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Fortschritt und Rückschläge der Technik
Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, so ist der Lauf der Welt – das wusste schon der alte Lenin. Deshalb ist, wo immer ein großer Fortschritt mit viel Trara verkündet wird, der nächste Rückschlag erfahrungsgemäß nicht fern. In meiner Rolle als Wissenschaftsreporter helfe ich natürlich oft mit, den Fortschritt bekanntzumachen, und hoffe insgeheim, dass der Rückschlag nicht allzu katastrophal ausfällt. In meiner zweiten Rolle als Hofnarr kann ich hingegen die Schönheit des Apfels als bloßen Hintergrund benutzen und mich ganz auf den Wurm konzentrieren, der unweigerlich in der Sache steckt, und diesen genüsslich sezieren.
Im ersten Teil des Buches geht es um technischen Fortschritt, und naturgemäß sind Gebiete, die besonders rasant fortschreiten, hier (wie auch in meiner ernsten Wissenschaftsberichterstattung) öfter vertreten, etwa die Informationstechnologie und die Genomforschung.
Wem gehört die Polymerase-Kettenreaktion?
Ein exzentrischer Erfinder, eine geniale Idee, eine Revolution in der Molekularbiologie, Jurassic Park … was sich so alles mit der kurzen Geschichte der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) assoziieren lässt, ist alles andere als langweilig. Neuerdings ist dieser Aufzählung noch ein hochdramatischer Rechtsstreit um milliardenschwere Patentrechte hinzuzufügen, den Goliath in erster Instanz gegen David verloren hat. Das US-Patent, das Hoffmann-La Roche über das aus Thermus aquaticus gewonnene Schlüsselenzym Taq-Polymerase hielt, so befand ein Richter, sei auf betrügerische Weise erhalten worden und somit »nicht durchsetzbar«.
Wessen geistiges Eigentum dieses Patent eigentlich schützen sollte, war eingeweihten Wissenschaftlern sowieso von jeher ein Rätsel – bestimmt nicht das des Erfinders der PCR. Kary B. Mullis, den der nobelpreisgekrönte Geistesblitz nach eigenen Angaben im Frühjahr 1984 bei einer nächtlichen Autofahrt überraschte, stand seinerzeit in Diensten der kleinen, inzwischen aufgelösten Biotech-Firma Cetus. Er hätte dort kündigen und seine Idee in einer eigenen Firma zur Marktreife entwickeln können; dann wäre er heute steinreich, obwohl die Anwälte von Cetus ihm vermutlich Unannehmlichkeiten bereitet hätten. Da er diesen Schritt jedoch nicht tat, fielen die Patentrechte seinem Arbeitgeber Cetus zu. Dass die Methode an sich – eine der brillantesten Ideen in der Geschichte der Molekularbiologie – patentwürdig war, steht außer Frage.
Wie sieht es aber mit dem verwendeten Enzym aus? In dem jetzt für »betrügerisch« erklärten Patentantrag, aufgrund dessen 1989 das US-Patent erteilt wurde, hatten Wissenschaftler der Firma Cetus behauptet, die von ihnen aus Thermus aquaticus isolierte DNA-Polymerase sei neuartig und verschieden von anderen in der Literatur bereits beschriebenen Präparationen eines solchen Enzyms. Dummerweise ließ sich aber anhand der Cetus-Labortagebücher nachweisen, dass die Forscher sich dieses vermeintlichen, hauptsächlich mit abweichenden Molekulargewichtsschätzungen begründeten Unterschieds keineswegs so sicher waren, wie sie vorgaben. Vielleicht, so stellt sich jetzt heraus, war ihre Taq-Polymerase ja doch identisch mit dem Enzym, das Forscher aus Cincinnati bereits 1976 beschrieben hatten.
Nun fragt man sich, warum muss es eigentlich Thermus aquaticus sein? Es gibt dort draußen in den heißen Quellen und Solfatarenfeldern unseres Planeten Hunderte von thermophilen und hyperthermophilen Bakterien und Archaebakterien. Sie alle haben DNA und vermehren sich, folglich hat jedes von ihnen eine hitzestabile DNAPolymerase. Falls die Taq-Polymerase trotz des Richterspruchs nicht in den Besitz der Allgemeinheit zurückgelangt, täte nur ein kleines bisschen Forschung not, um die von Roche geforderten Gebühren zu umgehen: Schafft Hunderte von PCR-Patenten!
(Nachrichten aus der Chemie April 2000)
Wie klein darf’s denn sein?
Wissenschaftliche Debatten können schon recht kindisch sein, insbesondere wenn es um Lorbeeren für eine Entdeckung oder um Rekorde für’s Guinness-Buch geht: »Mein Supraleiter ist zwei Grad wärmer als deiner … mein Laserpuls ist drei Femtosekunden kürzer … meine Totalsynthese hat einen Schritt mehr … und überhaupt: Ich habe das zuerst entdeckt.« Sie kennen das ja sicher.
Ein Mikrobiologe ist, entgegen anderslautenden Gerüchten, nicht etwa ein Millionstel Biologe, sondern jemand, der sehr kleine Lebewesen erforscht. Auch in diesem Bereich gibt es immer wieder mal Rekorde zu vermelden. Während die jeweils hitzefestesten (Pyrolobus fumarii, 1997) oder größten (Thiomargarita namibiensis, 1999) Mikroben nur jeweils fünf Minuten Ruhm genossen, sind die kleinsten der Kleinen nun seit Jahren in öffentlichkeitswirksame Diskussionen verstrickt. Die in Anlehnung an Mikroben als Nanoben, auch als Nano- oder Nannobakterien bezeichneten Lebewesen sollen zwischen 50 und 500 Nanometer messen. Bereits eine Boten-RNA mit Ribosomen, zugehörigen Faktoren und einer umhüllenden Membran würde den 50 Nanometern nahe kommen. Wie ein solches Wesen mit dem Innenvolumen eines Tausendstel Bakteriums mehr als ein Gen ablesen soll, wissen nicht einmal die beredtesten Anhänger der Nanoben.
Dass sie dennoch zumindest als interessantes Phänomen eine gewisse Glaubwürdigkeit unter Wissenschaftlern gefunden haben, verdanken die Nanoben – ausgerechnet – der NASA. Als diese im August 1996 auf dem in Wissenschaftskreisen eher unüblichen Publikationsweg über Präsident Clinton bekanntgab, der Marsmeteorit 84001 enthalte Versteinerungen ungewöhnlich kleiner Mikroorganismen, war die Medienkarriere der Nanobakterien gesichert.
Wo genau die Nanoben auf dem Mars ansässig waren, bevor sie mit ALH 84001 auf Weltraumreise gingen, wissen wir nicht. Auf unserem Planeten scheinen sie an diametral gegenüberliegenden Orten aufzutreten, nämlich in Finnland und in Australien. In Finnland vertritt Olavi Kajander die Ansicht, dass Nanobakterien für die Bildung von Nierensteinen mitverantwortlich sind. Finnische Kollegen haben inzwischen gegen ihn ein Untersuchungsverfahren wegen Betrugsverdachts angeleiert. In Australien hingegen konnte Philippa Uwins die Strukturen, die sie für Lebewesen hält, aus Sandsteinproben gewinnen, die drei bis fünf Kilometer unter dem Meeresboden erbohrt wurden.
Die australischen Sandstein-Nanoben sind Fasern von nur 20 bis 150 Nanometern Länge. Sie sollen DNA und andere organische Materialien enthalten. Zwei neue Publikationen über diese merkwürdigen (Lebe-?)Wesen sind auf dem Weg, und mittlerweile gibt der bekannte australische Wissenschaftsautor Paul Davies schon mal Schützenhilfe. Philippa Uwins sollte bei der Wahl ihrer Unterstützer allerdings ein bisschen aufpassen. Der Mikrobiologe John Baross, der sich in Zeitungsinterviews mit großer Begeisterung über Nanoben äußerte, ist der Fachwelt vor allem als Co-Autor einer spektakulären Falschmeldung in Erinnerung: der »Entdeckung«, dass Bakterien an heißen Quellen in 250°C heißem Wasser leben können.
(Nachrichten aus der Chemie Juni 2000)
Von Nullen und Basen
Zahlen mit drei oder mehr Nullen haben diesen merkwürdigen Effekt, für den es bisher keine wissenschaftliche Erklärung gibt. Vermutlich handelt es sich um eine neuronale Kurzschlussreaktion mit einhergehender Hirnerweichung, die rationales Denken für einen gewissen Zeitraum unmöglich macht. Millenniumswahn, Lottofieber, Mega-Mergers … an Beispielen war ja gerade in jüngster Zeit kein Mangel.
Am 23. November vergangenen Jahres erreichte der Null-Effekt die Gensequenzierer: Die einmilliardste Base des menschlichen Genoms sei sequenziert worden, und es habe sich um ein G gehandelt, verkündete Nature zwei Tage darauf bierernst. Wie die Ident...