1.Einleitung
1.1EinfĂŒhrung in die Themen- und Fragestellung
Bei allen derzeit in Deutschland noch zur Stromerzeugung genutzten Atomreaktoren1 handelt es sich â ebenso wie beim ĂŒberwiegenden Anteil der Anlagen weltweit, darunter auch der jĂŒngste UnglĂŒcksreaktor in Fukushima â um sogenannte Leichtwasserreaktoren. Die Hauptlinie dieses Typs2 stellt dabei die direkte Weiterentwicklung eines atomaren U-Boot-Antriebs der US-amerikanischen Marine dar, der erstmals in dem mit seiner Polarunterquerung bekannt gewordenen Unterseeboot USS Nautilus eingesetzt wurde. Als Prototyp der heutigen Kernkraftwerke kann die 1957 in Betrieb genommene Anlage in Shippingport, Pennsylvania, gelten. Sie basierte in wesentlichen Teilen ihrer Technik auf vergröĂerten Varianten von Komponenten des Reaktors auf der Nautilus.3
Dass die Nutzbarmachung der bei der Atomkernspaltung entstehenden Energie schon frĂŒh vor allem unter militĂ€rischen Aspekten erforscht wurde, ist allgemein bekannt. Weniger im Bewusstsein der Ăffentlichkeit verankert hingegen ist die Tatsache, dass auch die zur Stromerzeugung verwendeten Atomanlagen technisch nie eine wirkliche Abgrenzung zum militĂ€rischen Verwendungsbereich erfuhren. Welche Konsequenzen sind aus der Kenntnis um diese NĂ€he abzuleiten fĂŒr eine Beurteilung der bundesdeutschen Kerntechnik? Deren Entwicklung stand, nachdem die deutsche Atomforschung im Zweiten Weltkrieg an der Bereitstellung einer kriegsentscheidenden Waffe gescheitert war, von Anfang an unter der PrĂ€misse, militĂ€rischen Interessen nicht dienen zu dĂŒrfen. Dies zumindest war der Eindruck, den ĂŒberzeugender noch als die Protagonisten der Anfangszeit die spĂ€teren WortfĂŒhrer der Atomtechniknutzung in der Ăffentlichkeit zu verbreiten suchten.
Die vorliegende Arbeit widmet sich den Aufbaujahren der kerntechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik. Der zeitliche Rahmen reicht dabei von 1954, als die verschiedenen Akteursgruppen in Erwartung der bevorstehenden bundesdeutschen SouverÀnitÀt ihre Vorbereitungen konkretisierten und seitens der Wirtschaft erste organisatorische Strukturen geschaffen wurden, bis 1963, als nicht nur Konrad Adenauers Kanzlerschaft endete, sondern auch das Beharren auf einem eigenen und von den USA unabhÀngigen Reaktortyp aufgegeben wurde. Dieser Typ, der sogenannte Schwerwasserreaktor, war anders als der US-amerikanische Leichtwasserreaktor kein ehemaliger U-Boot-Antrieb, sondern stand in der Tradition der deutschen Forschungen wÀhrend des Krieges und war in den 1950er Jahren weitgehend von denselben Forschern weiterentwickelt worden. Er fand Verwendung in drei Anlagen: zweifach im Kernforschungszentrum Karlsruhe und einmal im Kernkraftwerk Niederaichbach.
Die Analyse der Entstehungsgeschichte dieser Anlagen macht einen wichtigen Teil der vorliegenden Arbeit aus. Sie soll dazu dienen, die Ungereimtheiten aufzuzeigen, die sich aus der Deklaration der bundesdeutschen Kerntechniknutzung als per se âfriedlichâ einerseits und der in höchstem MaĂe subventionierten Forschung an potenziell militĂ€risch verwendbaren GroĂanlagen andererseits ergeben. Dass die der Atomkraft von ihren BefĂŒrwortern stets zugeschriebene Eigenschaft als zumindest potenziell billigste Energiequelle dabei niemals RealitĂ€t war, offenbarte sich nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Im Gefolge des Schocks ĂŒber die AnfĂ€lligkeit auch westlicher Anlagen wurde selbst im atomkraftnahen Lager manche Aussage getĂ€tigt, die nicht mehr der frĂŒher geltenden Diktion entsprach. âWenn man die Kernenergie allein an den Geboten der Marktwirtschaft messen wollteâ, so der damalige FDP-GeneralsekretĂ€r Christian Lindner im April 2011, âhĂ€tte es sie nie geben können.â4
Doch welche Motive standen dann hinter der Atomkraftnutzung in der Bundesrepublik? Die hier vorgenommene Untersuchung widmet sich den Interessen maĂgeblicher Akteure aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und MilitĂ€r. Vorrangig wird erörtert, inwiefern der öffentlich von allen Beteiligten gelobte und schlieĂlich auch geĂŒbte Verzicht auf die Herstellung bundesdeutscher Kernwaffen tatsĂ€chlich beabsichtigt war. Dienten die VerzichtserklĂ€rungen möglicherweise dazu, die Ziele der Protagonisten zu verhĂŒllen, um in Ruhe eine Option auf die Produktion nationaler Kernwaffen schaffen zu können? Im Zentrum der Arbeit stehen dabei VorgĂ€nge rund um die Errichtung der ersten beiden Schwerwasserreaktoren im Kernforschungszentrum Karlsruhe. Es soll im Folgenden gezeigt werden, dass die Wahl der zu verwendenden Reaktortechnologie deutlich stĂ€rker als bisher angenommen von der Frage beeinflusst wurde, welcher Typ die gröĂere Menge an waffenfĂ€higem Plutonium zu produzieren in der Lage sei. TatsĂ€chlich legt insbesondere die Analyse der technologischen Entscheidungen den Schluss nahe, dass der in Tradition zu den deutschen Kriegsforschungen stehende Schwerwasser-Natururanreaktor von der Regierungspolitik vorrangig gefördert wurde, um die Voraussetzungen fĂŒr eine bundesdeutsche Atombombenproduktion zu schaffen.
In diesem Zusammenhang ebenso wie in Verbindung mit den Forschungen im Zweiten Weltkrieg ist die Rolle der beteiligten bundesdeutschen Kernforscher zu betrachten. Inwieweit konnten diese â die nach auĂen hin schon vor der âGöttinger ErklĂ€rungâ einen rein an zivilen Verwendungszwecken der Kerntechnik interessierten Kurs zu verfolgen vorgaben â um die militĂ€risch-diplomatischen Ambitionen der Bundesregierung wissen? Falls ja, wie gingen sie mit ihrem Wissen um? Welche Motive bewegten die Kernforscher dazu, trotz ihrer öffentlichkeitswirksam bekundeten Ablehnung militĂ€rischer Atomforschung die Ăffentlichkeit nicht ĂŒber die aus der von ihnen gleichzeitig zur Nutzung empfohlenen zivilen Kerntechnik automatisch entstehenden militĂ€rischen Möglichkeiten aufzuklĂ€ren? Glaubten sie aufrichtig daran, dass die Atomkraft bei ziviler Nutzung segensreich sein könnte, dass aber eine Verwirklichung dieser Vision ohne die staatliche UnterstĂŒtzung fĂŒr fraglich erachtet werden musste? Zugleich ist zu fragen, ob in einer solchen Haltung nicht auch partielle KontinuitĂ€ten im Verhalten der beteiligten Wissenschaftler zu erkennen sind, die vom âDritten Reichâ ĂŒber die âStunde Nullâ hinaus bis weit in die Geschichte der Bundesrepublik hineinreichen in Form einer bereitwilligen Anpassung an von Politik und MilitĂ€r vorgegebene Anforderungen bei gleichzeitiger Legitimierung der eigenen Forschungen als unpolitisch.
Zu ĂŒberprĂŒfen ist darĂŒber hinaus, inwieweit das Zusammenwirken der relevanten Akteursgruppen generell in der Tradition deutscher GroĂforschung steht. Wie zu zeigen ist, bildeten die am Aufbau der bundesdeutschen Kerntechnikinfrastruktur Beteiligten eine nach auĂen weitgehend abgeschlossene Gruppe. Dieser Kreis Eingeweihter war beschrĂ€nkt auf relativ wenige, jedoch an entscheidenden Stellen wirkende Mitglieder. Neben Vertretern der Politik gehörten ihm auch Wissenschaftler, MilitĂ€rs und FĂŒhrungskrĂ€fte der fĂŒr die Kerntechnikentwicklung relevanten GroĂfirmen an, die das von der Politik vorgegebene Ziel einer unter strikter Geheimhaltung zu verwirklichenden atomaren RĂŒstung der Bundesrepublik aus teils unterschiedlichen Eigeninteressen heraus stĂŒtzten. Der strukturelle Rahmen der bundesdeutschen Atomforschung im Betrachtungszeitraum kann aufgrund der engen Zusammenarbeit der partizipierenden Akteursgruppen als militĂ€risch-industriell-wissenschaftlicher Komplex5 bezeichnet werden.
Helmuth Trischler skizziert, dass im Zentrum des von Franz Josef StrauĂ entwickelten und der Sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards entgegenstehenden Konzepts einer âstaatsinterventionistischen, nicht-marktwirtschaftlichen Technologie- und Industriepolitikâ militĂ€risch relevante SchlĂŒsseltechnologien standen.6 Ich glaube zeigen zu können, dass die frĂŒhe bundesdeutsche Kerntechnikentwicklung â trotz allseitiger Tarnung der mit ihr verbundenen militĂ€rischen Ambitionen â ein geradezu idealtypisches Ergebnis dieser Politik darstellt und ihre Geschichte einen weiteren Beleg dafĂŒr liefert, âwie eng nationales Sicherheits- und nationales Innovationssystem in Deutschland auch nach 1945 miteinander verflochten waren.â7 Gleichwohl verkehrt sich der von Trischler fĂŒr die ĂŒbrige MilitĂ€rforschung festgestellte, vergleichsweise âhohe Grad an InternationalitĂ€tâ8 hier ins Gegenteil. Dass dabei gerade auf dem politisch wie moralisch besonders brisanten Gebiet der Kerntechnik etliche Protagonisten eine politisch wie moralisch fragwĂŒrdige Vergangenheit aufwiesen, ist mehr als nur eine Randnotiz. Denn sie waren es, die auf Grundlage von manch struktureller KontinuitĂ€t mit ihrer BetĂ€tigung dazu beitrugen, in der Bundesrepublik die Grundlage zu schaffen fĂŒr den Durchbruch der Kernkraftnutzung, wie wir sie heute kennen. War dieser Durchbruch unausweichlich? Mit der Antwort darauf wird die vorliegende Arbeit enden; den Weg dorthin konkretisieren die folgenden Teilkapitel.
1.2Stand der Forschung
Die bisherige Forschung zur Schnittmenge der Themenfelder âBundesrepublik der Ăra Adenauerâ und âAtomkraftâ besteht, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aus Werken zu den politischen BemĂŒhungen der Bundesregierung um gröĂeren Einfluss auf die Nuklearpolitik der westlichen VerbĂŒndeten. Wegweisend fĂŒr eine ganze Anzahl Studien dieser Art waren dabei Dieter Mahnckes âNukleare Mitwirkungâ9 und Catherine Kellehers âGermany and the Politics of Nuclear Weaponsâ.10 Diese wie auch neuere Arbeiten weiterer Autoren11 und zuletzt der anlĂ€sslich des JubilĂ€ums der Spiegel-AffĂ€re verfasste Beitrag Eckart Conzes12 folgen dabei im Wesentlichen der in Westdeutschland wie von dessen NATO-VerbĂŒndeten offiziell stets vertretenen Ansicht, die Bundesrepublik habe nach ihrem Verzicht in den Pariser VertrĂ€gen keine ernsthaften Ambitionen auf eine unabhĂ€ngige Produktion eigener Atomwaffen gehegt. Eine solche Herangehensweise erklĂ€rt auch, warum sich die meisten geschichtswissenschaftlichen Studien zur Atom- und auf Atomwaffen bezogenen AuĂenpolitik der Bundesregierungen in den 1950er und 60er Jahren beinahe ausschlieĂlich mit den bundesdeutschen WĂŒnschen nach Partizipation am Atomwaffenarsenal der VerbĂŒndeten oder allenfalls mit angepassten VerteidigungsplĂ€nen als Reaktion auf verĂ€nderte Nuklearstrategien der VerbĂŒndeten beschĂ€ftigen, nicht jedoch mit dem Aufbau einer kerntechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik.
Wolfgang MĂŒller wiederum beschĂ€ftigt sich in seiner zweibĂ€ndigen âGeschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschlandâ zu Planung und Bau der bundesdeutschen Atomanlagen sehr detailliert mit den finanziellen sowie forschungs-, energie- und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen, ohne dabei jedoch eine Verbindung zu den der Technik unweigerlich innewohnenden machtpolitischen Aspekten zu ziehen.13 Der Grund hierfĂŒr ist vermutlich nicht zuletzt im Lebenslauf MĂŒllers, dem langjĂ€hrigen Chefredakteur des Branchenblattes âAtomwirtschaft â Atomtechnikâ, zu suchen. Sein umfangreiches Werk kann insofern auch als Quelle fĂŒr den Umgang eines ehemaligen Protagonisten mit der bundesdeutschen Atomgeschichte angesehen werden. Aufgrund des akkuraten wissenschaftlichen Apparates, der durchgehenden Verwendung auch archivalischer Quellen und der Bezugnahme auf geschichtswissenschaftliche Forschungsliteratur wird es hier dennoch selbst der Letzteren zugeordnet.
Als Ausnahmeerscheinung sind angesichts der ĂŒberwiegenden BeschĂ€ftigung der Literatur mit bĂŒndnispolitischen Aspekten und von MĂŒllers unkritisch-deskriptivem Werk bislang die verschiedenen Arbeiten Joachim Radkaus zu bezeichnen, allen voran sein entsprechendes Hauptwerk zu âAufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945-1975â.14 Obwohl dieses sich vorwiegend mit den ĂŒbrigen die Errichtung der bundesdeutschen Kerntechnik-Infrastruktur beeinflussenden Rahmenbedingungen auseinandersetzt, thematisiert Radkau auch die Problematik des untrennbaren Nebeneinanders von militĂ€rischer und ziviler Kernenergienutzung. Ein kurzer Abschnitt behandelt gar die möglichen GrĂŒnde fĂŒr den von der Bundesregierung und fĂŒhrenden Industriellen forcierten Aufbau einer inlĂ€ndischen Plutoniumproduktion.15 Radkaus Fazit bezĂŒglich der Zielstrebigkeit der staatlichen AktivitĂ€ten indes fĂ€llt hier, auch gegenĂŒber spĂ€teren AusfĂŒhrungen, in denen er offener auf mögliche machtpolitische Ambitionen der politischen Akteure verweist,16 eher zurĂŒckhaltend aus.17 Im Gefolge von Radkaus AusfĂŒhrungen finden sich vermehrt EinschĂ€tzungen, die den Bau eigener westdeutscher Kernwaffen zumindest als vorĂŒbergehende âdistant optionâ18 betrachten oder, wie Marc Trachtenberg,19 gar offensiv die These von durch die Politik gefassten PlĂ€nen einer bundesdeutschen AtomrĂŒstung vertreten.
Radkau selbst wiederum unterlieĂ es in der aktualisierten Neufassung seiner Geschichte der bundesdeutschen Atomwirtschaft,20 die von ihm zwischenzeitlich offener thematisierten militĂ€risch-diplomatischen Interessen an der Kerntechnik detaillierter zu betrachten und so mit seinem atomgeschichtlichen Hauptwerk zu verbinden. Vielmehr wurde âAufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaftâ zwar um die Co-Autorenschaft Lothar Hahns und eine chronologische Fortschreibung bis in die Gegenwart erweitert, auch begradigte Radkau die in âAufstieg und Kriseâ aufgrund von Breite und Tiefe der Untersuchung unĂŒbersichtliche Gliederung durch KĂŒrzungen und strich zugleich den Anmerkungsapparat; bezĂŒglich des hier behandelten Sujets der Verbindung von Atomwirtschaft und AuĂenpolitik in der Bundesrepublik unterblieb jedoch jegliche Neubewertung. Radkaus diesbezĂŒgliche Kernaussage lautet nahezu wortgleich hier wie dort: âEine zielstrebige Steuerung der deutschen Atomentwick...