Zweites Buch
DIE DUNKLE MADONNA
(1918 – 1939)
Die Heimkehr
In der Freisinger Kaserne hatte ein Korporal, den seine rote Armbinde als Angehörigen des Soldatenrates auswies, die Entlassungspapiere für Alois Irlmaier unterzeichnet und ihm auch den Militärfahrschein für die Eisenbahn ausgestellt. Jetzt, an einem der ersten Dezembertage 1918, saß der entsetzlich abgemagerte Gefreite im Zug, blickte frierend auf die frühwinterliche Landschaft draußen und erinnerte sich an die dramatischen Ereignisse der vergangenen Wochen.
Anfang November war er aus Galizien, wo nach der russischen Oktoberrevolution und trotz des am 3. März 1918 mit der bolschewistischen Regierung geschlossenen Friedens von Brest-Litowsk anarchische Zustände geherrscht hatten, in die Heimat zurückgekehrt. Kaum war er in der Garnisonsstadt eingetroffen, hatte sich wie ein Lauffeuer die Nachricht verbreitet, dass ein Schriftsteller namens Kurt Eisner in München die Revolution ausgerufen, König Ludwig III. verjagt und den Freistaat Bayern proklamiert hatte. Einige Tage später war es in Berlin und Wien ebenfalls zum Umsturz gekommen; Kaiser Wilhelm II. hatte abgedankt und war nach Holland geflohen, der letzte habsburgische Monarch Karl I. in die Schweiz. Schon am 9. November, einen Tag nach dem Volksaufstand in München, hatten die Arbeiter- und Soldatenräte auch in Freising die Macht übernommen und die Offiziere für abgesetzt erklärt. Am 11. des Monats wiederum war im Wald von Compiègne der Waffenstillstand zwischen dem Deutschen Reich und den Alliierten unterzeichnet und damit der Erste Weltkrieg offiziell beendet worden.
Nun, da dem Scharamer Bauernsohn all diese Geschehnisse noch einmal gegenwärtig wurden, verdichteten sich einige davon zu schlaglichtartigen Bildern. Er sah sich selbst die rote Armbinde tragen: als Mitglied der kompaniestarken Abordnung überlebender Frontkämpfer, die in der zweiten Novemberhälfte auf Lastwagen nach München gefahren war, um dem zunächst noch provisorischen Ministerpräsidenten Eisner den Rücken zu stärken. Dann neuerlich Szenen aus Freising: wie er und andere, denen das vieltausendfache Sterben in den Schützengräben die Augen geöffnet hatte, bewaffnet durch die Straßen patrouillierten, um diejenigen einzuschüchtern, welche sich, spießbürgerlich verstockt, gegen die Revolution sträubten. Auch zu einem Marsch hinauf zum Domberg war es gekommen, wo die Prälaten, um ihre eigene wankende Macht fürchtend, Stimmung gegen die neue Regierung zu machen versuchten. Schließlich, als sichergestellt schien, dass die demokratischen Kräfte das Heft in der Hand behalten würden, die Entlassung aus dem Militärdienst: das Papier, welches ihm der zum Soldatenrat gewählte Korporal in die Hand drückte und das ihm, nach sechs Jahren in Uniform, seine Freiheit zurückgab.
Alois Irlmaier warf einen letzten Blick auf die unter dem frühwinterlichen Himmel grau wirkende Silhouette der Garnisonsstadt in der Ferne. Dann lehnte er sich auf der harten Holzbank zurück und schloss die Augen; im nächsten Moment spürte er mit allen Fasern, wie unendlich müde und ausgelaugt er war. Gleich darauf kam der Dämmerschlaf, doch schon bald schreckte der Vierundzwanzigjährige wieder hoch, weil er im Unterbewusstsein das Herannahen der Alpträume fürchtete. Auf diese Weise, hin und her gerissen zwischen Erschöpfung und Angst vor den grauenhaften Bildfetzen, brachte er die stundenlange Fahrt hinter sich. Erst am späten Nachmittag, als der Zug den Siegsdorfer Bahnhof erreichte, wurde sein Kopf klarer, und die Vorfreude auf das Wiedersehen mit seinen Angehörigen verdrängte jetzt auch die Beklemmungen.
Lange nach Einbruch der Dunkelheit überwand er den letzten steilen Anstieg zum Einödhof. Schemenhaft schälten sich die Konturen der Gebäude aus der Finsternis; an einer Stelle leuchteten matt zwei hellere Flecken: die Fenster der Küchenstube. Obwohl der Schneeregen, der fast den ganzen Weg über gefallen war, ihn bis auf die Haut durchnässt hatte, blieb Alois eine ganze Weile reglos stehen. Mit Tränen in den Augen ließ er das Gefühl, endlich heimgekehrt zu sein, auf sich einwirken; erst als er plötzlich heftig zu frösteln begann, tat er die letzten Schritte. Aus dem Hausflur schlug ihm der vertraute Geruch entgegen, in der nächsten Sekunde öffnete sich die Küchentür. Auf der Schwelle stand seine Mutter, die ihn zuerst ungläubig anstarrte und ihn dann mit einem erstickten Aufschrei in ihre Arme zog.
Bis tief in die Nacht hinein saß die Familie am großen Tisch im Stubeneck zusammen; der Bauer, der mittlerweile beinahe sechzig Jahre zählte, hatte seinen Sohn für diesmal auf den Ehrenplatz unter dem geschnitzten Kruzifix im Herrgottswinkel genötigt. Zuerst zögernd, nach einem Imbiss und ein paar Schlucken Schnaps mitteilsamer beantwortete der Erbe des Bruckthaler-Anwesens die Fragen der anderen: der Eltern, des jetzt schon halbwüchsigen Bruders Hans und der Magd Theresia. Die Großeltern freilich fehlten; Alois wusste aus den Briefen, die ihn an der Front erreicht hatten, dass der Austrägler und sein Weib kurz nacheinander schon im Spätwinter 1915 verstorben waren. Auch der Schemel am Tischende, der einst Sebastian gehört hatte, blieb leer. Die Arbeit auf dem Hof war dem betagten Knecht im vergangenen Jahr zu schwer geworden, deshalb war er nun als Pferdepfleger in einer Traunsteiner Brauerei tätig; derjenige, der die Stelle vor ihm innegehabt hatte, lag in einem Massengrab bei Verdun.
Nachdem der entlassene Soldat von seinen Erlebnissen der vergangenen Monate berichtet hatte, hörte er seinerseits, was das Bruckthaler-Anwesen während der letzten Zeit des Krieges an Schicksalsschlägen hatte ertragen müssen. Im Frühjahr waren von Gendarmen begleitete Beamte der staatlichen Ernährungskommission aufgetaucht und hatten angesichts des in den Städten immer ärger grassierenden Hungers einen Teil des Viehbestandes beschlagnahmt. Jeder dritte Stand im Rinderstall war seitdem verwaist, dennoch waren die festgesetzten Milchabgaben unverändert hoch geblieben. Damit nicht genug, war nach einem verregneten Sommer die Ernte extrem schlecht ausgefallen; da die Behörden trotzdem auch Getreide konfisziert hatten, würde für die neue Aussaat wahrscheinlich Korn hinzugekauft werden müssen.
„Aber wir werden es schon schaffen, jetzt wo du wieder daheim bist, Bub“, sagte Anna Irlmaier zuletzt. „Die Madonna von Maria Eck hat dich gesund zurückgebracht, und sie wird auch unseren Hof nicht untergehen lassen.“
„Besonders weil wir jetzt wieder zwei Hände mehr zum Zupacken haben“, setzte der Bauer hinzu.
„Ein paar Wochen Erholung müssen wir dem Alois freilich gönnen, damit er sich erst einmal erholen kann“, warf die Magd Theresia ein. „Bloß noch Haut und Knochen ist er; in der Seele tut’s einem weh, wenn man ihn anschaut!“
„Ich kann froh sein, dass ich überhaupt zurückgekommen bin“, murmelte der Vierundzwanzigjährige. „So viele von meinen Kameraden haben weniger Glück gehabt, die sind draußen geblieben im Feld …“
Taumelnd erhob er sich, schwankte auf einmal vor Müdigkeit und spürte dankbar, wie die Mutter ihn stützte. Als sei er wieder zum Kind geworden, brachte sie ihn nach oben, in seine Kammer. Kaum lag er auf dem Bett, wusste er von nichts mehr; erst in den Morgenstunden kamen abermals die Alpträume.
***
Auch während der folgenden Wochen, in denen er sich von neuem an die Bauernarbeit gewöhnte, verfolgten ihn die Nachtmahre. Insgeheim hatte er gehofft, sie würden verschwinden, sobald er endlich die verhasste Uniform abgelegt hätte. Doch nach wie vor suchten ihn die beklemmenden Bildfetzen heim: die stets nur kurzen, doch um so grauenhafteren Angstträume, die sich erstmals eingestellt hatten, nachdem er halbtot aus dem verschütteten Unterstand geborgen und ins Lazarett gebracht worden war.
Zunächst hatte er nur gelegentlich unter ihnen gelitten, später häufiger, doch immer glichen sie sich. Anfangs glaubte er sich erneut auf der geschändeten Waldlichtung in Galizien zu sehen: zusammen mit dem Korporal und dem bärtigen Infanteristen, dessen Körper mit dem nächsten Lidschlag von der einschlagenden Granate zerfetzt wurde. Gleich darauf befand er sich im verschütteten Bunker, rang unter Lehmmassen, Steinbrocken und Balkentrümmern wiederum um sein Leben, bis jäh eine unendlich tiefe Schwärze kam, die sein Bewusstsein auslöschte. Bis dahin war alles, wenn auch zeitlich extrem gerafft, so, wie er es auch in der Realität durchgestanden hatte; doch in seinen Alpträumen erwuchsen nun aus der absoluten Finsternis neue Greuel. Es schien, als stürmten jetzt aus der undurchdringlichen Dunkelheit, die plötzlich wie ein brodelndes und dennoch nicht greifbares Miasma war, Myriaden entsetzlicher Bilder auf ihn ein: die ganze Fülle der Schrecknisse, zu deren Zeugen er während der Kriegsjahre geworden war. Und aus diesem blasphemischen Strudel heraus bildeten sich weitere Mahre: unbeschreiblich grässliche Visionen, die nichts mehr mit seiner Welt und Zeit zu tun hatten.
Nie vermochte er die höllischen Szenen wirklich zu fassen; sobald er den Blick auf sie zu fixieren versuchte, wichen sie an den Rand seines Gesichtsfeldes zurück. Doch er erahnte sie jenseits einer Schwelle, die am äußersten Ende des gegenwärtig noch jungen Jahrhunderts lag; er spürte sie über eine Erde hereinbrechen, welche nicht mehr die seine, sondern diejenige seiner Enkel oder Urenkel war. Dort, in einer generationenweit entfernten Zukunft, schienen die flirrenden Konturen des Widergöttlichen sich auszuformen: unsäglich abstoßende Bilder, denen er mit einem Teil seines Seins nicht entrinnen konnte, obwohl sie sich ihm nie wirklich entschlüsselten. Zuletzt dann, während er, zwischen Grauen und manischem Erkenntniszwang hin und her gerissen, noch mit den infernalischen Schemen rang, packte ihn Panik. Schweißgebadet und keuchend kam er zu sich, lag mit jagenden Pulsen und hellwach-betäubtem Gehirn noch lange wach und empfand schreckliche Furcht, erneut in jene Bereiche abzugleiten, wo die Alpträume lauerten.
***
Wochenlang, während das alte Jahr endete und das neue begann, litt der Kriegsheimkehrer auf diese Weise. In der zweiten Januarhälfte schließlich beschloss er, Hilfe bei dem einzigen Menschen zu suchen, welchem er das dazu nötige Wissen zutraute: bei Jakob, dem Eremiten. Ohnehin hatte er längst vorgehabt, wieder einmal hinüber zum Hochfelln zu wandern; dann freilich war jedesmal die Arbeit auf dem Hof vorgegangen. Doch jetzt, an einem Sonntagmorgen, nachdem die Rinder im Stall versorgt waren, teilte er den Eltern seine Absicht mit.
Sowohl Anna Irlmaier als auch ihr Gemahl, die sich eben zum Kirchgang hinüber nach Eisenärzt anschickten, blickten ihn überrascht an, dann sagte der Bauer bedeutungsvoll: „Wir legen dir nichts in den Weg. Aber der Einsiedler hat sich nie mehr bei uns sehen lassen, seit du damals in den ersten Kriegstagen zum Abschied bei ihm warst …“
„Wahrscheinlich wollte er euch nicht zur Last fallen“, erwiderte Alois; das seltsame Gefühl, das ihn bei den Worten seines Vaters unvermittelt beschlichen hatte, verdrängte er.
Wenig später wanderte der Hoferbe nach Maria Eck hinauf, passierte den Feenstein, bog jenseits der Wallfahrtskirche auf einen Waldweg ab und erreichte gegen elf Uhr den südlichen Hang des Hochfelln. Der Schnee knirschte unter seinen Sohlen, und sein Atem zeichnete milchige Fahnen in die Luft, als er das letzte Stück bis zu dem kleinen Tal zurücklegte. Endlich erblickte er den natürlichen Absatz im Hang, auf dem die drei Föhren wuchsen; zwischen den Bäumen stand unverändert die Blockhütte. Zumindest im ersten Moment hatte der Kriegsheimkehrer diesen Eindruck – dann jedoch stutzte er plötzlich. Denn bei genauem Hinsehen fiel ihm auf, dass das Dach des bescheidenen Gebäudes an mehreren Stellen eingesunken war; hinzu kamen die vielfältigen Wildspuren im Firn nahe bei der Hütte.
„Der Platz ist verlassen, seit Jahren schon!“, flüsterte er erschrocken. Gleich darauf war er bei der Tür und bemühte sich, sie zu öffnen. Das Holz hatte sich verzogen; nur unter Anwendung von Gewalt gelang es ihm, sich Zugang zu verschaffen. Drinnen bestätigte sich das, was er sowieso schon befürchtet hatte. Der einst so heimelige Raum war bis auf das letzte Möbelstück ausgeräumt; durch die kaputten Dachschindeln war Schnee hereingerieselt und hatte sich auf den Dielen zu Wächten gehäuft.
Lange starrte Alois Irlmaier auf dieses trostlose Bild. Endlich ging er still wieder nach draußen, schloss die Brettertür so gut wie möglich und verließ den Ort, dessen gesamte Ausstrahlung er jetzt als bedrückend empfand. Doch er schlug nicht die Richtung zurück nach Scharam ein, sondern folgte einem Holzweg, der ein Stück tiefer am Berg nach Osten verlief. Der tief eingeschnittene Pfad führte zu einem Einödhof, der gut eine Stunde entfernt lag und den Alois von früher kannte; dort erfuhr er dann, was er wissen wollte.
„Im Herbst 1916 hat ein Jäger den Einsiedler aufgefunden“, erzählte der Bauer. „Höchstens zwei Stunden, nachdem der Tod eingetreten war.“
„Bei der Quelle unterhalb seiner Behausung ist er gelegen“, fügte sein Weib hinzu. „Und es hat keine Anzeichen dafür gegeben, dass er sich lange hätte quälen müssen.“
Stumm nahm Alois die Kunde vom Tod seines Freundes und Lehrers hin. Für eine Weile war in der Stube nur das langsame Ticken der Wanduhr zu hören. Nach einigen Minuten schien sich der junge Irlmaier unvermittelt auf etwas zu besinnen und erkundigte sich mit rauher Stimme: „Wann genau ist Jakob gestorben? In welchem Monat im Herbst des dritten Kriegsjahres?“
„Anfang Oktober“, erwiderte der Einöder und nannte nach kurzem Besinnen auch das Datum.
In den dunklen Augen des Scharamers malte sich jähes Erschrecken, unmittelbar darauf eine Ahnung von Begreifen. „Galizien“, flüsterte er kaum hörbar. „Derselbe Tag, an dem ich dort …“
„Was sagst du?“, kam es von der Bäuerin.
„Nichts“, stieß Alois hervor. „Ich habe nur … ich würde bloß noch gerne wissen, wo man den Eremiten begraben hat.“
„Auf dem Ruhpoldinger Friedhof liegt er“, antwortete der Bauer. „Dort hat er ein Armengrab bekommen.“
„Und die Behörden haben sich wohl an dem schadlos gehalten, was die Versteigerung seiner paar Habseligkeiten erbrachte?“, fragte Alois Irlmaier.
„So war’s“, nickte der Einöder, während sein Weib nun eine Flasche mit Enzianschnaps aus dem Wandschrank holte, damit auf das Andenken des Toten angestoßen werden konnte.
Nachdem dem Brauch Genüge getan war, verabschiedete sich der Vierundzwanzigjährige und machte sich wieder auf den Weg. Jenseits des Tales, in dem das einschichtige Anwesen stand, stieß er auf die Landstraße, welche nach dem ungefähr zehn Kilometer entfernten Marktflecken Ruhpolding führte. Er hatte Glück, denn bald hielt ein Viehhändler an, der mit seinem Einspänner in der gleichen Richtung unterwegs war, und lud ihn zum Mitfahren ein. In der Mitte des Nachmittags war der Ort erreicht; wenig später betrat Alois den Kirchhof und erkundigte sich bei einigen alten Frauen, die soeben zur Nachmittagsandacht gingen, nach dem Armengrab, das er suchte.
Der Platz, wo Jakob beigesetzt worden war, lag ganz hinten auf dem Areal. Die meisten der schmalen Grabstätten dort wirkten vernachlässigt und waren lediglich durch Holzkreuze gekennzeichnet. Auf einem davon entdeckte der Kriegsheimkehrer den Vornamen seines Freundes; erstaunt stellte er zudem fest, dass auf dem Erdbuckel darunter ein kleines immergrünes Gebinde stak, das höchstens einige Wochen alt sein konnte.
Irgend jemand kümmert sich um das Grab, dachte er dankbar, während er sich bückte und ein paar Blätter alten Laubs entfernte, die der Wind herangetragen hatte. Die Berührung mit der toten Materie, aus der irgendwann dennoch wieder neues Leben entsprießen würde, tröstete ihn auf seltsame Weise; im nächsten Moment kniete er im dünnen Schnee und raunte: „Alles Dasein ist miteinander verknüpft, so hast du es mich gelehrt, Jakob. Und an jenem Tag Anfang Oktober 1916 hast du es mir bewiesen. An der Quelle unterhalb deiner Hütte bist du damals gestorben, mich aber haben die Kameraden zur gleichen Zeit aus dem verschütteten Unterstand in Galizien geholt, weil du …“
Er brach ab; im vollen Begreifen des Unbegreiflichen barg er das Antlitz in den Händen – einen Herzschlag später glaubte er, die körperlose Stimme des Eremiten zu vernehmen: „Das Geflecht, welches unendlich weit über jene Zeitspanne hinausreicht, die dir oder mir zugemessen ist … Diese ewige, liebevolle Kraft wird dich behüten … Weil sie dir für dein späteres Leben eine Aufgabe zugedacht hat …“
„Ja, das waren deine Worte an jenem Nachmittag, als wir uns zum letzten Mal sahen“, flüsterte Alois Irlmaier. „Damals, ehe ich an die Front musste …“ Sanft berührte er die Erde, welche den Körper seines Lehrers bedeckte; richtete sich danach langsam wieder auf.
Reglos und tief in Gedanken versunken stand er da – bis er auf einmal die Gegenwart eines anderen Menschen spürte. Als er den Kopf wandte, erblickte er eine junge Frau, die, von der Kirche kommend, soeben die letzten Schritte bis zur Grabstätte zurücklegte. Sie war mittelgroß, mochte um die zwanzig Jahre alt sein und trug einfache bäuerliche Kleidung. Unter ihrem Kopftuch lugten dunkle, füllige Locken hervor; nun, während sie bei ihm stehenblieb, sah der Erbe des Bruckthaler-Hofes, dass ihre blauen Augen einen erregenden Kontrast zu ihrem brünetten Haar bildeten.
Er schluckte, bemühte sich verwirrt, ein unverfängliches Wort über die Lippen zu bringen; letztlich aber war sie es, die ihn ansprach: „Hast du ihn gekannt, den Jakob?“
Alois nickte, dann gelang es ihm, die Gegenfrage zu stellen: „Und du auch, gell?“
Die Fremde – ihr Gesicht war oval, fast herzförmig, wie er jetzt feststellte – bestätigte es: „Der E...