1Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen
Sowohl die Anlage repräsentativer Umfragen als auch deren Analyse erfolgen nicht im wissenschaftstheoretisch „leeren Raum“. Sie stützen sich im Gegenteil auf ein ganz bestimmtes Wissenschaftsverständnis, das in diesem Kapitel in groben Zügen dargestellt wird. Auch wenn das Kapitel sehr kurz gehalten ist und die Lektüre eine Einführung in die Wissenschaftstheorie nicht ersetzen kann, stellt es dennoch keine unwesentliche „Pflichtübung“ zu Beginn des „eigentlichen“ Buches dar. Ganz im Gegenteil: Wer sich für die Durchführung einer repräsentativen Umfrage entscheidet, der akzeptiert damit in aller Regel bestimmte wissenschaftstheoretische Vorstellungen – etwa darüber, welche Aussagen überhaupt prüfbar sind und welche nicht. Ferner wird, grundlegender noch, stillschweigend davon ausgegangen, dass die Welt – auch im sozialen Bereich – aus Gegenständen besteht, die verschiedene Merkmale aufweisen6, wobei die Beziehungen zwischen diesen Merkmalen (oder auch die Merkmale selbst) festen Regeln oder Gesetzen7 unterworfen sind. Damit akzeptiert man in letzter Konsequenz auch den Gedanken einer „Einheitswissenschaft“, d. h. naturwissenschaftliche Erfahrungswissenschaften wie Physik oder Chemie unterscheiden sich von Sozialwissenschaften wie Soziologie, Psychologie oder Politikwissenschaft nach diesem Verständnis nur durch den zentralen Forschungsgegenstand, nicht jedoch durch die grundlegenden Forschungsprinzipien. Diese Annahme ist keineswegs unumstritten. Interaktionistisch orientierte Theoretiker beispielsweise würden dem heftig widersprechen, ebenso wie die meisten qualitativ arbeitenden Forscherinnen und Forscher8. Repräsentative Umfragen werden in aller Regel im Rahmen von „quantitativer empirischer Sozialforschung“ (oder auch nur kurz „empirischer Sozialforschung“)9 durchgeführt. „Empirische“ Forschung bedeutet dabei, dass Wahrnehmungen über die Realität den Maßstab darstellen, anhand dessen beurteilt wird, ob eine Aussage (vorläufig) als „wahr“ akzeptiert wird oder nicht. Mit „quantitativer“ Vorgehensweise ist gemeint, dass man versucht, das Auftreten von Merkmalen und ggf. deren Ausprägung durch Messung (Quantifizierung) zu erfassen.
Aussagen10
Akzeptiert man den oben skizzierten Standpunkt, dann besteht eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft darin, Gesetze, die nach unserer Vorstellung in den verschiedenen Bereichen „der Welt“ herrschen, zu überprüfen. Sprachlich ausgedrückt werden sie in „Aussagen“, und zwar in empirischen Aussagen11. Empirische Aussagen sind empirisch wahr oder falsch. Sie sagen etwas darüber aus, ob ein bestimmter Sachverhalt oder ein Zusammenhang vorliegt oder nicht. Tafel 1-1 zeigt eine Möglichkeit, empirische Aussagen einzuteilen. Auf diese Einteilung wird weiter unten Bezug genommen.
Tafel 1-1: Einteilung empirischer Aussagen nach dem Umfang ihres Geltungsbereichs
kursiv: raum-zeitliche Abgrenzung
Gegenstand der quantitativen empirischen Sozialforschung sind in aller Regel korrelative Aussagen. Korrelative Aussagen behaupten Zusammenhänge zwischen dem Auftreten verschiedener Sachverhalte oder zwischen den Ausprägungen verschiedener Merkmale. Man unterscheidet dabei deterministische Aussagen12 (Wenn X, dann immer Y), probabilistische Aussagen (Wenn X, dann mit einer Wahrscheinlichkeit von p Prozent Y), und stochastische Aussagen13. Korrelative Aussagen werden dann kausale Aussagen genannt, wenn sie behaupten, X sei die Ursache von Y14. Kausale Aussagen werden meist in der Form von Wenn-Dann- oder Je-Desto-Aussagen formuliert.
Begriffe
Aussagen setzen sich aus miteinander verknüpften Wörtern und Wortkombinationen zusammen. Betrachten wir zum Beispiel folgende Aussage, von der wir annehmen, sie gelte für alle wahlberechtigten Bundesbürger:15
Wenn eine Person gewerkschaftlich gebunden ist, dann ist ihr die SPD unter allen Parteien des Parteienspektrums am sympathischsten.
Auch wenn diese Aussage auf den ersten Blick sehr präzise formuliert aussehen mag, ein zweiter Blick lässt rasch erkennen, dass in ihr Wörter und Wortkombinationen verwendet werden, deren Bedeutung nicht ganz klar ist. Nehmen wir beispielsweise „gewerkschaftlich gebunden“ bzw. substantiviert: „Gewerkschaftsbindung“. Von zwei Personen, die darlegen sollen, was sie sich unter „Gewerkschaftsbindung“ vorstellen, könnte die eine – eine Studentin – antworten: „die Ansicht, dass Gewerkschaften Werte vertreten, die sich am ehesten mit den eigenen Werten decken, und eine daraus resultierende ‚geistige Nähe‘ zu den Gewerkschaften“, während die andere Person – ein Arbeiter – sagen könnte: „die Ansicht, dass die Gewerkschaften (konkrete) politische Maßnahmen durchsetzen, die dem ‚kleinen Mann‘ das Leben erleichtern, und eine Befürwortung der Gewerkschaften aus diesem Grund“. Beide Personen verbinden mit dem Wort „Gewerkschaftsbindung“ unterschiedliche Vorstellungsinhalte.
Der Ausgang unseres Gedankenexperiments ist nicht verwunderlich. Wenn wir ein Wort (oder allgemein: ein sprachliches Zeichen) wie „Gewerkschaftsbindung“ verwenden, dann verbinden wir damit einen Vorstellungsinhalt, der „in unserem Kopf“ existiert, nicht jedoch die entsprechenden Phänomene16 selbst. Ein Vorstellungsinhalt ist nur ein mehr oder weniger vollständiges Modell hiervon, das der Realität mehr oder weniger gerecht wird und sich auf einen mehr oder weniger großen Ausschnitt derselben bezieht. Anhand von Tafel 1-2 ist dieser Gedankengang nochmals nachvollziehbar.
Unter einem „Begriff“17 wird im Folgenden ein Wort (bzw. eine Wortkombination) verstanden, das einen bestimmten Vorstellungsinhalt repräsentiert18. In Tafel 1-2 ist diese Definition veranschaulicht. Als zusätzliches Beispiel diene das Wort „Sonnenuntergang“. Ein Spanier – ohne Kenntnis der deutschen Sprache – kann dieses Wort zwar hören, lesen und vielleicht auch sprechen, es „sagt“ ihm jedoch nichts. Ein „Begriff“ entsteht erst, wenn das Wort mit einem Vorstellungsinhalt verbunden wird. Erst dann repräsentiert es einen Vorstellungsinhalt, der sich auf die entsprechende, am Abendhimmel oft (in unzähligen konkreten Erscheinungsformen) zu beobachtende Klasse von Phänomenen bezieht. Die in der Realität auftretenden Phänomene werden auch Designata (Singular: Designat) genannt.
Tafel 1-2: Begriffe, empirische Phänomene, Wörter und Vorstellungsinhalte: eine Übersicht
Nominaldefinition
Kommen wir zurück zu unserem Gedankenexperiment. Offenbar ist unklar, was in der Aussage: „Wenn eine Person gewerkschaftlich gebunden ist, dann ist ihr die SPD unter allen Parteien des Parteienspektrums am sympathischsten“ unter dem Begriff „Gewerkschaftsbindung“ zu verstehen ist. Zwei Wissenschaftler, die sich über die Auswirkungen einer langjährigen Gewerkschaftsbindung unterhalten, könnten aneinander vorbei reden, wenn nicht klar ist, welche Vorstellungsinhalte das Wort „Gewerkschaftsbindung“ repräsentieren soll19. Um dies zu vermeiden, werden in der empirischen Forschung die jeweils zentralen Ausdrücke (Wörter/Wortkombinationen) definiert. Hierzu verwendet man Nominaldefinitionen. Im vorliegenden Fall könnte die Nominaldefinition eines Forschers verbal lauten: „Ich nenne eine Person dann ‚gewerkschaftlich gebunden‘, wenn sie Gewerkschaftsmitglied ist und Sympathie für die Gewerkschaften empfindet“ oder formal:
Gewerkschaftsbindung = df. Gewerkschaftsmitgliedschaft
plus: Empfinden von Sympathie für die Gewerkschaften20
Nominaldefinitionen sind rein sprachliche Konventionen. Ein Ausdruck, dessen Bedeutung als bekannt vorausgesetzt wird, wird dem zu definierenden Ausdruck zugewiesen, um möglichst klarzumachen, welche empirischen Phänomene dem betreffenden Wort (oder der Wortkombination) zuzuordnen sind21. Der zu definierende Ausdruck, das Definiendum, und der zur Definition herangezogene Ausdruck, das Definiens, sind identisch. Nominaldefinitionen können damit nicht (empirisch) „richtig“ oder „falsch“ sein. Ein extremes Beispiel: Auch die Nominaldefinition: „Ich nenne eine Person dann ‚gewerkschaftlich gebunden‘, wenn sie Schuhgröße 42 hat“, wäre nicht falsch, sondern nur (sehr) unzweckmäßig, weil sie mit unserem Alltagsverständnis von „Gewerkschaftsbindung“ nichts gemein hat.
An diesem extremen Beispiel wird auch deutlich: Nominaldefinitionen sagen nichts über das „Wesen“ der empirischen Phänomene, die der zu definierende Ausdruck bezeichnet, aus22.
Indikatorenbildung und Operationalisierung
Sollen Aussagen wie das Eingangsbeispiel: „Wenn eine Person gewerkschaftlich g...