1. Wie lange wird die Trauer dauern?
Ganz so lange ist es nicht her, dass Trauernden bei uns ein »Trauerjahr« zugestanden wurde. Die Erfahrung hat Generationen gelehrt, dass ein Mensch in seiner Trauer alles zumindest einmal durchlebt haben muss: einmal den Geburtstag, einmal den Hochzeitstag, einmal den Sterbetag, einmal Weihnachten und die dunkle Jahreszeit …
Erst nach einem Trauerjahr, so die Erfahrung, kann es – vielleicht – gelingen, dass das (eigene) Leben wieder zu seinem Recht kommt; dass der Mut zurückkehrt, sich dem Leben noch einmal zu stellen.
Ein Jahr zumindest steht uns der schützende Mantel des Trauern-Dürfens zu – nicht ein Monat, nicht ein halbes Jahr: ein Jahr. Aber in unserer schnelllebigen, auf Erfolg und Ansehen getrimmten Zeit scheint vielen Gedankenlosen und Un-Erfahrenen ein Jahr viel zu lang: »Das ist doch schon sechs Wochen her. Jetzt musst du aber wieder … funktionieren!«
Viele Menschen erleben, dass ihre angeschlagene, wehe Seele nicht einfach wieder »funktioniert«, dass es Zeit braucht, wieder ins Leben zurückzukommen – und ebenso viel Schmerzertragen, viel Leere, viel Aushalten, viel Überlebenskampf, viel Mut, nicht aufzugeben.
Nicht wenige erleben, dass ein Jahr in ihrer Trauer vergangen ist – und es scheint, als sei alles erst gestern geschehen. Oft wächst nach der ersten Zeit ganz langsam eine dünne Schutzhaut über die Seele. Aber es braucht nicht viel, und die Wunde reißt auf und der bittere Schmerz bricht wieder auf.
Trauern bleibt lange eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Wie lange das so ist und wann das Auf und Ab ganz langsam abflauen wird, kann keiner für einen anderen Menschen voraussagen. Das ist so individuell, wie wir Menschen und unsere Lebenssituationen es sind. Es kann nach dem ersten Trauerjahr erträglicher werden, es kann aber auch zwei, drei Jahre dauern, bis Sie ein bleibenderes Gefühl dafür bekommen, dass Ihnen Ihr Leben wieder lebenswerter erscheint.
Aber auch das lehrt die Erfahrung – und es ist die Erfahrung aller Menschen zu allen Zeiten: Irgendwann wird der Alltag wieder erträglicher. Irgendwann rufen die Erinnerungen nicht mehr nur Schmerz hervor, sondern sind auch ein Grund zur Dankbarkeit. Irgendwann gehen neue Türen ins Leben auf – und es kommt der Mut, es noch einmal zu wagen mit dem Leben. – Der, der uns vorausgegangen ist, wird der erste sein, der es uns von ganzem Herzen wünscht.
Wenn diese Zeit kommt, ist es gut, die Türe aufzumachen und es nicht für Untreue zu erachten, dass das Leben noch einmal – wenn auch anders – Freude bringt. Die Wunde im Herzen bleibt, der leere Platz an unserer Seite bleibt, aber irgendwann wacht man auf und spürt: Ich lebe noch.
Wie lange Ihre Seele dazu brauchen mag? Sie braucht die Zeit, die sie braucht.
Und das sollten Sie auch anderen deutlich machen. – Es steht Ihnen zu.
2. Wo sind unsere Verstorbenen?
Niels, der sechsjährige Sohn eines Freundes, geht gerne mit seiner Oma zum Grab des Großvaters. »Wann gehen wir wieder Opa besuchen?«, fragt er jedes Mal, wenn er bei der Großmutter ist. Ihr tut das gut, weil sie spürt, dass ihrem Enkel der Großvater wichtig ist. Vielleicht spürt der kleine Niels auch, dass es seiner Großmutter guttut, den Opa auf dem Friedhof zu besuchen.
Als die Oma an einem sehr kalten Tag die Tränen nicht zurückhalten kann, nimmt er sie bei der Hand und sagt: »Du musst nicht traurig sein. Opa ist doch im Himmel. Da muss er bestimmt nicht frieren.«
Für den Sechsjährigen ist offenbar beides zugleich möglich: dass der Opa auf dem Friedhof ist (und dass er ihn dort besuchen kann) und dass er im Himmel ist (wo es keine kalten Winter gibt). Woher er das weiß? Sicher hat er Erwachsene davon reden hören. Aber oft sehen Kinder die Dinge klarer, die wir »Großen« nicht verstehen.
Auf dem Friedhof verspüren viele Menschen eine tiefe Verbundenheit mit ihren Verstorbenen. Es ist der Ort, an dem das, was körperlich bleibt – die »sterbliche Hülle« –, zur letzten Ruhe gebettet ist. Aber ist das Grab auch der Ort, an dem die »Seele« unserer Liebsten zu Hause ist? Für Niels scheint das gar keine Frage sein. Beides stimmt für ihn.
»Wo sind unsere Verstorbenen?« Die Antwort weiß vielleicht ein Kind, uns Erwachsenen machen solche Fragen eher ratlos. Wie Reinhard Mey es in seinem Lied besingt: Die Frage, was ist, wenn wir nicht mehr leben, bringt ihn »aus dem Lot«. Er wagt dann doch eine Antwort, im letzten Vers auch zu der Frage, wo unsere Verstorbenen sein mögen:
Du hast mir schon Fragen gestellt
über »Gott und die Welt«,
und meist konnt’ ich dir Antwort geben.
Doch jetzt bringst du mich aus dem Lot
mit deiner Frage nach dem Tod
und »was ist, wenn wir nicht mehr leben?«
Ich stelle mir das Sterben vor
so wie ein großes helles Tor,
durch das wir einmal gehen werden.
Dahinter liegt der Quell des Lichts,
oder das Meer, vielleicht auch nichts,
vielleicht ein Park mit grünen Bänken,
doch eh’ nicht jemand wiederkehrt
und mich eines Besseren belehrt,
möcht’ ich mir dort den Himmel denken.
Höher als Wolkentürme steh’n,
höher noch als Luftstraßen geh’n,
Jets ihre weißen Bahnen schreiben.
Jenseits der Grenzen unsrer Zeit,
ein Raum der Schwerelosigkeit,
ein guter Platz, um dort zu bleiben.
Fernab von Zwietracht, Angst und Leid,
in Frieden und Gelassenheit,
weil wir nichts brauchen, nichts vermissen,
und es ist tröstlich, wie ich find’,
die uns vorangegangen sind
und die wir lieben, dort zu wissen.
Und der Gedanke, irgendwann
auch durch das Tor zu geh’n, hat dann
nichts Drohendes, er mahnt uns eben,
jede Minute bis dahin,
wie ein Geschenk, mit wachem Sinn,
in tiefen Zügen zu erleben.
REINHARD MEY1
3. Wie finde ich aus meinen Schuldgefühlen heraus?
Zur Trauer gehört fast unabwendbar ein oft heftiges Schuldgefühl. »Hätte ich nur eher gespürt, wie krank er ist … früher darauf bestanden, dass sie zum Arzt geht … mehr Geduld gehabt … öfter gezeigt, dass ich ihn, dass ich sie liebe …« Erinnerungen an Streit und Verletzungen sind wie eingemeißelt ins Gedächtnis. Im Angesicht des Todes kommt das alles so sinnlos und lieblos daher. Jedes »falsche Wort« wird zehnfach auf der Waage gewogen. Die Erschöpfung, das eigene »Ich kann nicht mehr«, die stille Bitte um Erlösung (bei einem langen Leidensweg) wird zum Bumerang, der die Seele martert. – Und manchmal weckt allein die Tatsache Schuldgefühle, dass meine Liebsten die Sonne nicht mehr scheinen sehen und ich selbst noch lebe.
Von außen betrachtet mögen viele dieser Gefühle keinen wirklichen Grund haben. »Du brauchst dir keine Vorwürfe machen« oder »Du bist zu streng mit dir«, heißt es dann. Doch auch wenn es kurzfristig guttun mag, das zu hören, bringt dieser wohlmeinende Rat eines anderen die Selbstvorwürfe nicht zum Schweigen.
Was kann ich also tun? Kann ich überhaupt etwas tun, wenn ich mich doch so schuldig fühle?
Es bleibt oft nichts anderes, als diese Gefühle immer und immer wieder »durchzuarbeiten«; sie noch einmal und noch einmal regelrecht »durchzukauen« – vielleicht hundert, vielleicht tausend Mal. Bis irgendwann die Selbstvorwürfe leiser und andere Gefühle stärker werden. »Wir haben doch vieles miteinander gut geschafft. Es ist doch nicht wahr, dass meine Liebe nur schwach war. Da ist so viel Schönes, an das ich mich erinnern kann; so vieles, wofür ich danken kann. – Und das, was ich, was wir nicht hinbekommen haben: Es ist so, wie es ist. Es macht unsere Liebe nicht klein.«
Ein 59-Jähriger malt seit seiner Frühpensionierung. In den letzten Monaten vor seinem Herztod malt er »Vier Jahreszeiten«. Den Frühling und den Sommer hat er vollendet. Das Herbstbild ist zur Hälfte gemalt, der Winter ist nur Skizze. Der plötzliche Tod lässt sein letztes Werk Stückwerk bleiben. Die Ehefrau weiß nicht, was sie mit den vier Bildern tun soll. Sie belässt sie im Werkraum ihres Mannes. Schmerzlich ist ihr der grausame Sinn seiner Bildfragmente bewusst. Die letzten Jahreszeiten hat er nicht mehr vollendet. Mitten im Herbst reißt der Lebensfaden ab. Sie hatten so viele Pläne. Wie in vielen Ehen hatte das Berufsleben nicht viel Zeit für anderes gelassen. Jetzt hatten sie vor, sich ihr Leben schön zu machen, sich mehr zu gönnen als früher. Reisen wollten sie, mehr Zeit zu zweit verbringen. Er wollte malen, sie ihre Musik pflegen. Sie wollten ihr Leben genießen.
Ihr Schmerz machte sich an den Bildern fest. Oft stand sie davor und malte seine Bilder in Gedanken zu Ende. Welche Farben hätte er hier genommen, wie hätte er diesen Winterbaum gemalt? Manchmal kamen heftige Gefühle auf: Da hätte unser Leben anders sein sollen, da hätte ich stärker sein müssen, da hätte ich nicht so vieles falsch machen dürfen, da hätte ich … Ja, hätte ich, hätten wir noch ei...