Ein Wegbegleiter durch das Jahr365 Reflexionen über die großen existenziellen Themen unserer Zeit sind in diesem Buch versammelt – Gedanken zu Freiheit, Angst, Gewalt, Wahrheit, Sexualität, Gott, Religion, Liebe und Tod. Sie laden ein zur täglichen Kontemplation und Betrachtung und sind für alle, die an einer undogmatischen Spiritualität jenseits von Glaubensbekenntnissen und Konzepten interessiert sind, eine überaus reiche Quelle der Inspiration und somit eine ideale Wegbegleitung durch das Jahr.
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Ich weiß nicht, ob Sie sich jemals einsam gefühlt haben; wenn Sie plötzlich erkennen, dass Sie zu niemandem eine Beziehung haben – ich meine nicht, intellektuell erkennen, sondern tatsächlich gewahr werden – und völlig isoliert sind. Alles Denken und Fühlen sind blockiert, Sie können sich nirgendwo hinwenden, da ist niemand, an den Sie sich wenden können. Die Götter und Engel sind alle hinter den Wolken verschwunden, und wenn die Wolken sich auflösen, sind sie mit ihnen verschwunden. Sie sind absolut einsam – ich benutze hier bewusst nicht das Wort »allein«.
Alleinsein hat eine ganz andere Bedeutung. Im Alleinsein liegt Schönheit. Allein zu sein ist etwas vollkommen anderes. Und Sie müssen allein sein. Wenn sich der Mensch von der Gesellschaftsordnung befreit, die auf Habgier, Neid, Ehrgeiz, Arroganz, dem Streben nach Erfolg und Status beruht – wenn er sich von diesen Dingen freimacht, ist er vollkommen allein. Das ist eine ganz andere Sache. Dann ist da eine große Schönheit, man spürt eine Menge Energie.
Alleinsein
2. Dezember
Alleinsein ist nicht Einsamkeit
Obwohl wir alle Menschen sind, haben wir Mauern zwischen uns und unseren Mitmenschen errichtet – durch Nationalismus, durch Abstammung, Kasten und Klassen –, was wiederum in die Einsamkeit und Isolation führt.
Ein menschlicher Geist, der in Einsamkeit, in diesem Zustand der Isolation, gefangen ist, kann niemals verstehen, was Religion ist. Er kann glauben, er kann bestimmte Theorien, Vorstellungen, Rezepte haben, er kann versuchen, sich mit dem, was er Gott nennt, zu identifizieren. Aber mir scheint, dass Religion nicht das Geringste mit irgendeinem Glauben, mit einem Priester, einer Kirche oder einem so genannten heiligen Buch zu tun hat. Den Bewusstseinszustand eines religiösen Geistes können wir nur verstehen, wenn wir anfangen zu verstehen, was Schönheit ist. Und dem Verstehen von Schönheit kann man sich nur durch totales Alleinsein nähern.
Alleinsein hat überhaupt nichts mit Isolation zu tun und auch nichts mit Einzigartigkeit. Einzigartig zu sein heißt nur, auf irgendeine Weise unvergleichlich zu sein, während völliges Alleinsein außergewöhnliche Sensibilität, Intelligenz und tiefe Einsicht erfordert. Völlig allein zu sein bedeutet, dass der Geist frei von jeglichen Einflüssen und damit nicht von der Gesellschaft infiziert ist. Und er muss allein sein, um verstehen zu können, was Religion ist – was bedeutet, für sich selbst herauszufinden, ob es etwas Unsterbliches gibt, etwas jenseits der Zeit.
3. Dezember
Alleinsein
Die Einsamkeit kennen
Einsamkeit und Alleinsein sind zwei völlig verschiedene Dinge. Durch die Einsamkeit muss man hindurchgehen, um allein zu sein. Einsamkeit ist nicht vergleichbar mit Alleinsein. Ein Mensch, der die Einsamkeit kennt, kann nie das kennen, was allein ist. Befinden Sie sich in diesem Zustand des Alleinseins? Unser Geist ist nicht so integriert, dass er allein sein kann. Es ist die Arbeitsweise des menschlichen Geistes, die zur Abtrennung führt. Und das, was sich abtrennt, ist einsam.
Alleinsein dagegen strebt nicht nach Abtrennung. Es ist etwas, das nicht von der Masse, nicht von den Vielen beeinflusst ist, nicht das Produkt eines solchen Einflusses ist, das nicht wie der menschliche Geist zusammengefügt wurde. Der menschliche Geist ist das Produkt der Masse. Er ist nicht allein, da er über Jahrhunderte hinweg vom Denken zusammengetragen, zusammengefügt, hergestellt wurde. Der menschliche Geist kann nie allein sein. Er kann nie das Alleinsein erfahren. Aber wenn man sich der Einsamkeit bewusst ist, wenn man sie durchlebt, tritt dieses Alleinsein in Erscheinung. Nur dann kann das, was unermesslich ist, auftauchen. Unglücklicherweise streben die meisten von uns nach Abhängigkeit. Wir wünschen uns Gefährten, wir wollen Freunde haben, wir wollen in einem Zustand der Getrenntheit leben, einem Zustand, der Konflikte heraufbeschwört. Was allein ist, kann sich nie in einem Konflikt befinden. Aber der menschliche Geist kann das nie wahrnehmen, nie verstehen, er kann nur die Einsamkeit erfahren.
Alleinsein
4. Dezember
Nur im Alleinsein ist Unschuld
Die meisten von uns sind nie allein. Sie können sich in die Berge zurückziehen und als Einsiedler leben, aber wenn Sie körperlich allein sind, sind alle Ihre Vorstellungen und Erfahrungen, Ihre Traditionen und Ihr Wissen über das, was war, bei Ihnen. Der christliche Mönch ist nicht allein in seiner Klosterzelle. Seine Vorstellung von Jesus, seine Theologie mit den Glaubenssätzen und Dogmen seiner spezifischen Konditionierung sind bei ihm. Dasselbe gilt für den indischen Sannyasin, der sich von der Welt zurückzieht und in der Abgeschiedenheit lebt. Er ist nicht allein, denn auch er lebt mit seinen Erinnerungen.
Ich spreche von einem Alleinsein, in dem der Geist vollkommen frei von der Vergangenheit ist. Und nur ein solcher Geist ist tugendhaft im eigentlichen Sinne des Wortes, denn nur in diesem Alleinsein findet sich Unschuld. Vielleicht sagen Sie: »Das ist zu viel verlangt. So kann man nicht in dieser chaotischen Welt leben, wo man jeden Tag ins Büro gehen muss, den Lebensunterhalt verdienen muss, Kinder aufziehen muss, das Nörgeln der Ehefrau oder des Ehemannes aushalten muss und was sonst noch alles.« Aber ich glaube, dass das eben Gesagte einen direkten Bezug zum täglichen Leben und Handeln hat, sonst wäre es völlig wertlos. In diesem Alleinsein kommt eine Tugend zum Vorschein, die kraftvoll ist und ein außergewöhnliches Empfinden von Reinheit und Sanftmut mit sich bringt. Es spielt keine Rolle, ob man Fehler macht, das ist überhaupt nicht wichtig. Worauf es ankommt, ist, dass man dieses Gefühl hat, vollkommen allein und innerlich nicht verunreinigt zu sein, denn nur ein solcher Geist kann das erfahren oder sich dessen bewusst sein, was über das Wort, über die Bezeichnung und über die Vorstellungen der Einbildungskraft hinausgeht.
5. Dezember
Alleinsein
Ein Mensch, der allein ist, ist unschuldig
Einer der Umstände, der viel zum Leiden des Menschen beiträgt, ist seine große Einsamkeit. Sie können viele Kameraden haben oder viele Götter, Sie können eine Menge Wissen angesammelt haben, Sie können sozial sehr engagiert sein, endlos über Politik daherreden – und die meisten Politiker reden sowieso nur daher – und dennoch dieses Gefühl der Einsamkeit nicht loswerden. Deshalb sucht der Mensch nach einem Sinn im Leben und erfindet einen Sinn, eine Bedeutung. Aber die Einsamkeit bleibt. Können Sie sie also anschauen, ohne zu vergleichen, können Sie sie einfach sehen, wie sie ist, ohne zu versuchen, davor zu fliehen, sie zu überspielen oder ihr auf irgendeine Weise zu entkommen?
Wir sind nicht allein. Wir sind das Produkt von tausend Einflüssen, tausend Konditionierungen und psychischen Erbschaften, der Propaganda und der Kultur. Wir sind nicht allein, und deshalb sind wir Menschen aus zweiter Hand. Wenn man allein ist, völlig allein, weder einer Familie angehört, obwohl man vielleicht eine Familie hat, wenn man weder zu einer Nation noch zu einer Kultur oder einer bestimmten Gruppe gehört, bekommt man das Gefühl, ein Außenseiter zu sein – ein Außenseiter in Bezug auf alle Denk- und Handlungsweisen, in Bezug auf Familie und Nation. Und nur ein Mensch, der völlig allein ist, ist unschuldig. Und es ist diese Unschuld, die den Geist vom Leiden befreit.
Alleinsein
6. Dezember
Eine neue Welt schaffen
Wenn Sie eine neue Welt schaffen wollen, eine neue Zivilisation, eine neue Kunst, etwas ganz Neues, das nicht durch Tradition, Angst und Ehrgeiz verunreinigt ist, wenn Sie etwas Namenloses ins Leben rufen wollen, das Ihnen und mir gehört, eine neue Gesellschaft, gemeinsam, in der es nicht um »dich« und »mich«, sondern um »uns« geht – muss der menschliche Geist dann nicht völlig anonym und somit allein sein? Das heißt doch, dass ein Aufbegehren gegen Konformität stattfinden muss, nicht wahr? Ein Aufbegehren gegen Ehrbarkeit, denn der ehrbare Mensch ist der Durchschnittsmensch, weil er etwas haben möchte – sein Glück ist abhängig von äußeren Einflüssen, davon, was der Nachbar denkt oder was der Guru denkt, davon, was in der Bhagavad Gita, den Upanishaden und der Bibel steht oder was Jesus Christus sagt. Sein Geist ist nie allein. Er geht nie alleine seinen Weg, sondern immer mit einer Begleitung, in Begleitung seiner Vorstellungen.
Ist es nicht sehr wichtig, das ganze Ausmaß, die ganze Bedeutung der Einmischung von Außen zu sehen, der Einflüsse, der Entstehung des »Ich«, das im Widerspruch zum Namenlosen steht? Taucht, wenn man das alles sieht, nicht unweigerlich die Frage auf, ob es möglich ist, unmittelbar diesen unbeeinflussten geistigen Zustand herzustellen, den Zustand eines Geistes, der sich weder von seinen eigenen Erfahrungen noch von den Erfahrungen anderer beeinflussen lässt, der nicht verdorben werden kann, der allein ist? Nur dann ist es möglich, eine andere Welt zu schaffen, eine andere Kultur, eine andere Gesellschaft, in der es möglich ist, glücklich zu sein.
7. Dezember
Alleinsein
Alleinsein, in dem es keine Angst gibt
Nur wenn der Geist alle Einflüsse und Einmischungen von außen abwerfen kann, wenn er völlig allein sein kann … ist wahre Kreativität da.
Es werden immer mehr Methoden und Techniken entwickelt – Methoden, wie man die Menschen durch Propaganda, durch Druck und Nachahmung beeinflussen kann. … Es gibt unzählige Bücher darüber, wie man bestimmte Dinge macht, wie man effizient denkt, ein Haus baut, Maschinen zusammensetzt. Also verlieren wir allmählich den eigenen Antrieb, die Initiative, uns selbst etwas auszudenken. In unserer Erziehung, in uns...