1.1 Die Grenzen der Wissenschaft angesichts der Problematik der Sünde
1.1.1 Ein Buch, dessen Titel vom Thema abweicht
Der Begriff Angst ist der Titel eines Buches, das nicht – wie es prima facie scheinen könnte – von dem psychologischen Phänomen der Angst handelt16, sondern von dem christlich geprägten Begriff der Sünde, ja gar von einer selbstverschuldeten sündhaften Freiheit des Menschen.17 In der Einleitung der Schrift kommt der Begriff Angst, der eigentlich das Thema sein sollte, kaum vor. An den Stellen, an denen er vorkommt, wird entweder einfach der Buchtitel sinngemäß wiedergegeben18 oder wird der Angst-Begriff nebenbei zum Zweck anderer Erklärungen genannt19. Der Begriff Angst soll zwar „psychologisch“ so abgehandelt werden, dass das Dogma von der Erbsünde „in mente und vor Augen“ steht20. Es geht in der Einleitung aber lediglich darum, „mit welchem Recht“ Vigilius Haufniensis „die vorliegende Schrift eine psychologische Überlegung“ genannt hat, und „in welchem Sinne sie […] in die Psychologie gehört; und wieder zur Dogmatik tendiert.“21
1.1.2 Die Topographie von Kierkegaards „Wissenschaftslehre“
Warum Kierkegaard diese Schrift nicht mit dem eigentlichen Thema – nämlich dem dogmatischen Begriff der Sünde – betitelt, erklärt sich aus dem, was er in der Einleitung mit seiner ihm eigentümlich ironischen Haltung entwickelt, nämlich der spottenden Kritik an dem Versuch des Hegelianismus seines Zeitalters22, verschiedene Wissensbereiche zu einem umfassenden immanenten Wissenschaftssystem zusammenzufassen. Diese Kritik zielt aber gleichzeitig darauf, seine eigene Bescheidenheit in demselben Anliegen widerzuspiegeln: Was zum Bereich der Freiheit gehört, steht außerhalb der Reichweite der wissenschaftlichen Erklärung, ist also in diesem Sinne transzendent23.
So ist es zum Beispiel nach Kierkegaards Anschauung irreführend, die Wirklichkeit, die in ihrem Begriff Zufälligkeit und Geschichtlichkeit beinhaltet, als Teil der Logik, die für Notwendigkeit stehen soll, zu verstehen; es misslingt ebenfalls völlig, wenn man den Glauben als das aufzuhebende Unmittelbare zu fassen, mit dem Begriff der Versöhnung das gedanklich Widersprüchliche aufzuheben, und die (logische, also immanente) Bewegung mit dem Negativen (als das notwendige Andere) anzutreiben versucht, das wiederum mit dem ethisch Bösen gleichzusetzen ist.24. Hier liegt im Zentrum der Gegensatz von Sein und Werden, von Zustand und Bewegung, von Notwendigkeit und Freiheit, und im ähnlichen Sinne von Immanenz und Transzendenz: „In der Logik darf keine Bewegung werden; denn die Logik ist, und alles Logische ist nur; und diese Ohnmacht des Logischen bildet den Übergang der Logik zum Werden, wo Dasein und Wirklichkeit hervortreten“25. Der Begriff Bewegung ist „selbst eine Transzendenz“, die „in der Logik keinen Platz finden kann“26 „[…] ein Werden mit Notwendigkeit [im Vergleich zu dem mit Freiheit] ist ein Zustand […]“27.
1.1.3 Die Stimmungsverschiedenheit als topographische Regel der Wissenschaft
Wissenschaften müssten ihre Grenzen kennen und sich mit dem, was sie können und nicht können, zufriedengeben. Hier gilt außerdem die Regel der Stimmungsverschiedenheit – der Verschiedenheit mentaler Einstellungen28 –, die Kierkegaard mit der ihm eigentümlichen Sensibilität entwickelt hat: „Daß auch die Wissenschaften, ebensosehr wie Poesie und Kunst, Stimmung sowohl beim Produzierenden wie auch beim Rezipierenden voraussetzt, daß ein Fehler in der Modulation ebenso stört wie ein Fehler in der Gedankenentwicklung, hat man in unserer Zeit völlig vergessen […]“29. In der Ästhetik (in diesem Kontext etwa mit Literatur – beziehungsweise Kunstkritik gleichzusetzen)30 wird der Gegenstand der Untersuchung entweder als komisch oder tragisch behandelt. Beides ist jedoch – wegen der Interessenlosigkeit – nicht ernsthaft genug für das Thema der Sünde. In der Metaphysik herrscht die kühne Nichtdifferenziertheit, als ob die Sünde denjenigen, der sie begeht, überhaupt nichts angehe. Die Sünde ist hier zwar begrifflich aufzuheben, überwinden kann man sie aber nicht. Die Psychologie beobachtet die Sünde neugierig mit Antipathie, und entdeckt sie ängstlich als einen Zustand, der sie aber keineswegs ist. „[…] die Sünde ist kein Zustand. Ihre Idee ist, daß ihr Begriff ständig aufgehoben wird“31. Die Sünde gehört eigentlich nur zum Gespräch eines Ich-Du-Verhältnisses, ist nur Gegenstand der Reue und der Verzeihung.
Auch wenn die Abhandlung der Sünde in der Ethik stimmungsgemäß32 nicht zu bestreiten ist, so stellt Kierkegaard doch ein anderes Argument dagegen. Die Ethik scheitert an der Sünde, da sie die Idealität (Normalität) voraussetzt. Sie geht davon aus, dass jeder die Voraussetzung besitzt, das höchste Gut zu erreichen. Mit der Wirklichkeit der Sünde – nämlich der Tatsache, dass jeder zugleich disponiert ist, die Sünde zu begehen – weiß die Ethik nichts anzufangen, da sie als Wissenschaft immanent bleibt. Lediglich eine Erklärung de potentia kann sie anbieten, nicht aber de actu.33 Hier tritt die Dogmatik34 an ihre Stelle und entwickelt die Idee der Erbsünde, um den Sündenfall eines Jeden zu erklären. Wie diese Hilfeleistung alles durcheinandergebracht hat, darauf kommt Kierkegaard erst später zu sprechen.35
Die Sünde ist also kein Thema, das wissenschaftlich abgehandelt werden kann. Der Begriff Sünde beinhaltet ein Moment der freien Wahl, eine entschiedene Handlung, die nicht rückgängig gemacht werden kann. Der Begriff ist so transzendent, dass kein logischer Satz daraus geschlossen werden kann; und die Entscheidung ist so individuell, dass keine allgemein gültige Regel aufgestellt werden kann. Es ist nach Kierkegaards Auffassung letztlich nicht möglich, eine wissenschaftliche Abhandlung über den Begriff der Sünde zu schreiben.
1.1.4 Wissenschaftstheoretische Verortung des Themas
Stattdessen darf man jedoch versuchen, sich diesem verfänglichen Thema anzunähern, indem man die Ethik – als die einzige Wissenschaft, die stimmungsgemäß zu dem Thema passt – ihren Grenzen nach so umgestaltet, dass sie mit dem Wirklichkeitssinn der Dogmatik anfängt und nach Idealität strebt. Sie „setzt die Dogmatik voraus und mit ihr die Erbsünde und erklärt nun aus ihr die Sünde des Einzelnen, während sie zugleich die Idealität zur Aufgabe macht, jedoch nicht in einer Bewegung von oben nach unten, sondern von unten nach oben“36. Die Bewegung ist also von der Tatsache der Sündhaftigkeit eines Jeden ausgehend zur Idealität der Überwindung der Sünde durch den Sprung ins Verhältnis zu Gott. Sowohl der Ausgang als auch das Ziel dieser Bewegung ist transzendent. Der Sündenfall und die Erlösung sind freie Tathandlungen, die auf der Entscheidung eines jeden Einzelnen beruhen. Eine neue Fassung der Ethik, die Kierkegaard „die zweite Ethik“37 nennt, bewegt sich als Wissenschaft dazwischen. Ihre Rolle ist es, die Sache abzuklären und die Richtung der Bewegung aufzuweisen.
Mit dem Der Begriff Angst möchte Kierkegaard jedoch keine erbauliche Abhandlung über die Sündhaftigkeit des Menschen schreiben. Diese Aufgabe übernimmt eine andere Schrift, die er fünf Jahre später publizierte, nämlich Die Krankheit zum Tode, die von der als Sünde zu sehenden Verzweiflung handelt.38 Michael Theunissen hat darauf hingewiesen, dass „[i]n der geheimen Systematik der Schriften Kierkegaards […]“ genau diese Schrift „die Stelle einer zweiten Ethik“ einnimmt, „deren Einordnung ins Ganze dem Vorbild der zweiten, der positiven Philosophie Schellings folgt. Sie setzt demzufolge mit der Dogmatik, von der Kierkegaard dies ausdrücklich sagt, die gesamte Faktizität voraus […]“39. Im Gegensatz dazu ist die Angstschrift eine psychologische Abhandlung im Sinne einer Beschreibung des subjektiven Geistes (im Verständnis des zeitgenössischen Hegelianismus)40, der disponiert ist, Sünde zu begehen. Seine Methode ist die beobachtende Spekulation, deren Gegenstand „das Bleibende“ ist, „dasjenige, woraus die Sünde ständig wird und entsteht, – nicht mit Notwendigkeit […]; sondern mit Freiheit – dieses Bleibende, die disponierende Voraussetzung, die reale Möglichkeit der Sünde […]“41. Dass die ganze Schrift sich lediglich im Möglichkeitsbereich bewegt und Gedankenexperimente aufstellt, wie der Sündenfall bei jedem Einzelnen geschehen könnte und wie es aussehen könnte, wenn einer die Sünde begangen hat, kann man schon daraus erkennen, wenn man Folgendes liest:
Dasjenige, was die Psychologie beschäftigen kann und womit sie sich beschäftigen kann, ist die Frage, wie die Sünde entstehen kann, nicht daß sie entsteht. Sie kann es in ihrem psychologischen Interesse so weit bringen, daß es ist, als wäre die Sünde da; aber das nächste, daß sie da ist, unterscheidet sich hiervon qualitativ. Wie sich nun diese Voraussetzung dem Blick der sorgfältigen psychologischen Kontemplation und Beobachtung als etwas mehr und mehr Umsichgreifendes zeigt, darauf richtet sich das Interesse der Psychologie; […].42
Und ferner ganz zutreffend:
Daß die menschliche Natur so beschaffen sein muß, daß sie die Sünde möglich macht, ist, psychologisch betrachtet, allerdings wahr; aber die Absicht, diese Möglichkeit der Sünde zu ihrer Wirklichkeit werden zu lassen, empört die Ethik und klingt für die Dogmatik wie eine Blasphemie; denn die Freiheit ist niemals möglich; sobald sie ist, ist sie wirklich […].43
Somit mag deutlich geworden sein, wieso Kierkegaard seine – sowohl inhaltlich wie stilistisch – wissenschaftliche Abhandlung nicht mit dem Gegenstand seiner Spekulation betitelt, nämlich der Sünde, sondern mit dem Begriff Angst – als dem, womit er den Zugang zur Wirklichkeit der Sünde glaubt eröffnen zu können. Dass die Angst den Sündenfall ermöglichen soll, sieht Kierkegaard als die reale Möglichkeit der Sünde, da es um die Individuation der sündhaften Disposition in jedem Einzelnen geht. Dass aber jeder Einzelne sündhaft sein kann, gehört zur Bestimmung der Spezies, die von der christlichen Dogmatik als Erbsünde festgestellt worden ist. Diese nennt Kierkegaard die ideelle Möglichkeit der Sünde, da sie zur Idee des Menschen als Geschlecht gehört.44 Durch diese wird die Sünde de potentia vorausgesetzt, die als Wesenscharakteristik des Menschen als Gattung – oder mit Vigilius’ Worten: als Geschlecht – von jedem Einzelnen im Sprung freiwillig übernommen werden soll. Mit jener will Vigilius nun eine rückblickende Erklärung der Sünde de actu geben, die auf keinen Fall den Sprung zu erklären beansprucht, sondern nur den Zustand vor dem Sprung, da der Zustand den Gegenstand der Psychologie bilden soll.45 Die verschiedenen Wissensbereiche sind in dieser Problematik aber nicht nahtlos aneinander gereiht, da sowohl die Setzung der Sünde (Sündenfall) als auch die Überwindung der Sünde (Sprung in den Glauben) der individuellen Entscheidung unterliegen und jeder wissenschaftlichen Untersuch...