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Aufgabe und historische Entwicklung der Physik
1.1 Physik, Philosophie und Religion
Nicht nur die Naturwissenschaften, allen voran die Physik, haben den Anspruch, die Welt zu erklären. Nein, auch die Philosophie und die Religionen behaupten für sich, sie würden Wahrheiten liefern, vielleicht sogar ewige Wahrheiten. Was ist davon zu halten? Besteht hier ein Konflikt, und hat vielleicht nur eine Seite recht?
Das Verhältnis zwischen Wissenschaft, Philosophie und Religion ist über die Jahrhunderte hinweg von Missverständnissen belastet worden, die Menschen dazu gebracht haben, einzelne oder vielleicht auch alle drei Parteien zu verurteilen. Viele denken, Naturwissenschaften und Religion würden sich gegenseitig ausschließen. Das kann aber nicht ganz richtig sein, denn eine ganze Reihe von Physikern ist religiös. Bevor wir uns näher mit der Physik beschäftigen, möchte ich zunächst einige Punkte im Spannungsfeld von Physik, Philosophie und Religion ansprechen. Es wäre gut, wenn das eine oder andere Missverständnis oder Vorurteil aus dem Weg geräumt werden könnte.
Wenn Sie Wissenschaft, Philosophie und Religion plakativ beschreiben sollten, würden Sie vielleicht in etwa das Folgende sagen:
| Philosophie: | Suche nach dem Verständnis der wahren Natur der Dinge. |
| Religion: | Erkenntnis der Rolle und Botschaft der Götter. |
| Wissenschaft: | Beobachtung der Natur, Modellentwicklung und Vorhersage des Verhaltens der natürlichen Umgebung. |
Oberflächlich betrachtet scheint die Sache klar zu sein: Wenn ein oder mehrere Götter vorkommen, ist es Religion. Wenn es nur um die Natur geht, ist es Wissenschaft. Diese Unterscheidung ist nicht ganz falsch, aber bei Weitem zu kurz gegriffen. Oft hört man auch, dass Religion und Philosophie einen moralischen oder ethischen Bewertungsmaßstab lieferten, den man in der Wissenschaft so nicht fände. So erforschen Physiker Atomkerne und sprechen ohne Bedenken darüber, wie durch die Spaltung von Urankernen Energie gewonnen werden könne. Dies wird als unmoralisches Verhalten empfunden, weil die Kernspaltung in einer Atombombe zerstörerisch genutzt werden und in der friedlichen Anwendung im Kernkraftwerk zu Katastrophen wie der von Tschernobyl führen kann. Aber trifft dies wirklich zu? Es empfiehlt sich, nicht gleich alles zu glauben, was man so hört. Schauen wir also einmal genau hin. Meine beiden Beispiele, die Atombombe und der Atomreaktor, haben starke moralische Bedenken hervorgerufen. Es ist eine schwierige ethische Frage, zu beurteilen, ob man ihren Bau verantworten kann. Die Kernspaltung aber existiert unabhängig davon, ob wir Bomben oder Reaktoren bauen. Sie ist nicht dafür verantwortlich zu machen, ob wir sie zerstörerisch nutzen oder nicht. Genau genommen existierte die Kernspaltung schon seit Milliarden von Jahren, bevor sie von Physikern und Chemikern entdeckt wurde. Entdecken heißt etwas anderes als erfinden. Wir erfinden ein Telefon, aber wir entdecken ein physikalisches Gesetz wie das der Energieerhaltung. Wir bauen Geräte, die physikalische Phänomene anwenden. Die Anwendung kann man als gut oder schlecht bewerten, das physikalische Phänomen selber aber nicht. Es entzieht sich der Bewertung, weil es einfach nur da ist. Einen ethischen Maßstab brauchen wir nur für das, was wir mit den Ergebnissen der Physik anstellen.
Ich sehe, dass Sie mir das Argument nicht abnehmen wollen. Sie vermuten, ich wolle die Physik ihrer Verantwortung entziehen. Lassen Sie es mich daher mit einem zweiten Thema versuchen zu erklären, das Ihnen vermutlich etwas nähersteht und in dem ihre Perspektive eine andere ist, der Sexualität. Sexualität als solche ist weder gut noch schlecht, ebenso sind unsere Ausprägungen als Mann oder Frau weder gut noch schlecht und das eine nicht besser als das andere. Die wesentliche Frage ist, was Sie mit Ihrer Sexualität machen, wie Sie sie anwenden. Über die Kulturkreise und die Jahrhunderte hinweg sind Menschen zu verschiedensten ethischen Bewertungen gekommen. So gilt heute Päderastie als schlimmes Verbrechen, während es im antiken Griechenland als wesentlicher Teil der Initiation eines Jungen zum erwachsenen Mann galt. Ich bin mir sicher, dass Sie Ihr eigenes moralisches Empfinden haben, wie wir mit unserer Sexualität umgehen sollten. Aber das ist es eben: wie wir damit umgehen, wie wir sie anwenden. Sie sehen, es gilt das gleiche Argument wie für die Physik. Die Sache als solche ist nicht ethisch bewertbar, sondern nur das, was wir daraus machen.
Kommen wir zurück zur Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Philosophie. Sind Sie mit meiner Definition einverstanden, die Philosophie sei die Suche nach dem Verständnis der wahren Natur der Dinge? Diese Erklärung wäre vollkommen sinnlos, wenn wir nicht vorher geklärt hätten, was wir denn unter der „wahren Natur der Dinge“ verstehen. Sie wäre eine leere Worthülse, mit der Sie sich nicht abspeisen lassen sollten. Um was geht es also?
Lassen Sie mich fragen: „Was ist eigentlich eine Rose?“ Wie würden Sie antworten? Würden Sie sagen, eine Rose sei eine Strauchpflanze, die über Dornen verfügt, einen angenehmen Duft verströmt und wunderschöne Blüten trägt? Wir können die gesamte pflanzenkundliche Beschreibung durchgehen, aber es werden nur Äußerlichkeiten sein, die Sie mir nennen. Wir können über den inneren Aufbau sprechen, über die Atome und Moleküle, aus denen die Rose aufgebaut ist. Die allermeisten dieser Moleküle finden wir auch in anderen Pflanzen. Was also ist das Rosenhafte an der Rose?
Diese Frage ist alt. Schon die griechischen Philosophen, beispielsweise Platon, haben zwischen dem eigentlichen Wesen, oder der Substanz, und der äußeren Form, oder Existenz, unterschieden. Alles Körperliche, Greifbare ist äußere Form. Das innere Wesen, zum Beispiel die Seele, zählt zur Substanz. In der katholischen Dogmatik findet sich die Unterscheidung wieder: Es heißt, im Sakrament der Wandlung ändere sich nicht die äußere Form der Hostie, sondern nur deren innere Substanz.
Ich schrieb zu Beginn, viele Physiker seien gläubig. Sie sind allerdings nicht gutgläubig. In der Physik legen wir Wert darauf, dass unsere Konzepte und Modellvorstellungen überprüfbar sind. Die innere Substanz entzieht sich der Beobachtung. Wir können nur die äußere Form vermessen und beschreiben. Überlassen wir also zunächst die Beurteilung des inneren Wesens der Philosophie und den Religionen. Die Physik nimmt sich das Verständnis der zumindest prinzipiell beobachtbaren, natürlichen Vorgänge zum Ziel. Dies bedeutet nicht, dass Physiker der Natur vollkommen emotionslos gegenüberstehen würden. Im Gegenteil, die meisten empfinden eine tiefe Faszination und Respekt vor der Natur, ihrer Ordnung, aber auch ihrer Schönheit.
1.2 Messung und Vorhersage
Schon vor 5000 Jahren gab es in Sumer (im Süden des heutigen Irak) und in China Observatorien, mit denen die Bewegungen von Sonne, Mond und Sternen am Himmel beobachtet werden konnten. Der Lauf der Planeten hat immer schon eine Faszination auf die Menschen ausgeübt. Man hat in der Anordnung der Sterne am Himmel Bilder gesehen, die mit den Mythen der jeweiligen Kulturen verbunden waren. Moderne Planetariumssoftware1) vermittelt einen Eindruck davon, wenn sie beispielsweise polynesische Sternbilder aufrufen.
Im Vordergrund stand natürlich die praktische Anwendung, die Entwicklung von Kalendern und, bei den seefahrenden Völkern, die Navigation. Dafür kann man praktisch alles heranziehen, was sich in festen, unveränderlichen Zyklen abspielt. Die Zeitspanne von einem Sonnenuntergang zum nächsten ist ein Tag, die Periode zwischen zwei Vollmonden nennen wir einen Monat, und die Zeitdauer zwischen zwei Sommersonnenwenden bezeichnen wir als ein Jahr. Egal ob Sie einen solaren oder lunaren Kalender entwerfen, also einen auf die Sonne oder auf den Mond bezogenen Zeitabschnitt zugrunde legen, Sie benutzen messbare, wiederkehrende Ereignisse als Maßstab, um regelmäßig eintreffende Ereignisse wie zum Beispiel die Nilschwemme im alten Ägypten vorherzusagen. Wenn wir einen solchen zeitlichen Maßstab einmal haben, können auch längere Perioden eindeutig beschrieben werden. So gelang es, den Meton-Zyklus zu finden, demzufolge 19 Sonnenjahre fast genau 235 Mondperioden entsprechen, sich die Daten der Vollmonde also alle 19 Jahre wiederholen. Ähnlich lang ist der Saros-Zyklus, demzufolge sich nach etwas mehr als 18 Jahren Sonnen- und Mondfinsternisse wiederholen. Derartige Zyklen zu finden ist eine erhebliche Leistung, weil wir hier von Perioden sprechen, die ähnlich lang wie die durchschnittliche Lebensarbeitszeit der damaligen Gelehrten sind. Die Überlieferung präziser Zeitangaben mittels eines funktionsfähigen Kalenders war eine wesentliche Voraussetzung. Eine schöne Geschichte besagt, dass im Jahre 585 v. Chr. im Krieg zwischen Lydien und Medien die Schlacht am Halys (im Osten der heutigen Türkei, der heutige Name ist Kizilirmak) durch eine Sonnenfinsternis beendet wurde. Der Ihnen wahrscheinlich wegen des Satz des Thales aus dem Mathematikunterricht bekannte Thales von Milet hatte die Finsternis vorhergesagt, und die Lydier, die mit Milet verbündet waren, hatten daraufhin die Schlacht am vorhergesagten Tag beginnen lassen, um das Ereignis zur Verunsicherung der Gegner nutzen zu können. Diese Geschichte ist ein Beispiel dafür, dass natürliche Ereignisse vorhergesagt werden können, wenn das ihnen zugrunde liegende Prinzip verstanden ist.
Wir wissen, dass griechische Gelehrte zwischen 600–200 v. Chr. wesentliche Ideen und Einsichten entwickelten, die den Übergang von einer Naturphilosophie zu einer Wissenschaft markieren. Die beiden wesentlichen Hilfsmittel waren Logik und Geometrie, also Mathematik. Lassen Sie mich eine Liste von fünf berühmten Köpfen und ihren Leistungen erstellen, beginnend mit dem frühesten.
Thales von Milet (6. Jh. v. Chr.): Erstes Modell des Universums ohne Gott.
Pythagoras (6. Jh. v. Chr.): Einsicht, dass die Erde in etwa die Gestalt einer Kugel hat.
Demokritos (5. Jh. v. Chr.): Entwicklung der Vorstellung, dass die Materie aus unteilbaren Atomen aufgebaut ist.
Aristarchos von Samos (3. Jh. v. Chr.): Erstes heliozentrisches Weltbild, das die Erde in einer Umlaufbahn um die Sonne sieht.
Eratosthenes (3. Jh. v. Chr.): Messung(!) des Umfangs der Erde.
Egal, ob wir uns Pythagoras oder Aristarchos ansehen, alle haben hervorragende wissenschaftliche Leistungen vollbracht. Heutzutage neigt man dazu, die frühen Forscher zu übergehen. Alles, was damals erarbeitet wurde, zählt heute zum Allgemeinwissen, und daher muss es doch banal sein, denkt man. Dies ist ein Irrtum, denn die Einsichten mussten erst einmal entwickelt werden. Ein direkter Nachweis war nicht möglich, und daher war es notwendig, verschiedene Beobachtungen logisch miteinander zu verbinden. Ich will es noch etwas deutlicher machen. Wie würden Sie mir beweisen, dass die Erde in etwa die Gestalt einer Kugel hat? Argumentieren Sie bitte nicht mit Satellitenbildern oder Magellans Weltumsegelung, denn all dies gab es erst mehr als 2000 Jahre nach Pythagoras. Gar nicht so einfach, nicht wahr? Es schadet also nicht, ein wenig Respekt vor den frühen Forschern zu haben und sie nicht zu übergehen.
Die Kugelgestalt der Erde lässt sich durch die Form des Erdschattens bei Mondfinsternissen belegen. Der Erdschatten hat die Form einer Scheibe. Nur eine Kugel würde in alle Richtungen einen scheibenförmigen Schatten werfen, und daher muss die Erde kugelförmig sein. Sie können sogar sehen, dass der Erdschatten deutlich größer ist als der Mond, woraus folgt, dass auch die Erde größer ist als der Mond.
Abb. 1.1 Sonnenstrahlen treffen in Syene (S) und in Alexandria (A) parallel ein, im südlichen Syene aus Zenitrichtung, im nördlicheren Alexandria in einem Winkel a zum Zenit. Die gestrichelten Linien vom Erdmittelpunkt zu den beiden Orten bilden den gleichen Winkel a.
Besonders herausheben möchte ich Eratosthenes, weil er nicht nur eine qualitative, sondern eine quantitative Aussage macht, also nicht nur Eigenschaften beschreibt, sondern auch in Zahlen ausdrückt. Eratosthenes nutzte für seine Messung des Erdumfangs einige Einsichten, die zu seiner Zeit bereits bekannt waren. Die erste ist die Kugelgestalt der Erde. Dies bedeutet insbesondere, dass eine in Nord-Süd-Richtung verlaufende Linie auf der Erdoberfläche (denken Sie an die Linien gleichen Längengrads auf dem Globus) ein Teil eines Kreises ist, dessen Mittelpunkt auch der Mittelpunkt der Erde ist, eines sogenannten Großkreises. Mit anderen Worten, der Radius des Kreises ist der Erdradius, und der Umfang des Kreises ist der Erdumfang. Die zweite Einsicht ist, dass sich Licht geradlinig oder strahlenförmig ausbreitet. Man wusste bereits, dass die Sonne sehr weit von der Erde entfernt ist, Lichtstrahlen von der Sonne also parallel auf die Erde auftreffen. In der ägyptischen Stadt Syene kann man zum Zeitpunkt der Sommersonnenwende gegen Mittag keinen Schattenwurf eines senkrechten Stabs sehen. In der nördlich gelegenen Stadt Alexandria beobachtet man aber einen Schatten, aus dessen Länge im Vergleich zur Höhe des Stabs man berechnen kann, dass die Sonne etwa 7° südlich vom Zenit (senkrecht über dem Beobachter) steht. Mit anderen Worten, Alexandria liegt 7° nördlich von Syene. Diese Situation ist in Abb. 1.1 schematisch dargestellt. Die Entfernung zwischen beiden Städten kann man messen, und sie steht zum Erdumfang im gleichen Verhältnis wie 7° zu den 360° eines vollen Kreises. In modernen Einheiten berechnete Eratosthenes den Erdumfang als 42 000 km, das sind nur etwa 5 % mehr als der moderne Wert.
Die Griechen entwickelten auch Vorstellungen zu anderen Fragen, beispielsweise der Schwerkraft. Nach Aristoteles war die Erde nicht das Zentrum der Welt, sie befand sich nur im Zentrum. Seine Vorstellung war, dass Schweres, also Materie, immer zum Zentrum gezogen wird, während Leichtes, also Licht und Flammen, aufsteigt. Zur Materie gehört auch Schmutz, und so befindet sich die Erde im schmutzigen Teil der Welt, ist also unrein. Dazu passt, dass die Unterwelt eben unten, die Götter aber hoch im Himmel zu finden waren.
Ein Großteil des Wissens der Antike ist verlorengegangen. Kriege, Religionsstreitigkeiten und politische Wirren haben dazu beigetragen. Das altgriechische Wissen ist interessanterweise durch die Tätigkeit arabischer Gelehrter, beispielsweise Ibn Rushd (auch bekannt als Averroes) in Andalusien, wieder zu uns zurückgekommen. Welche Leistungen in Sumer oder von den Azteken vollbracht wurden, wissen wir nicht.
1.3 Wahrheit
Ich werde die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Freunde amerikanischer Kriminal- und Gerichtsfilme haben diese Formulierung des Zeugeneids gewiss schon zur Genüge gehört. Aber was ist das eigentlich, die Wahrheit? Was ist der Unterschied zwischen der Wahrheit und der ganzen Wahrheit? Gibt es vielleicht feinsinnige Unterschiede zwischen den beiden, vielleicht auch nur ungefähr die Wahrheit? Gilt sie nur für mich oder für alle, nur heute oder immer?
1. Alle Formen von Materie sind aus Atomen aufgebaut.
2. Holz ist eine Form von Materie.
Aus 1. und 2. können wir schließen,
3. Holz ist aus Atomen aufgebaut.
1. Die ungeraden Zahlen 3, 5, 7, 9 und 11 sind nicht durch 2 teilbar.
Aus 1. folgern wir,
2. alle ungeraden Zahlen sind nicht durch 2 teilbar.
Man beachte, dass ein einziges Gegenbeispiel die Regel als falsch belegt. Induktive Logik hat auch ganz generell ihre Tücken. Es ist unmöglich zu beweisen, dass ein bestimmtes Verhalten oder ein Vorgang niemals auftreten wird. Wir können uns so viele Beispiele ansehen wie wir wollen, das Fehlen von Beweisen für den fraglichen Vorgang oder das gesuchte Verhalten ist kein Nachweis für dessen Fehlen. Sie mögen vorgeben, noch nie bei einer Prüfung geschummelt zu haben. Das Einzige, was wir anderen überprüfen können, ist, ob Sie schon einmal einschlägig aufgefallen sind. Der gesunde Menschenverstand sagt uns jedoch, dass nicht alle, die noch nie erwischt worden sind, auch wirklich unschuldig sind. Wundern Sie sich also bitte nicht, wenn Ihre Unschuldsbeteuerungen angezweifelt werden. Dies wird gelegentlich in der politischen Arena ausgenutzt, um Konkurrenten...