Rehabilitierte Erinnerungen? Individuelle Erfahrungsverarbeitungen und kollektive ReprÀsentationen von NS-Zwangsarbeit im internationalen Vergleich
Christoph Thonfeld
1.Einleitung: Erinnerung und Geschichte
In dieser Arbeit werden 86 lebensgeschichtliche Interviews in deutscher, englischer oder französischer Original- oder Ăbersetzungssprache mit Menschen aus sechs LĂ€ndern, die wĂ€hrend des Zweiten Weltkriegs fĂŒr Deutschland Zwangsarbeit geleistet haben, untersucht. Sie liefern die empirische Grundlage fĂŒr ein Forschungsdesign, mit dem eine AnnĂ€herung an die individuellen und sozialen Prozesse der Erinnerung und Verarbeitung von Zwangsarbeit fĂŒr das nationalsozialistische Deutschland wĂ€hrend des Zweiten Weltkriegs ermöglicht werden soll. Das Ziel ist, die jeweiligen Besonderheiten individualisierter und sozialer Erinnerungen bzw. subjektivierter und objektivierter Perspektiven auf Vergangenheit herauszuarbeiten.
Damit bewegt sich die Arbeit auch auf dem umkĂ€mpften Terrain, inwieweit Wahrnehmungen und Verarbeitungen von Einzelpersonen im VerhĂ€ltnis zu gesellschaftlich ausgehandelten und wissenschaftlich ermittelten Deutungen aussagefĂ€hig sind.1 Zwei ErwĂ€gungen des Anglisten und Judaisten James Young erscheinen hierbei wegweisend: Zum einen können uns die subjektiven Erinnerungen an jenen fĂŒr historisch Forschende wichtigen Punkt zurĂŒckfĂŒhren, an dem die âKontingenz der Geschehnisse im Prozess ihrer Entfaltungâ2 sichtbar wird, d. h. ein VerstĂ€ndnis dafĂŒr entstehen kann, dass Geschichte sich nicht nur in der geradlinigen faktischen RĂŒckschau auf im Nachhinein zwingend oder gar logisch erscheinende Ereignisketten erschöpft. Und auch wenn durch Erinnerung kein unmittelbarer Zugang zu dieser Kontingenz erreicht werden kann, entsteht dennoch ein komplexeres Bild der historischen VerlĂ€ufe.
Schwerer verdaulich erwies sich fĂŒr viele Historiker lange Zeit Youngs zweite Ăberlegung, dass nĂ€mlich âdie narrative Bearbeitung von Erlebnissen Teil der historischen Wirklichkeitâ ist und ihr insofern ohnehin ein Platz im Geschichtsbuch zukommt. Die Arten und Weisen der Wahrnehmung und Verarbeitung historischer Ereignisse durch die vielen direkt und indirekt Beteiligten bzw. Betroffenen sind demnach ein integraler Bestandteil der Geschichte und mĂŒssen daher auch als solcher in die historische Forschung einbezogen und analysiert werden. Daher nimmt diese Arbeit entschieden den Standpunkt ein, dass man Geschichte und Erinnerung vom âStandpunkt ihrer narrativen Verfasstheitâ3 eher als ein âKontinuum mit flieĂenden Grenzenâ4 anzusehen hat (wie dies James Young und der Historiker Peter Burke vertreten), als an der traditionellen Trennung von Ereignis und historischer ErzĂ€hlung festzuhalten (worauf u. a. die Arbeiten des Soziologen Maurice Halbwachs, des Ăgyptologen Jan Assmann und des Historikers Reinhart Koselleck abzielen).5 Dies hat zwar als analytisches Verfahren der Rekonstruktion historischer EreignisverlĂ€ufe seine zwingende Berechtigung, greift aber fĂŒr ein GesamtverstĂ€ndnis geschichtlicher Prozesse zu kurz.
Eher geht es darum, mit der Ereignisgeschichte als Resonanzboden die besondere QualitĂ€t des VerhĂ€ltnisses der subjektivierten RealitĂ€t zu der in Akten und anderen Quellen niedergelegten und entsprechend historiographisch objektivierten RealitĂ€t genauer herauszuarbeiten. Die autobiographischen ErzĂ€hlungen, die in den Interviews entstanden sind, dienen des Weiteren auch als Medium, um die Dialektik von Erinnern und Vergessen6 sichtbar zu machen, die die ReprĂ€sentationen der NS-Zwangsarbeit auf verschiedenen Ebenen â von den âpassive memoriesâ7 zurĂŒckgezogen lebender Betroffener bis zu den durchchoreographierten staatlichen Gedenkritualen geprĂ€gt haben. Diese Dialektik kann als konstitutive Grundlage jeder VergegenwĂ€rtigung von Vergangenheit angesehen werden und ist daher sowohl in der biographischen wie in der historiographischen Sichtweise einflussreich sowie auch in den Wechselwirkungen zwischen beiden Dimensionen.
Gleichzeitig sollen auch die Erinnerungen aus sechs verschiedenen LĂ€ndern untereinander in ein vergleichendes VerhĂ€ltnis gesetzt werden. MaĂgebliche Referenzpunkte des Vergleichs sind dabei nationale Kollektive bzw. Staaten und deren Gesellschaften, die sich auch im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert als wichtigste gesellschaftliche Rahmen fĂŒr die private und öffentliche Auseinandersetzung mit Vergangenheit erwiesen haben bzw. weiterhin erweisen. Allerdings sehen die Soziologen Daniel Levy und Natan Sznaider speziell mit Blick auf die Shoah einen fortscheitenden Verlust des nationalstaatlichen Deutungsmonopols ĂŒber Erinnerungen durch die zunehmende kulturelle Diversifizierung vieler europĂ€ischer Gesellschaften und die BemĂŒhungen um transnationale AnnĂ€herung ihrer Erinnerungskulturen.8
Zudem bieten Staaten und Nationen als Rahmen fĂŒr den Umgang mit Vergangenheit ohnehin nicht die monolithische HomogenitĂ€t, die sich Forschende oft zu wĂŒnschen scheinen, sondern sind auch in sich selbst dynamisch und wandelbar. Der Historiker Wulf Kansteiner formulierte zu diesem Problemzusammenhang: â(M)emory studies presuppose a ⊠surprising desire for cultural homogeneity, consistency and predictability.â9 Im Ergebnis Ă€hnlich, wenn auch in den dorthin fĂŒhrenden Prozessen höchst unterschiedlich, kann man auch bei einzelnen Interviewpartnern keine vollkommen widerspruchsfreien Versionen ihrer Biographie erwarten, ebenso wenig wie die Erinnerungsformationen gröĂerer Gruppen oder Kollektive ein genau dazu passendes, eindeutig fixierbares Widerlager bilden. Vielmehr sind es gerade die BrĂŒche und Ungereimtheiten autobiographischer PrĂ€sentationen und die gesellschaftlichen DeutungskĂ€mpfe und Konfrontationen, in denen die im Nachhinein entstandenen Darstellungen vergangener Geschehnisse ihre Konturen gewonnen haben.
In dieser Arbeit sollen kollektive bzw. soziale Erinnerungen konzeptionell als im VerhĂ€ltnis zu individualisierten Erinnerungen nachhaltig unterschiedliche EntitĂ€ten begriffen und analysiert werden, die anderen Logiken folgen und in einer anderen Weise funktionieren.10 Mit Aleida Assmann werden individualisierte Erinnerungen in dieser Arbeit als âdynamisches Medium subjektiver Erfahrungsverarbeitungâ begriffen, wĂ€hrend soziale Erinnerungen mediengestĂŒtzte, informelle Kommunikationsformen umfasst, die sich in Schritten von drei bis vier Generationen stetig erneuern.11 Beide Bereiche nehmen sich durchaus wechselseitig zur Validierung in Anspruch und stehen damit in einer teilweise konstitutiven Beziehung zueinander. Daneben werden sie von objektivierten öffentlichen GedĂ€chtnisformen beeinflusst, in denen gesellschaftlich relevante Ereignisse und Erfahrungen durch mediale und politische Verarbeitung sowie wissenschaftliche Aufbereitung bzw. Aufbewahrung in Archiven als geronnene Wissensformen reprĂ€sentiert werden. Diese sind jedoch wesentlich stĂ€rker an den Hegemonialisierungsbestrebungen, politischen AnsprĂŒchen und der sozialen Positionierung ihrer jeweiligen TrĂ€gergruppen ausgerichtet. In der engeren Forschungsperspektive dieser Arbeit werden in erster Linie individualisierte Erinnerungen, in denen der Aneignungscharakter der persönlichen VergegenwĂ€rtigung von Vergangenheit verdeutlicht wird, und soziale Erinnerungen, die den vergesellschafteten und pluralistischen Grundzug von Gruppenerinnerungen hervorheben, untersucht.
Erinnerungen gröĂerer Gruppen im Sinne eines kollektiven GedĂ€chtnis bzw. einer Erinnerungskultur, haben vielfach eine Tendenz dazu, kulturelle Mythen zu produzieren und reproduzieren und sie mit der nötigen LegitimitĂ€t auszustatten. Damit können sie gegen die Arten und Weisen, wie einzelne Menschen ihren Anteil an einer bestimmten historischen Vergangenheit erinnern, in Stellung gebracht und zu deren Delegitimation instrumentalisiert werden. Im Gegensatz dazu ist es eine Zielsetzung dieser Arbeit, die eigensinnige Struktur der erzĂ€hlten Lebensgeschichten gegenĂŒber dem auf einen gesellschaftlichen Konsens bezogenen kollektiven GedĂ€chtnis zu rekonstruieren. Im Sinne des Historikers Lutz Niethammers wird so versucht, durch scheinbar âschwache Erinnerungenâ die Homogenisierungen und Diskursivierungen der hegemonialen Vergangenheitsbilder sichtbar zu machen, das âvermachtete KulturgedĂ€chtnisâ als Konstruktion zu analysieren und seine blinden Flecken durch erfahrungsgesĂ€ttigte Rekonstruktionen zu differenzieren und, wo nötig, zu korrigieren.12 Jedoch unterziehen auch Interviewgeber, wie der Historiker Alexander von Plato aufgezeigt hat, ihre individuellen Rekonstruktionen gewissen Anpassungsprozessen an jeweils neue gesellschaftliche Wahrnehmungs- und Deutungshorizonte. Die ausschlieĂlich an biographischen Quellen orientierten Forschungen laufen dadurch Gefahr, auf der Ebene der individuellen Verarbeitung einen Eindruck von zeitgeistkompatibler HomogenitĂ€t zu erzeugen und dadurch eher VersatzstĂŒcke fĂŒr âRetortenmenschenâ abzugeben, die der vergangenen ErfahrungsrealitĂ€t auch nur unzureichend gerecht wĂŒrden.13
1.2Oral History in der Geschichtswissenschaft
Das (Wieder-)Aufkommen der Oral History in Westdeutschland in den spĂ€ten 1970er Jahren fiel in eine bewegte Zeit. Einerseits waren Gesellschaft und Geschichtswissenschaft an einem Punkt angelangt, an dem es möglich wurde, die Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus nach persönlichen Erfahrungshorizonten und HandlungsspielrĂ€umen zu befragen, was denn auch ausfĂŒhrlich getan wurde. Oral Historians in Deutschland griffen methodisch und inhaltlich vor allem aus England, Italien und den USA stammende ForschungsansĂ€tze und Debatten auf. Gemeinsam war allen diesen AnsĂ€tzen, dass man fĂŒr sie von Anfang an eine scharfe Auseinandersetzung gegen die Ablehnung von seiten der etablierten Geschichtswissenschaft bzw. gegen ihre Marginalisierung innerhalb derselben fĂŒhren musste. Dies war in Deutschland nicht anders. WĂ€hrend die Frage der innerfachlichen Anerkennung in den USA frĂŒh im Zentrum der Auseinandersetzung stand,14 kreiste die Diskussion in England lange um den Quellenwert der Oral History fĂŒr die Realgeschichte und deren demokratisches und emanzipatorisches Potenzial.15 Gleichzeitig betonten italienische BeitrĂ€ge vor allem von Alessandro Portelli und Luisa Passerini frĂŒhzeitig die besondere QualitĂ€t der Oral History als historische Ressource und Perspektive eigener Art16 bzw. als SchlĂŒssel zur Reintegration historischer Subjekte und SubjektivitĂ€ten in die Geschichtswissenschaft.17 Wesentliche Entwicklungen der Oral History in der alten Bundesrepublik sind anfangs vor allem mit Lutz Niethammer verbunden, in der Folge dann auch zunehmend mit Alexander von Plato und Dorothee Wierling.
Gleichzeitig sah die Zeit um 1980 das Versterben der Erfahrungsgeneration des Ersten Weltkriegs. WĂ€hrend seit der Jahrtausendwende das allmĂ€hliche Versterben der âErfahrungsgenerationâ des Zweiten Weltkriegs in Texten und auf Konferenzen thematisiert und auf seine Konsequenzen hin erkundet wird, schien derselbe Vorgang in der Erfahrungsgeneration der âUrkatastrophe des 20. Jahrhundertsâ ca. 30 Jahre frĂŒher weniger Reflektionsprobleme aufzuwerfen. Offensichtlich stellen uns die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges vor so schwerwiegende Probleme der Erkenntnis und des Erinnerns, dass hier den biographischen Zeugnissen der Mitlebenden eine qualitativ neuartige Dimension zugesprochen wurde und weiterhin zugesprochen wird. Diese entfaltet sich allerdings bis heute nicht ohne Spannungen.
Die ersten eigenen Erfahrungen mit individualisierten Erinnerungen an historische Geschehnisse und ihrem Stellenwert in der Geschichtsforschung machte der Verfasser Mitte der 1990er Jahre an der UniversitĂ€t Bremen in einem Seminar ĂŒber den Vernichtungskrieg der Wehrmacht in SĂŒdost- und Osteuropa seit 1941, das im Zusammenhang mit der seinerzeit gerade aktuellen so genannten âWehrmachtsausstellungâ angeboten wurde. Die erste Sitzreihe im Seminar wurde regelmĂ€Ăig von Ă€lteren Herren besetzt, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Seminarteilnehmern und ĂŒberdies auch der Dozentin zu erzĂ€hlen trachteten, wie sich die Geschichte âwirklichâ zugetragen hatte. Hier prallten neueste Erkenntnisse der Geschichtsschreibung und individueller Erfahrungs- und Verarbeitungshorizont unversöhnlich aufeinander und niemand unter den anwesenden Studierenden, zu denen auch der Verfasser zĂ€hlte, zweifelte daran, dass der Wissenschaft der Sieg in diesem erbitterten Zweikampf gebĂŒhre. Bei der spezifischen Herausforderung, die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges fĂŒr die historische Erkenntnis darstellten, standen sich Wissenschaft und die Erfahrungen und Erinnerungen der âTĂ€tergenerationâ noch deutlich konfrontativ und nicht komplementĂ€r gegenĂŒber.
Zu jenem sensiblen Zeitpunkt erwies sich eine integrierte ErzĂ€hlung des Zweiten Weltkriegs, die Forschungsergebnisse und Erfahrungsperspektiven zusammengebracht hĂ€tte, als nicht realisierbar. DafĂŒr tobte noch zu sehr der Kampf um die Herstellung historiographischer Deutungshoheit. TatsĂ€chlich fokussierte und fokussiert die Oral History tendenziell bis heute eher auf die Perspektive von Opfergruppen. Das hat insofern seine Berechtigung, als sie dadurch im Doppelsinn des Wortes Subjekte der Geschichte â als Akteure und als Unterworfene â sichtbar macht, die sonst vielfach im Dunkel bleiben, und es ermöglicht die Einschreibung ihrer ErzĂ€hlungen in einen historischen Diskurs, der seinerseits auch niemals machtfrei und egalitĂ€r ist. Der damit verbundene emanzipatorische Anspruch beeinflusst aber auch grundlegend das Erkenntnisinteresse, weil er die Tendenz hat, die Masse der TĂ€ter sowie die vielen MitlĂ€ufer und Zuschauer im Umkehrschluss im Dunkel zu belassen und damit auch wieder in gewisser Weise ein verkĂŒrztes VerstĂ€ndnis von HandlungszusammenhĂ€ngen und EntscheidungsspielrĂ€umen zu vermitteln.
ZusĂ€tzlich wurde an dem Bremer Seminar deutlich, worauf die Rede vom Zeitzeugen als ânatĂŒrlichem Feindâ des Historikers grĂŒndet, die sich ebenfalls ungefĂ€hr Mitte der 1990er Jahre in der Zeitgeschichtsforschung etablierte. Diese Rede droht jedoch fehlzugehen, so weit sie sich in einer bloĂ ontologischen Unterscheidung von objektivierter Wahrheit, die der Letztere angeblich schreibt, und subjektivierter Unwahrheit, die der Erstere angeblich spricht, erschöpft. Wer ausschlieĂlich auf diesen Grundwiderspruch abhebt, der mĂŒsste mit Reinhard Koselleck darauf beharren, dass die Zeitgeschichtsschreibung selbst noch von der parteiischen Zeitgenossenschaft kontaminiert ist. Er formulierte mit Blick auf die Zukunft der historiographischen Erforschung der Shoah: âDie moralische Betroffenheit, die verkappten Schutzfunktionen, die Anklagen und Schuldverteilungen der Geschichtsschreibung â all diese VergangenheitsbewĂ€ltigungsstrategien verlieren ihren politisch-existenziellen Bezug, sie verblassen zugunsten von wissenschaftlicher Einzelforschung und hypothesengesteuerten Analysen,â18 die aber eben erst nach dem Ableben der Erfahrungszeugen und unter Ausschluss von erinnerungsbasierten Zeugnissen der Erlebnisgeneration â streng genommen inklusive der aus ihr hervorgegangenen historisch Forschenden â durchgefĂŒhrt werden könnten.
Alexander von Plato wies demgegenĂŒber auf den eigenstĂ€ndigen und nachhaltigen Wert mĂŒndlicher Ăberlieferungen hin: âWer die SubjektivitĂ€t der Quellen kritisiert, mĂŒsste in Wirklichkeit nicht die Quelle, sondern die Thematik als irrelevant kritisieren. Dies wĂ€re jedoch mehr als fragwĂŒrdig, weil es hieĂe, ein, wenn nicht das wesentliche, Element aus der Geschichte zu eliminieren, nĂ€mlich Subjekte im Umgang mit den ZwĂ€ngen und Möglichkeiten ihrer Zeit, ihre Sicht, ihre Erfahrung und schlieĂlich ihre Verarbeitung zu vernachlĂ€ssigen.â19
Einige Jahre spĂ€ter interviewte der Verfasser im Rahmen des Bremer Forschungsprojekts âDenunziation in Deutschland 1933-1955â Ă€ltere Deutsche, die wĂ€hrend des Zweiten Weltkriegs Jugendliche oder junge Erwachsene gewesen und nach 1945 wegen bzw. trotz ihrer allenfalls marginalen Teilhabe an NS-Organisationen und Kriegs- bzw. Nachkriegsgeschehnissen in der Sowjetischen Besatzungszone durch Denunziationen in Internierungslager der dortigen MilitĂ€radministration verbracht worden waren. Eine Gruppe also, die nachhaltig die Eindeutigkeit der Kategorien von TĂ€tern und Opfern in Frage stellte und sich aber möglicherweise gerade dadurch als integrierbar in eine aktengestĂŒtzte, kohĂ€rente GeschichtserzĂ€hlung â wenn auch in einer ĂŒbersichtlichen Nebenrolle â erwies, weil es fĂŒr ihre Erfahrungen kaum etablierte Deutungsmuster gab.
Die fĂŒr die Speziallager in Ostdeutschland vorfindliche Forschungskonstellation scheint einige Anhaltspunkte fĂŒr die Relevanz der Oral History bereitzuhalten: Die AktenĂŒberlieferung zur Internierung in den sowjetischen Speziallagern ist unvollstĂ€ndig bzw. nur teilweise verfĂŒgbar, d. h. alleine aus den vorhandenen DokumentenbestĂ€nden lĂ€sst sich das Geschehen nicht umfassend rekonstruieren. Dann sind diese Akten aufgrund ideologisierter Vorannahmen, die als Voraussetzung ihrer Erstellung wirksam wurden, nur bedingt aussagefĂ€hig, vor allem im Bezug auf HaftgrĂŒnde, Verhaftungs- und VerurteilungsumstĂ€nde der Internierten. SchlieĂlich si...