Sapere aude (Wage es, zu denken) Horaz
1.1 Motivation
Am Anfang jeder Wissenschaft steht das Staunen. Die Farbtafel links zeigt das Gemälde des italienischen Malers Caravaggio, auf dem sich Narziss ahnungsvoll, und der Sage nach selbstverliebt, über sein Spiegelbild in der Quelle beugt. Das Gemälde hält den magischen Moment des zweifelnden, staunenden Selbsterkennens fest, den wir alle empfinden und kennen, wenn wir in den Spiegel schauen und uns unserer selbst bewusst werden.
Aber wie funktioniert das? Was ist Bewusstsein?
Bei dem Wort Bewusstsein fallen uns sofort mehrere Bedeutungen ein. Wenn wir aus dem Schlaf aufwachen und unser Bewusstsein wiedererlangen, bezeichnen wir damit unseren Wachheitsgrad. Wenn wir mit vollem Bewusstsein ein Lachen unterdrücken, meinen wir damit, dass wir uns unter Kontrolle haben. Wenn wir im Kaufhaus auf einem Fernsehschirm – der etwas von uns entfernt steht – eine Figur erkennen, die uns bekannt vorkommt und die, wenn wir genauer hinschauen, sogar einen Mantel trägt, der unserem ähnlich sieht, dann steigt in uns langsam der Verdacht auf, das wir das sind. Wenn wir dann ein wenig mit der Hand winken und die Gestalt auf dem Schirm auch winkt, haben wir Gewissheit: Wir haben uns selbst als Person bewusst erkannt.
Unser Bewusstsein führt uns aber noch weiter. Wir können über uns und unsere Umwelt nachdenken. Diese Fähigkeit zur Selbstreflexion unterscheidet uns vom Tier. Ohne Bewusstsein bleibt die ganze Evolution ein Prozess, bei dem sich niemand Gedanken macht, »ein sinnloses Spiel vor leeren Bänken«. Nur wir Menschen können fragen: »Was soll das Ganze, was hat das ganze Weltgeschehen für einen Sinn?«
Unser Bewusstsein bestimmt unser Bild von der Welt und vom Menschen. Mit seiner Hilfe können wir auf beide, die Umwelt und den Menschen, gezielt und wohl wissend, was wir tun, also selbstverantwortlich, Einfluss nehmen. Die Frage »Was ist Bewusstsein?« betrifft daher ganz zentral die Vorstellung, die wir von unserer Existenz in der Welt haben.
Aber die Frage nach dem Bewusstsein ist auch für unser tägliches Leben – also praktisch – höchst relevant.
Betrachten wir einmal einen Schachcomputer. Er gewinnt oft sogar gegen kluge Schachexperten, aber hat er ein Bewusstsein? Nein, werden wir sagen, er ist aus Chips zusammengesetzt und hat selbst keine Ahnung davon, was er ist. Er erkennt auch nicht die Bedeutung dessen, was er tut. Er ist eben nur programmiert, um zu gewinnen. Es gibt aber auch Schachcomputer, die nicht vollständig programmiert sind, sondern das Spiel erlernen, indem zwei Computer gegeneinander spielen. Sie speichern dabei nur Spielzüge, die zum Gewinn geführt haben, und können so durch Versuch und Irrtum die Schachregeln samt Gewinnstrategie »erlernen«. Das ist schon beeindruckender.
Neu hinzugekommen sind zwei bedeutende Vorgänge: Das Lernen und die Bewertung durch Gewinn. So ein Schachcomputer ist noch sehr weit von einem lebenden System wie etwa einem Hund entfernt, bei dem sich der Überlebenstrieb und das zugehörige Bewertungssystem im Laufe der Evolution durch Mutation und Selektion entwickelt haben. Aber immerhin kann sich der Computer entwickeln, wenngleich auch auf sehr, sehr beschränktem Gebiet. Könnte daraus mehr werden? Betrachten wir dazu den Schritt vom Unbewussten zum Bewussten, wie er bei den Lebewesen auftritt. Im Wesentlichen geschieht dieser Schritt dadurch, dass sich auch Detektoren, die Nervensignale empfangen und bewerten, »wie Augen« nach innen richten und den Denkprozess im Gehirn zumindest teilweise beobachten und daher kontrollieren können. So entsteht ein sich selbst beobachtendes System, das über sich und sein Innenleben auch sprachlich berichten kann und sich damit seiner selbst bewusst wird. Könnten wir nun auch einen Computer bauen, der über seine Innenfunktion berichtet?
Ja, auch das gibt es schon. Wenn unser Computer zu Hause überlastet wird oder nicht weiterkommt, also »hängt«, dann meldet er das und wir müssen ihn neu starten. Aber wieder werden wir sagen, dass so ein bisschen Selbsteinblick ja meilenweit vom menschlichen Selbstbewusstsein entfernt ist.
Könnte ein Computer mit ein bisschen mehr Bewusstsein uns gefährlich werden? Die Frage wird meist verneint mit dem einfachen Hinweis: »Stecker herausziehen.« Aber was passiert, wenn wir den Stecker gar nicht mehr herausziehen wollen? Stellen wir uns eine Art Superunterhaltungsmaschine vor. Sie begrüßt uns, wenn wir sie anschalten. Sie ist programmiert, uns so zu unterhalten, dass ihre Einschaltzeit verlängert wird. Dabei beobachtet sie auch sich selbst, um ihr Verhalten diesem Ziel anzupassen. Sie entwickelt immer bessere Programme, die uns danach süchtig machen, sie immer öfter einzuschalten. Wenn intelligente Systeme bewusst unser Gefühlszentrum manipulieren können, haben sie die Möglichkeit, uns zu beherrschen. Diese intelligenten Systeme, die uns kontrollieren wollen, können aber auch unsere Mitmenschen, ja sogar wir selbst sein. Es ist also wichtig, etwas mehr über das Bewusstsein zu erfahren, damit wir gegen solche Manipulationen gewappnet sind.
1.2 Wie wollen wir vorgehen?
Wir möchten die Frage »Was ist Bewusstsein?« naturwissenschaftlich betrachten. Unser Ziel ist daher, eine operative Definition für Bewusstsein zu finden, die zu nachprüfbaren Vorhersagen führt. Dazu verhilft uns ein Blick auf die Evolution.
Bewusstsein beschreibt bei uns Menschen einen Zustand unseres Gehirns, in dem wir Umweltreize wahrnehmen und darauf mit Handlungen oder Worten reagieren können. Dieser Zustand ist verschieden vom Schlafzustand oder vom narkotisierten Zustand bei einer Operation. Da aber auch Tiere schlafen oder narkotisiert werden können, ist die Beschreibung des Bewusstseins als ein Gehirnzustand, der sich von Schlaf und Narkose unterscheidet, nicht auf den Menschen beschränkt.
Wenn wir uns als Menschen über etwas bewusst werden, so heißt das umgangssprachlich, dass wir es als neue Tatsache registrieren und versuchen, es in seinem Wert zu erkennen, so dass wir es in künftige Planungen mit einbeziehen können. Dies geschieht zum Beispiel, wenn wir uns beim Aufwachen dessen bewusst werden, dass heute Sonntag ist. Dieser Prozess bringt uns also Vorteile beim Planen unseres Verhaltens. Er ermöglicht es auch, uns selbst als Handelnde zu erkennen, d. h. uns unserer selbst bewusst zu werden. Hierdurch unterscheiden wir uns vom Tier. Wir meinen im Folgenden diesen Prozess, in dem wir uns der Umwelt und unserer selbst bewusst werden, wenn wir von Bewusstsein sprechen.
Aber wie funktioniert dieser Vorgang?
Zur Beantwortung dieser Frage gehen wir von der Annahme aus, dass wir uns mithilfe von Sinneseindrücken im Gehirn ein Bild der Umwelt »errechnen«. Auf der Basis dieser Berechnungen optimieren wir unser Handeln dann so, dass wir die besten Überlebenschancen haben.
Abbildung 1.1 zeigt, dass während unserer Entwicklung mit dem Volumen der Hirnrinde auch die Größe der sozialen Gruppe, also die soziale Kompetenz angewachsen ist. Dies bedeutet, dass wir den größten Teil der Planungen und Kontrollen in unserem bewussten Leben auf unsere Mitmenschen beziehen. Daher gehen wir hier von folgender Hypothese aus:
»Bewusstsein ist ein Kontrollprozess, der evolutionäre Vorteile vor allem im Sozialverhalten erbringt.«
Wie alle Lebewesen sind wir ein Produkt der Evolution, und das gilt ebenso für unser Bewusstsein. Abbildung 1.2 zeigt, wie wir es in diesem Rahmen einordnen können.
Bei den niedersten Lebewesen wie Einzellern oder Schleimpilzen ist der Doppelstrang der Desoxyribonukleinsäure (DNS) der alleinige Träger der Information, die den Aufbau der Lebewesen bestimmt und die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die Evolution erfolgt durch Mutation und Selektion und erfordert zur Neuerung einen Generationswechsel. Das Auftreten von Nervenzellen bringt eine starke Beschleunigung in der Evolution mit sich, da sich dadurch Lebewesen wie etwa eine Schnecke oder eine Hauskatze durch Lernen schon während ihrer Lebensdauer, d. h. innerhalb einer Generation, besser an die Umwelt anpassen können. Allerdings wird die gelernte Information nicht direkt weitervererbt, sondern der Träger der Erbinformation ist weiterhin die DNS. Bleibende Veränderungen erfordern wieder einen Generationswechsel.
Durch die Existenz eines Nervensystems (dessen grobe Struktur genetisch, d. h. durch die DNS bestimmt ist) hat sich aber die Variationsbreite der Reaktionen auf die Umwelt vergrößert, und damit auch die Palette der Kandidaten innerhalb einer Generation, unter denen die natürliche Auslese erfolgt.
Abb. 1.1 Die Größe der sozialen Gruppe wächst mit dem Volumen der Hirnrinde. Extrapoliert man die von Primaten experimentell gewonnenen Werte (Punkte), kommt man für den Menschen (großer Punkt) auf etwa 150 Personen als maximale Gruppengröße. Dies stimmt mit der mittleren Mitgliederzahl der Sammler- und Jägerstämme überein, die vor etwa einhunderttausend Jahren auftraten, als unser Gehirn seine jetzige Größe erreichte.
Durch das Auftreten des Bewusstseins gibt es eine echte Neuerung, die sich auf die Art der Weitergabe von Informationen von Generation zu Generation bezieht. Sie kommt dadurch zustande, dass wir Menschen uns mit unseren Artgenossen zu Gruppen zusammenschließen und sprachlich austauschen können. Damit können wir unser durch Lernen erworbenes Wissen – sei es in Form von Werkzeugen, sei es wie früher in Form von Erzählungen oder Mythen oder wie heute in Form von Büchern oder elektronischen Medien – direkt sowohl innerhalb einer Generation als auch von Generation zu Generation weitergeben. Dieser kulturelle Wissenstransfer bietet, zusätzlich zur DNS, einen durch Erfahrungen modifizierbaren, kollektiven »Riesengedächtnis«-Speicher. Wenn wir beispielsweise nur an die technischen Entwicklungen der letzten hundert Jahre denken, so hat sich durch ihn unsere Evolution ungeheuer beschleunigt. Unser Bewusstsein tritt direkt an der Schwelle zu dieser neuen Stufe der Evolution auf.
Abb. 1.2 Stufen der Evolution: Bei allen Lebewesen ist der Doppelstrang der DNS der Träger der Erbinformation, die sich von Generation zu Generation durch Mutation und Selektion verändert. Während dieser Prozess der molekularen Darwin’-schen Evolution bei niederen Lebewesen wie Einzellern die einzige Möglichkeit zur Adaptation an die Umwelt darstellt, wird bei Tieren mit Nervensystem das Lernen von bedingten Reflexen schon während einer Generation möglich. Allerdings kann dieses so erworbene, neuronal gespeicherte Wissen nicht direkt vererbt werden. Beim Menschen wird durch das Auftreten des Bewusstseins – das sich u. a. durch eine innere symbolische Darstellung der Umwelt und des Menschen selbst auszeichnet, die zu Selbstbeobachtung und Sprache führt – ein ständiger kultureller Wissenstransfer möglich, der als gesellschaftliches, kollektives »Riesengedächtnis« unsere Evolution sprungartig beschleunigt.
Die Frage »Was ist Bewusstsein?« beschäftigt Philosophen seit Jahrhunderten. In jüngster Zeit sind Neurobiologen auf der Suche nach neuronalen Korrelaten des Bewusstseins. Die im Anhang zitierten Bücher der Philosophin Patricia S. Churchland und der Neurobiologen Christof Koch und Gerhard Roth bieten zu diesen Themen ausgezeichnete Einführungen.
Aber Abb. 1.3 zeigt, dass sich unser Gehirn von dem eines Schimpansen im Wesentlichen durch eine Vergrößerung der Hirnrinde auszeichnet, deren Grobstruktur der des Schimpansen analog ist.
Es ist also nicht einfach ein »Bewusstseinsknoten«, der bei uns im Gehirn hinzukommt, sondern die Neuerung, die den Bewusstseinsprozess bei uns ermöglicht, muss in den Details der dynamischen Verknüpfungen des hinzugekommenen neuronalen Netzwerkes liegen, die aber derzeit nicht messbar sind. Der Zugang zu einem rein empirischen, auf neurobiologischen Experimenten beruhenden Verständnis des Bewusstseins steht daher noch in den Anfängen.
Aber in den Naturwissenschaften hat sich oft die Zusammenarbeit zwischen Theorie und Experiment bewährt.
Wir schlagen daher hier – zusätzlich zum philosophischen und neurobiologischen – einen dritten systemtheoretischen Zugangsweg zum Bewusstsein vor.
Ein solcher Zugang wurde vom »Vater des Computers«, dem ungarischen Mathematiker John von Neumann, erstmalig auf die Frage »Was ist Leben?« mit Erfolg angewandt. Leben hat etwas mit Selbstreproduktion zu tun. Daher hat von Neumann 1949 die minimale logische Organisation von sich selbst reproduzierenden Maschinen untersucht. Er fand unter anderem, dass eine solche Maschine notwendigerweise einen Bauplan enthalten muss, der eine Doppelrolle spielt. Zum einen dient er als Plan zum Bau der neuen Maschine aus Rohmaterialien, zum anderen wird er kopiert, und die Kopie wird an jede neue Maschine weitergegeben, wodurch die Produktion weiterläuft. Vier Jahre später fanden die späteren Nobelpreisträger Jim Watson und Francis Crick mithilfe von Röntgenaufnahmen von Maurice Wilkinson, dass das DNS-Molekül genau diese Doppelrolle als Bauplan erfüllt.
Abb. 1.3 Das Gehirn eines Menschen ist etwa drei mal größer als das eines Schimpansen (Bonobo) , obwohl beide ähnliche Körpergrößen haben. Die Neuerung beim Menschen besteht in der Vergrößerung der Masse der Gehirnrinde und einer möglichen Umstrukturierung der dynamischen Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Es gibt aber keine derzeit messbaren neuartigen Gehirnmodule, die Rückschlüsse auf das Bewusstsein zulassen. Mit freundlicher Genehmigung von Prof. T.W. Deacon, University of Berkeley, USA.
Im vorliegenden Buch versuchen wir, in einem...