auch Fandrych/Thurmaier betonen die Bedeutung empirisch breit abgestĂŒtzter Analysen besonders fĂŒr die Textsortenbeschreibung auf sprachlicher Ebene (vgl. Fandrych/Thurmair 2011: 22). Im Rahmen der theoretischen Einbettung der Arbeit werde ich deshalb die textlinguistische Perspektive auf Musterhaftigkeit berĂŒcksichtigen â und ebenso die stilistische. Denn das Konzept der Musterhaftigkeit und die VerknĂŒpfung von Musterhaftigkeit und Rekurrenz sind auch in der Stilistik etabliert, oft eng verbunden mit dem Textsortenbegriff. So verweisen W. Fleischer/Michel/Starke (1996: 35) auf âTextsortenstile im Sinne wiederkehrender (rekurrenter) Muster sprachlicher Verwendungsweisenâ.2 Die vorliegende Arbeit folgt einem âneutralen Stilbegriffâ (Auer/BaĂler 2007a: 9): âStilâ wird verstanden als die âArt und Weise, in der etwas gesagt wirdâ (ebd.). Mit Bezug auf den Gegenstandsbereich der Untersuchung bezeichnet âStilâ die Schreibweise in der Textsorte âwissenschaftlicher (Zeitschriften-)Aufsatzâ. Dieser Textsortenstil âkann operationalisiert werden als rekurrentes Auftreten von textuellen Einheitenâ (Bubenhofer/Scharloth 2010: 90).
Mit der Anbindung der Arbeit an die Textlinguistik und Stilistik wird dem Vorwurf begegnet, dass sich korpuslinguistisches Arbeiten zu oft auf quantitatives Analysieren beschrĂ€nkt und eine weiterfĂŒhrende qualitative Analyse sowie eine wissenschaftstheoretische Einbettung zu kurz kommen.3 Gerade in der Verbindung quantitativer und qualitativer Arbeitsschritte zeigt sich jedoch der Mehrwert eines induktiven korpuslinguistischen Vorgehens. Die mittels mathematisch-statistischer Verfahren offengelegten Muster sind empirisch breit abgestĂŒtzt und bilden damit eine geeignete Grundlage fĂŒr eine weitere qualitative Betrachtung. Die Arbeit beinhaltet daher eine formale und funktionale Beschreibung der Muster, immer vor dem Hintergrund ihres Verwendungskontextes und veranschaulicht an exemplarischen Korpusbelegen. ErgĂ€nzend zur Anbindung an die Textlinguistik und die Stilistik werden die AnknĂŒpfungsmöglichkeiten fĂŒr die Sprachnormenforschung und die Schreibforschung sowie fĂŒr die Schreibdidaktik aufgezeigt. Dies ist relevant vor dem Hintergrund, dass die Hochschule neben der Schule ein Haupteinsatzbereich der Schreibdidaktik ist und empirisch fundierte Kenntnisse ĂŒber den wissenschaftlichen Stil gerade auch fĂŒr die Vermittlung wissenschaftlicher Schreibkompetenz notwendig sind. Vor diesem Hintergrund wird auch auf den Zusammenhang von Musterhaftigkeit und Angemessenheit eingegangen und â mit Bezug auf ein gebrauchsbasiertes NormenverstĂ€ndnis, wie es bspw. Kupietz/Keibel (2009) und Zifonun (2009) vertreten â auf mögliche, sich aus diesem Zusammenhang ergebende Implikationen fĂŒr die Beurteilung der TextqualitĂ€t.
Die Arbeit tangiert somit verschiedene Teilgebiete der Linguistik: Sie steht an der Schnittstelle von Textlinguistik, Stilistik sowie â methodisch â Korpuslinguistik und bietet AnknĂŒpfungspunkte fĂŒr die Sprachnormenforschung wie auch fĂŒr die Schreibforschung und Schreibdidaktik.
Noch eine letzte Anmerkung zum Zielpublikum sei geĂ€uĂert: Die Arbeit richtet sich dezidiert auch an diejenigen, die keine Kenntnisse im korpuslinguistischen Arbeiten mitbringen. Einige AusfĂŒhrungen sind aus diesem Grund ausfĂŒhrlicher, als es vielleicht zu erwarten wĂ€re (bspw. zum Korpusbegriff, Kap. 4.2.2). Ein wesentliches Anliegen besteht darin, Nutzen und Mehrwert einer induktiven korpuslinguistischen Herangehensweise aufzuzeigen. Wenn das methodische Vorgehen dem Leser darĂŒber hinaus als Anregung zu eigener korpuslinguistischer Forschung dient, wĂ€re ein weiteres Ziel der Arbeit erreicht.
1.3Aufbau der Arbeit
Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert: einen theoretischen Teil, der die wissenschaftstheoretischen Grundlagen behandelt, einen empirischen Teil, in dem die Methode erlĂ€utert und die Korpusanalyse sowie deren Ergebnisse beschrieben werden, und einen abschlieĂenden dritten Teil, in dem die Analyseergebnisse aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und mögliche thematische und methodische AnknĂŒpfungspunkte skizziert werden. Jedes Kapitel wird durch eine Zusammenfassung abgerundet.
Im Rahmen der theoretischen Grundlagen in Teil I wird einerseits der Untersuchungsgegenstand âWissenschaftsspracheâ von verschiedenen Seiten beleuchtet (Kap. 2), andererseits auf die Aspekte âMusterâ und âMusterhaftigkeitâ eingegangen (Kap. 3). ZunĂ€chst werden die Rahmenbedingungen wissenschaftlichen Sprachgebrauchs skizziert: wer an der Kommunikation teilnimmt, welche KommunikationsanlĂ€sse bestehen, welche kommunikative Funktion die wissenschaftliche Kommunikation erfĂŒllt und in welchen Realisierungsformen sie vorliegt (Kap. 2.1). Darauf aufbauend gehe ich der Frage nach, inwiefern von einer Wissenschaftssprache oder verschiedenen Wissenschaftssprachen auszugehen ist (Kap. 2.2). Dabei werden die kommunikative Funktion, die Kommunikationssituation, Disziplin und Kultur als mögliche Einflussfaktoren fĂŒr und wider Varianz in der Wissenschaftssprache diskutiert. Im Anschluss daran wird Wissenschaft als Diskurs und soziales System beschrieben (Kap. 2.3), was sich wiederum in der wissenschaftlichen Kommunikation niederschlĂ€gt, bspw. in der notwendigen diskursiven Einbettung wissenschaftlicher Texte und in der sozialen Verbindlichkeit des musterhaften Sprachgebrauchs. In diesem Zusammenhang wird auch dargelegt, welcher Stellenwert dem wissenschaftlichen Aufsatz im wissenschaftlichen Diskurs zukommt, um deutlich zu machen, dass sich die Aussagekraft der Korpusanalyse nicht auf den Sprachgebrauch in wissenschaftlichen AufsĂ€tzen beschrĂ€nkt, sondern darĂŒber hinausreicht. Das Kapitel zum Untersuchungsgegenstand âWissenschaftsspracheâ wird durch einen Ăberblick ĂŒber wissenschaftliche Untersuchungen zur Wissenschaftssprache abgerundet (Kap. 2.4). Hierbei werden ausgewĂ€hlte, fĂŒr die vorliegende Arbeit aufschlussreiche Untersuchungen genauer betrachtet.
Das folgende Kapitel behandelt die Aspekte âMusterâ und âMusterhaftigkeitâ. Unter RĂŒckbezug auf bestehende Verwendungsweisen von âMusterâ und in Abgrenzung zu Ă€hnlichen Analysekonzepten wird der dieser Arbeit zugrundeliegende Musterbegriff definiert (Kap. 3.1). Sodann werden Muster aus kognitivistischer Sicht als Teil des Sprachbewusstseins und aus pragmatischer und korpuslinguistischer Sicht als Teil des Sprachgebrauchs beschrieben (Kap. 3.2). Dabei wird darauf hingewiesen, dass eine ...