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Fragestellungen aus Praxis und Wissenschaft
Das Thema „Ressourceneffizienz“ (Produktivität) ist für die chemische und pharmazeutische Industrie von besonderer Bedeutung. Hier werden nämlich sehr große Mengen vor allem an stofflichen Ressourcen verbraucht, um neue Stoffe herzustellen. Sowohl der Verbrauch der immer knapper werdenden Ressourcen als auch die Herstellung neuer anthropogener Stoffe sind von erheblicher Relevanz für Ökonomie und Ökologie. Die chemische Industrie ist sich bewusst, dass es sich bei der Ressourceneffizienz um einen „Megatrend“ [1] handelt, der klare Antworten und Konzepte auch vonseiten der Chemie erfordert. Sie macht sich sogar Weizsäckers Forderung zu eigen: „Ressourcenproduktivität muss zum Leitmotiv unserer Zeit werden“ [2].
Über drei Jahrzehnte hinweg haben wir uns in Theorie und Praxis mit dem Thema „Ressourceneffizienz in der Chemie“ beschäftigt. Die vorliegende Monografie ist eine Zusammenfassung der Erfahrungen und Ergebnisse aus dieser Zeit. Sie zeigt dabei auch die Zusammenhänge zwischen Ressourceneffizienz, Ökonomie und Ökologie. Wichtig ist dabei eine ganzheitliche, interdisziplinäre Betrachtungsweise mithilfe geeigneter Methoden und Werkzeuge.
Es geht hier aber nicht nur um Modelle und Theorien mit ganzheitlichem Ansatz. Die vorliegende Monografie beinhaltet auch Antworten auf eine Reihe von Fragen aus der Praxis von Chemieunternehmen. Sie sollen dazu beitragen, dass vor allem die Entscheidungen im Zusammenhang mit der Entwicklung und Verbesserung von chemischen Verfahren schnell, systematisch und zielsicher getroffen werden können. Je besser dies gelingt, desto mehr Arbeit, Zeit und Kosten werden eingespart.
Die vorliegende Monografie beinhaltet aber auch Antworten auf eine Reihe von theoretischen Fragen, die primär für die Wissenschaft (Universitäten) von Bedeutung sind. Sie resultieren vor allem aus der logischen Interdependenz von Ressourcen-, Umwelt- und Kostenmanagement. Diese Fragen und Antworten sind aber nicht nur „rein akademischer Natur“, sondern auch für die Praxis in der Industrie wichtig. Hier gilt nämlich die alte Erfahrung, nach der für die Praxis nichts nützlicher ist als eine gute Theorie.
Im Folgenden sind einige der Fragen und Problemstellungen aufgelistet, die in dieser Monografie behandelt werden.
1.1 Fragen aus der Praxis von Chemieunternehmen
Frage 1
Die Entwicklung und Verbesserung chemischer Verfahren in den Labors und Technika ist ein langwieriger Prozess, der meist mehrere Jahre dauert. In der Regel werden die Verfahren in der Produktion durch KVP-Aktivitäten (KVP = Kontinuierlicher Verbesserungsprozess) weiter verbessert. Das bedeutet, dass im Laufe der Prozess-Lebensdauer (Process Life Cycle) über viele Jahre hinweg die Ressourceneffizienz erhöht und/oder die Qualität verbessert und/oder die Kosten gesenkt werden. Um Zeit und Kosten zu sparen, ist es wichtig, dass diese Verbesserungsprozesse durch systematisches Vorgehen zum frühestmöglichen Zeitpunkt, möglichst schon im Labor durchgeführt werden. Es geht hier somit darum, dass bereits bei der Übergabe eines Verfahrens an den Betrieb die Materialeffizienz möglichst hoch und die Kosten möglichst niedrig sind. Welche Methoden und Werkzeuge des Process Life Cycle Managements (PLCM) sind dazu geeignet, die Schwachstellen möglichst früh zu erkennen?
Betrachtet man die Verfahrensoptimierungen hinsichtlich der Zielgrößen Materialeffizienz und Kosten, stellen sich ganz konkret folgende Fragen:
1) Materialeffizienz (Abb. 1.1)
An welchen Stellschrauben kann man drehen, um möglichst schnell möglichst nahe an die Materialeffizienz-Obergrenze heranzukommen?
2) Kosten (Abb. 1.2)
An welchen Stellschrauben kann man drehen, um möglichst schnell möglichst nahe an die Kostenuntergrenze heranzukommen?
3) Grenzwerte
An welchen Stellschrauben kann man drehen, um die Materialeffizienz-Obergrenze zu erhöhen und die Kostenuntergrenze zu erniedrigen?
Frage 2
Das PLCM beinhaltet die zielorientierte Steuerung der Entwicklung und Verbesserung chemischer Prozesse (Verfahren) „von der Wiege bis zur Bahre“, d. h. vom Labor bis zur Stilllegung im Betrieb. Wie lassen sich die Entwicklungsfortschritte vor allem hinsichtlich Ressourceneffizienz, Umweltbelastung und Kosten quantifizieren und visualisieren?
Frage 3
Stehen nicht oft bei den Managemententscheidungen die PLCM-Ziele wie Ressourceneffizienz, Umweltbelastung und Kosten in Konkurrenz zueinander? Wie ist in solchen Fällen der Zielkonflikte in der Praxis methodisch zu verfahren?
Frage 4
Gehören zum PLCM Methoden wie Materialflussanalysen (MFA), Kostenflussanalysen (KFA), umweltorientierte Flussanalysen (UFA) und Wertflussanalysen (WFA)? Gibt es unter diesen logische Zusammenhänge?
Abb. 1.1
Abb. 1.2
Frage 5
Braucht das PLCM Ökobilanzen?
Frage 6
Braucht man aufgrund der (neueren) Umweltgesetze eigene Instrumente des Umweltmanagements oder ist Umweltmanagement ein integrierter Bestandteil des PLCM?
Frage 7
Gibt es Materialeffizienz-Benchmarkwerte für chemische Verfahren, an denen man sich in der Praxis orientieren kann?
Frage 8
Entsprechend dem neuen „Factbook 05“ des VCI fallen in der Chemie nur sehr geringe Reststoffmengen an: „Auf Ebene der chemischen Industrie ist daher nicht der Durchschnitt einzelner Prozessausbeuten maßgeblich, sondern die Menge der nicht genutzten Abfälle. Im Verhältnis zur Menge eingesetzter Rohstoffe macht diese heute nur noch 2 % aus: 98 % der Rohstoffe werden genutzt“ [3]. Dies würde eine durchschnittliche Materialeffizienz von 98 % bedeuten. Ist diese in der Praxis tatsächlich so hoch?
Frage 9
Im „Factbook 05“ des VCI wird ausgeführt: „Allerdings ist der ursprüngliche Ansatz des BMU nicht haltbar, den Einsatz von Rohstoffen in der industriellen Produktion absolut zu senken. In der chemischen Industrie liegt die Ausbeute vieler Prozesse nach stetiger Optimierung heute bereits zum Teil deutlich über 95 % und damit an der Grenze des chemisch-physikalisch Möglichen. Das heißt: Für eine absolute Senkung des Rohstoffeinsatzes müsste die Produktion reduziert werden“ [4]. Entspricht es der Tatsache, dass die Materialeffizienz chemischer Verfahren mit hoher stöchiometrischer Ausbeute (> 95 %) grundsätzlich nicht mehr weiter gesteigert werden kann?
Frage 10
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Materialeffizienz und Energieeffizienz chemischer Verfahren?
Frage 11
Es ist allgemein anerkannter Stand der Theorie und Praxis, dass kaufmännische Buchführung und Bilanzen erforderlich sind, um die Geld- bzw. Wertströme der Unternehmen zu erfassen und zu steuern. Ist nicht analog hierzu eine standardisierte technische Buchführung mit Stoffbilanzen erforderlich, um die Stoffströme in Chemieunternehmen systematisch zu erfassen und zu steuern?
Frage 12
Wenn sich alle wichtigen umweltrelevanten Parameter wie z. B. CO2-Emissionen oder Abwasserinhaltsstoffe (Halogen, TOC etc.) auf der Basis von Stoffbilanzen berechnen lassen, lässt sich dann nicht auch der Aufwand für Laboranalysen in den Betrieben reduzieren?
Frage 13
Muss nicht z. B. bei Wirkstoffsynthesen in Pharma und Pflanzenschutz neben den einzelnen Syntheseverfahren auch die gesamte Prozesskette berücksichtigt werden? Sind die Methoden der Prozessanalysen verschieden von denen der Prozesskettenanalysen?
Frage 14
In vielen Synthesen fallen Koppelprodukte an, die oft als Reststoffe entsorgt werden. Diese sind nach weitverbreiteter Meinung nicht vermeidbar, weil sie aufgrund von Naturgesetzen anfallen. Gibt es wirklich keine Möglichkeit, die Koppelprodukte in der Praxis zu vermeiden oder zumindest deren Mengen zu reduzieren und damit die Materialeffizienz zu erhöhen?
Frage 15
Ist es zweckmäßig, bereits im Laborstadium der Verfahrensentwicklung eine chemiespezifische Prozesskostenrechnung einzusetzen?
Frage 16
Ist es zutreffend, dass die in der Praxis weitverbreitete Kostenträgerrechnung („Herstellkostenrechnung“) in vielen Fällen irreführend ist, vor allem bei den Entscheidungen, die in Verfahrensentwicklung (VE) sowie in Produktion und Technik (P+T) zu fällen sind? Wenn ja, welche Form der Kostenrechnung ist hier zu bevorzugen?
Frage 17
Bei beabsichtigten Unternehmenskäufen werden „Due Diligence-Prüfungen“ durchgeführt. Der Schwerpunkt liegt meist noch bei Finanz- und Marktanalysen. Technische und ökologische Aspekte spielen aber eine zunehmende Rolle. Sollten nicht gerade bei der ganzheitlichen Betrachtung der Bereiche „Forschung und Entwicklung“ (F&E) sowie „Produktion und Technik (P&T)“ zweckmäßigerweise die Methoden „Materialflussanalyse (MFA), Kostenflussanalyse (KFA), umweltorientierte Flussanalyse (UFA) und Wertflussanalyse (WFA)“ eingesetzt werden?
Frage 18
Welches sind die Hauptursachen von Innovationssprüngen bei den chemischen Verfahren der Industrie?
1.2 Fragen aus der Wissenschaft
Die nachfolgenden – mehr methodischen – Frage...