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Friedliche Zeiten
About this book
Der Krieg ist lange vorbei und trotzdem noch überall. Es herrscht Krieg in der kleinen Vorstadtwohnung im Deutschland der sechsiger Jahre. Die Mutter hat immer Angst. Besonders, dass der Vater abhauen könnte. Manchmal geht er abends weg. Dann will die Mutter sterben. Keine Angst Kinder, sagt sie, ich nehme euch mit.Abends, allein in ihrem Zimmer, überlegen die beiden Töchter, wie sich das verhindern ließe. Das und der Dritte Weltkrieg.Eine schnelle, mitreißende Erzählung, zum Erschrecken komisch, eine raffiniert gewobene, gültige Geschichte aus einer deutschen Kindheit.
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Information
Mein Vater mochte am Osten, daß sie es mit dem Sozialismus versucht hatten, und er mochte am Osten nicht, daß sie den Sozialismus nicht zum Laufen gebracht hatten, weil sie alle Idioten waren. Soviel wußten wir. Was er am Westen mochte, wußten wir nicht.
Meine Mutter mochte am Westen, daß jetzt sie die Schlüssel verschwinden lassen konnte und nicht mehr ihre Mutter. Das jedenfalls sagte der Vater.
Mein Vater mochte an meiner Mutter nicht, daß sie die Klo- und Badezimmerschlüssel immer verschwinden ließ und daß im Klo und Bad nicht geheizt werden durfte. Im Schlafzimmer auch nicht. Der Vater sagte, deshalb sind wir doch nicht in den Westen gegangen, daß man sich hier genauso den Hintern abfriert wie drüben, obwohl wir endlich Zentralheizung haben; und dauernd kommt jemand rein. Er drehte die Heizung an, aber bis die Heizung den Raum warm machte, hatte er sich den Hintern schon abgefroren. Sobald der Vater rauskam, ging die Mutter rein und drehte die Heizung wieder ab. Wasa und ich versuchten immer mal wieder, möglichst zu Hause gar nicht mehr aufs Klo zu gehen, weil man sich den Hintern abfror, und dauernd kam jemand rein, weil er nicht wissen konnte, daß besetzt war, aber doch meistens die Mutter. Sobald einer von uns auf dem Klo war, hatte die Mutter Angst, es könnte ihm schlecht werden, Kreislaufschwäche, Übelkeit oder so, und dann rief sie erst hinein, ist alles in Ordnung da drinnen mit dir, und der, der drin war, antwortete nicht, weil er ja auf dem Klo war, und dann kriegte sie es mit der Angst. Nämlich wenn er nicht antwortete, dann natürlich, weil ihm schlecht geworden war oder weil er eine Kreislaufschwäche hatte und in Ohnmacht gefallen war, und sie mußte ihn aus Ohnmacht und Übelkeit retten und also hinein. Der Vater sagte, was heißt hier Ohnmacht, das Kind wird erfroren sein; so kalt wie es in der Toilette ist, würde mich das nicht wundern. Jedenfalls konnte keiner ungestört auf dem Klo sein, auch nicht im Badezimmer, in den anderen Zimmern sowieso nicht, weil alle Schlüssel abgezogen und verschwunden waren, aber bei den anderen Zimmern hatten wir uns daran gewöhnt, daß wir keine Ruhe hatten, nur bei Badezimmer und Klo mochte sich niemand daran gewöhnen außer Flori, dem es egal war, wenn dauernd die Mutter reinkam und nachsah, ob alles in Ordnung war.
Ich glaube, der ganze Krieg in dieser Wohnung hing mit der Schlüsselgeschichte zusammen, weil schließlich der Vater auch anfing, woanders das Klo und das Badezimmer zu benutzen, und als er damit anfing, sagte die Mutter weinend: Ich werde bestimmt mal nicht alt, ich sterbe bestimmt mal jung, und von dem Moment an hatte sie Wasa und mich auf ihrer Seite, obwohl wir in der Sache selbst eher auf der Seite unseres Vaters waren und selbst versuchten, nicht das Klo zu Hause, sondern das in der Schule zu benutzen; eine Zeitlang, als wir schon größer waren, fuhren wir sogar einen Bus früher, um rechtzeitig in der Schule zu sein und noch aufs Klo gehen zu können, aber das ging nur eine Weile, weil die Mutter natürlich merkte, daß wir morgens nicht mehr zu Hause aufs Klo gingen, und dann sagte sie, Kinder, ihr habt keine geregelte Verdauung, und von dem Moment an war sie in Sorge um unsere geregelte Verdauung, fragte uns nach allem, was mit einer geregelten Verdauung zusammenhängt, nach Blähungen oder Würmern, und weil wir keine Blähungen und Würmer hatten, sollten wir sofort zum Arzt, und sie lobte Flori, der eine vorbildlich geregelte Verdauung hatte, weil es ihm nichts ausmachte, daß sie während dieser Verdauung dauernd reinkam, um nachzusehen, ob er schon in Ohnmacht gefallen war, und um ihn womöglich zu retten, und Wasa und ich dagegen sollten wegen der gestörten Verdauung zum Arzt, was wir nicht mochten, weil es das Leben unserer Mutter verkürzte, wenn wir Sorgenkinder waren, die zum Arzt mußten und womöglich anschließend krank im Bett lagen und etwas Schlimmes hatten, denn wenn es keine Blähungen oder Würmer waren, war es bestimmt etwas Schlimmes; und wir wußten, daß sie dann nachts nicht würde schlafen können, sondern mit ihren Sorgen müde, aber wach im Bett liegen müßte, in dem der Vater, dem unsere Verdauung so gleichgültig war, daß er sich niemals danach erkundigte, sich seine rohe Seele aus dem Leib und ihr immer genau in die schlaflosen Ohren schnarchte, und schon am nächsten Tag würde sie wieder nicht alt werden, sondern jung sterben. Also gaben wir den frühen Bus wieder auf und taten zu Hause so, als würden wir eine geregelte Verdauung haben, und dann standen wir aber in der ersten großen Schulpause um kurz vor zehn Schlange, weil in der Schulpause alle Klos besetzt waren von den älteren Mädchen, die rauchten und mit Filzstiften Herzchen an die Türen malten.
Es war einer der Lieblingssätze unserer Mutter: Kinder, bestimmt werde ich mal nicht alt, ich sterbe bestimmt mal jung. Wasa und ich fürchteten diesen Lieblingssatz sehr, und weil sie es ein paarmal versucht hatte, das Jung-Sterben, zweifelte keiner im Ernst daran, daß sie es tun würde. Selbst der Vater zweifelte nicht. Das war es, was die Angelegenheiten in dieser Wohnung sehr schwierig machte: Keiner von uns mochte die Vorstellung, daß die Mutter, weil wir keine geregelte Verdauung oder andere schlimme Unregelmäßigkeiten hatten, vor Sorgen und Schlaflosigkeit krank würde, sich ins Bett legte und elendiglich starb; und noch schlimmer war die Vorstellung, sie würde dadurch von ihrer Lebensmüdigkeit wieder so überfallen, daß sie sich in ihr Auto setzte, um damit gegen eine Wand oder einen Baum oder in einen Fluß zu fahren. Am besten, ich nehme das Auto und fahre an eine Wand, sagte sie manchmal, und wir alle wußten, daß sie genau das tun würde, seit sie uns alle einmal beinah durch ein Brückengeländer hindurch in den Rhein gefahren hätte, sich und ihre drei Kinder.
Der Vater war an dem Abend weggegangen oder aus irgendwelchen Gründen gar nicht erst nach Hause gekommen, ich weiß es nicht so genau, weil ich mit Wasa fast nie mehr darüber gesprochen habe; wir haben über sehr vieles vor dem Einschlafen immer noch lange gesprochen, Wasa und ich, und ich kann mich besser an das erinnern, worüber wir gesprochen haben, aber über diesen Abend haben wir eben fast nie mehr gesprochen.
Wenn die Mutter von etwas zu Tode geängstigt wurde, dann von der Vorstellung, daß der Vater weg sein und weg bleiben könnte, anstatt nach Hause zu kommen. Es war eigenartig, weil innerhalb unserer Wohnung alle Schlüssel abgezogen und verschwunden waren, damit alle Türen offenblieben, falls einer eine Kreislaufschwäche erlitte und in Ohnmacht fiele, aber abends hätte die Mutter unsere Wohnungstür am liebsten von innen abgeschlossen, wenn alle drinnen und in Sicherheit waren, damit keiner mehr weggehen und womöglich draußen überfallen werden konnte oder in auswärtigen Klos und Badezimmern eine Kreislaufschwäche erlitte und in Ohnmacht fiele an Orten, wo sie ihn nicht retten konnte. Lieber hätte sie abgesperrt und uns abends alle in Sicherheit gewußt, aber bei der Wohnungstür ging es nicht, falls in der Wohnung ein Feuer ausbrechen würde, dann hätten wir höchstens noch so viel Zeit, die Sicherheitskette abzumachen und durchs Treppenhaus zu entkommen, aber bis die Mutter den Schlüssel aus ihrem Nähkorb im Schlafzimmerschrank geholt hätte, wären wir längst verbrannt.
Eines Abends war der Vater also weggegangen oder gar nicht erst von der Arbeit nach Hause gekommen. Wir lagen längst im Bett, und als die Mutter uns aus dem Schlaf und den Betten holte, wußten wir nicht, was los war, es war fast ein bißchen so, als würde es noch einmal eine Flucht, weil wir da auch nicht gewußt hatten, was los war. Sie zog uns hastig falsche Sachen verkehrtherum über, fädelte meine Schnürsenkel nicht richtig ein und machte auch keinen Doppelknoten, obwohl sie immer einen Doppelknoten machte, damit der Schnürsenkel nicht auf ging und ich nicht darüber stolpern könnte. Wasa sagte, was ist denn los, Mama; ich dachte, vielleicht ist es ein Feuer, wir waren noch ganz verschlafen, zuletzt nahm die Mutter Flori im Schlafanzug auf den Arm und sagte, daß der Vater nicht zu Hause sei und wir jetzt alle wegfahren würden und den Vater verlassen und wahrscheinlich nicht mehr wiederkommen. Wasa sagte, aber er ist doch gar nicht da, und dann liefen wir alle die Treppe hinunter, und es war trotzdem anders als eine Flucht, weil wir keine Koffer dabei hatten. Unten setzte sie uns ins Auto und fuhr los. Einer der Lieblingssätze unseres Vaters war, gib doch zu, Irene, du hast deinen Führerschein in einer Lotterie gewonnen; die Mutter gab aber nur zu, daß sie schon immer nachtblind gewesen war, und der Vater sagte manchmal, daß nach Einbruch der Dunkelheit nichts vor ihr sicher wäre, keine Parkuhr, kein Laternenpfahl, kein Betonpfosten, auch kein Vordermann oder so was; er wunderte sich, daß sie nicht wenigstens einen Vorzugspreis beim Karosserielackierer bekam; der Herr Jeglinsky lachte aber nur, wenn sie mit ihrem Blechschaden in den Hof seiner Werkstatt kam, und wenn er uns auf der Straße begegnete, mußte er auch immer lachen, der Vater sagte, statt sich ins Fäustchen zu lachen, könnte er uns einen Vorzugspreis machen. Ich hatte es nicht so gern, neben der Mutter vorn im Auto zu sitzen, weil das Auto manchmal plötzlich bremste und ich es nicht mochte, wie es sich anhört, wenn es kracht. Es hört sich viel lauter an, als man glauben möchte; es hört sich fast an, als wäre das Krachen und Knirschen nicht außen am Blech, sondern in einem selbst innen drin, und ich konnte nie glauben, daß niemandem etwas passiert war; die Mutter fing nach dem Krachen und Knirschen an zu weinen und sagte, das sind die Nerven, ich bin mit den Nerven runter; dann stieg sie aus, und wenn sie einen Vordermann angefahren hatte, stieg der auch aus, alle gingen um die Autos herum, aber es war meistens nicht sehr viel mehr passiert als Kratzer und Dellen, obwohl es so gekracht hatte, daß ich dachte, ich fliege mit dem Kopf durch die Scheibe.
Nur war es diesmal anders, weil es sonst immer tagsüber war, und abends lagen wir meistens in den Betten, anstatt mit der Mutter wegzufahren, den Vater zu verlassen und vielleicht nicht mehr wiederzukommen. Wasa hatte ihre Puppe mitgenommen, als sie gehört hatte, daß wir vielleicht nicht wiederkommen, an meiner Puppe war der eine Arm abgegangen, und ich mochte keine Puppe ohne Arm mitnehmen, außerdem war es eine Ostpuppe, und ich hätte lieber eine Westpuppe gehabt, ich dachte, wenn ich die kaputte Ostpuppe hierlasse, kriege ich vielleicht eine Westpuppe neu und mit beiden Armen. Dann fuhren wir los, aus dem Vorort hinaus auf die Landstraße. Zuerst fuhren wir in ein Kornfeld, wir stiegen alle aus, gingen einmal um das Auto herum, Flori wachte auf und sagte sehr verschlafen, sind wir jetzt tot, aber es hatte nicht einmal gekracht, weil das Kornfeld weich war, wir waren nicht tot, sondern stiegen dann nur wieder ein und fuhren rückwärts aus dem Kornfeld raus. Beim zweiten Kornfeld blieben wir im Auto sitzen, und Wasa sagte, ach Mama, was machst du denn bloß für Sachen. Die Mutter sagte, daß sie jetzt zu ihrer Mutter fahren würde, aber wir wußten, daß das nicht stimmen konnte, dazwischen war die Stacheldrahtgrenze, da konnte man nicht einfach durch und in das Land hinein, sondern wurde sofort erschossen; und ich glaubte auch nicht, daß sie wirklich zu ihrer Mutter wollte, weil sie sehr oft sagte, daß sie sich mit ihrer Mutter nicht gut vertragen hätte und daß sie nicht so werden wollte wie ihre Mutter, obwohl sie solches Heimweh hätte; ist es nicht traurig, sagte sie, daß man so schreckliches Heimweh hat, obwohl man weiß, daß man sich mit seiner Mutter nicht gut verträgt; und wir fanden es auch traurig und sagten, daß wir uns mit unserer Mutter immer gut vertragen würden. Ich glaubte also nicht, daß wir wieder zurück in den Osten fahren würden, nur wußte ich nicht, wohin sonst; aber sie fuhr auf einer Landstraße eine Weile so vor sich hin, und dann kam eine riesige Brücke. Als wir auf der Brücke waren, schluchzte die Mutter und sagte, Kinder, das ist der Rhein, jetzt fahre ich in den Rhein. Ich sagte sehr schnell, Mama, nicht, und sie sagte, keine Angst, Kinder, ich nehme euch mit.
Ich saß vorne, und Wasa saß hinten, weil sie aufpassen mußte, daß Flori im Schlaf nicht von der Rückbank fiel, aber wir hörten es beide, daß sie sagte, keine Angst, Kinder, ich nehme euch mit, und wenn die Mutter schluchzte und im Schluchzen sagte, keine Angst, Kinder, dann bekam ich immer sofort Angst, weil dann meistens etwas Furchtbares passierte, ich bekam also auf der Brücke sofort solche Angst, daß ich innen ganz hohl davon wurde, und in den Ohren drehte sich ein unangenehmes Geräusch, weil die Mutter jetzt vorhatte, nicht nur jung, sondern sofort zu sterben.
Wasa ging schon in die zweite Klasse und wollte nicht mitgenommen werden in den Rhein, sie sagte mit einer ganz fremden, hohen Stimme, nicht, Mama, bitte nicht, aber die Mutter bog auf der Brücke schräg ab und zielte genau auf das Brückengeländer. Ich wartete jeden Tag darauf, endlich in die Schule zu kommen, weil ich nicht mehr allein in den Kindergarten wollte, nachdem Wasa schon in der Schule war, und ich wollte auch nicht mitgenommen werden, und als die Mutter abbog, mitten auf dieser Brücke, wußte ich plötzlich, ich will so sehr nicht mitgenommen werden, daß sie uns einfach nicht mitnehmen darf; ich dachte, sie darf nicht, sie darf nicht, sie darf nicht, und ich wußte es auf einmal so sicher, daß das Geräusch in meinen Ohren aufhörte und ich keine Angst mehr hatte, obwohl wir gleich durchs Brückengeländer hindurch und in den Rhein gefahren wären, und plötzlich griff ich hin, ich merkte gar nicht richtig, was ich machte, aber ich griff hin und drückte mit beiden Händen das Lenkrad von unten nach oben, und als ich es oben hatte, noch weiter und weit von mir weg in die andere Richtung, und dann erst wunderte ich mich, daß ich es gemacht hatte und daß es geklappt hatte, obwohl die Mutter natürlich viel stärker war als ich; hinterher habe ich ein paarmal versucht, es mir noch einmal vorzustellen, aber es ging nicht, jedenfalls nicht mit dem Kopf, nur die Hände wußten immer genau, wie es ist, das Lenkrad von unten nach oben zu drücken und oben noch etwas weiter von mir weg in die andere Richtung, und dann schleuderte das Auto ein bißchen, aber die Brücke war vierspurig wie eine Autobahn, es kam uns ein Laster entgegen, und ich machte die Augen zu, weil mir schlechtgeworden war und weil ich nicht auch noch sehen wollte, wie es gleich krachte, aber der Laster war noch etwas weg, ich wartete, daß es krachte, aber es krachte nicht, und schließlich machte ich die Augen wieder auf, und wir kamen über die Brücke rüber. Auf der anderen Seite fuhr die Mutter an den Straßenrand, hielt an, legte den Kopf aufs Lenkrad und sagte, wenn ich euch nicht hätte.
Als wir später wieder im Bett lagen, weil sie nach den zwei Kornfeldern und dem Brückengeländer gesagt hatte, Kinder, wo soll ich mit euch nun bloß hin, und Wasa hatte gesagt, könnten wir nicht bitte wieder nach Hause, und dann waren wir umgekehrt, weil die Mutter wissen wollte, ob der Vater nach Hause gekommen wäre, und er war nicht zu Hause, aber wir; und als wir schließlich wieder in unseren Betten lagen, dachten Wasa und ich darüber nach, was der Satz bedeuten könnte, den sie vorhin gesagt hatte: Wenn ich euch nicht hätte, und wir fanden, es konnte Verschiedenes bedeuten; ich sagte, er bedeutet, wenn die Mutter uns nicht hätte, wäre sie jetzt in den Fluß gefahren; das war ungefähr das, was ich von der Lage dachte; aber Wasa sagte, ich glaube nicht, daß sie es so gemeint hat, es könnte auch heißen, wenn ich euch nicht hätte, hätte ich den Vater nicht, und dann hätte ich nicht immer solche Sorgen, daß ich vor lauter Sorgen nächtelang wach liegen muß und davon immer so müde werde, so furchtbar müde, daß ich gar nicht mehr leben möchte und daß ich am liebsten uns alle zusammen durch das Brückengeländer hindurch in den Rhein gefahren hätte. Als wir nach Hause gekommen waren, hatte die Mutter uns ins Bett gebracht und dann lange auf der Bettkante gesessen, und sie hatte Wasa und mich so traurig angeschaut, als wären wir es, die nicht nach Hause gekommen waren, dabei waren wir da und lagen in unseren Betten. Wasa sagte, glaubst du, er kommt bald heim, und ich sagte, hoffentlich, weil ich dann das Gefühl hätte, wieder in meinem eigenen Bett zu liegen, und so hatte ich das Gefühl, in einem fremden Bett irgendwo außerhalb der Welt zu liegen; und dann sprachen wir noch ein bißchen darüber und schliefen schließlich ein.
Am nächsten Tag war der Vater tatsächlich in der Nacht nach Hause gekommen; die Mutter hatte ihm die restliche Nacht lang von unserer Rheinfahrt erzählt, und von da an war klar, daß er ihr Leben und das seiner Kinder aufs Spiel setzen würde, wenn er abends wegginge oder nach der Arbeit erst gar nicht nach Hause käme; zwar ging er abends gern manchmal weg, aber danach tat er es eine ganze Weile nicht mehr und fing erst später damit wieder an; seit dieser Rheinfahrt also wußten alle bis auf Flori, der noch zu klein war und es auch später nicht glauben wollte, als wir es ihm erzählten, daß die Mutter ernst machen würde mit dem Nicht-alt-Werden und Jung-Sterben, obwohl wir es vorher schon manchmal geahnt hatten, aber eben seit dieser Rheinfahrt wußten wir es, obwohl wir nicht wissen konnten, wie sie es machen würde, weil sie manchmal davon sprach, daß sie mit dem Auto gegen eine Wand oder einen Baum fahren wollte, aber oft sagte sie auch, sie würde bald vor Sorgen und Müdigkeit krank und müßte bestimmt an der Krankheit erst qualvoll dahinsiechen und dann jung sterben.
Wasa und ich nahmen uns seit der Rheinfahrt sehr in acht, um ihr möglichst wenig Sorgen zu machen, aber so sehr wir uns in acht nahmen, es klappte immer nicht, weil wir zwar versuchen konn...
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