1. Das zentrale Marketing hat sich überholt
Der Ursprung des neuen Marketings
Marketing ist keineswegs, wie gerne und oft beschrieben, eine »Erfindung« aus Amerika. Marketing ist uralt. Es existiert, seit es Handel, Gewerbe und Dienstleistungen gibt. Und schon immer war es das Ziel von Unternehmern, die Kunden so zufriedenzustellen, dass sie zufrieden sind und wiederkommen, im Idealfall sogar als begeisterte Empfehler auftreten. Auch die Maßnahmen, die eingesetzt wurden, um Kunden zufriedenzustellen oder zu begeistern, sind in den Grundelementen bis heute unverändert geblieben. Der Unterschied zum »Ur«-Marketing besteht darin, dass sich die Möglichkeiten und Methoden, Kunden zu informieren, zu beeinflussen, zu gewinnen und zu binden, extrem erweitert haben.
Das »neue« Marketing hat sich von Amerika kommend ausgebreitet wie eine Flutwelle. Nicht mit der Vernichtungskraft eines Tsunami, sondern zunächst mit der schöpferischen Kraft der einstigen Überschwemmungen des Nils. In relativ kurzer Zeit verbreitete sich das Marketing auf Grund seiner Erfolge weltweit.
Zu Anfang, als sich der Wechsel vom Verkäufer- zum Käufermarkt vollzog, war alles recht einfach. Es gab noch kein instrumentalisiertes Marketing; vielmehr suchten die Unternehmen neue Märkte und Kunden für ihre Produkte, weil der regionale Markt die industriell produzierten Mengen nicht mehr aufnehmen konnte.
In dieser Situation konzentrierte sich die Lösungssuche folgerichtig auf vier Bereiche:
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Welche Möglichkeiten sind außerhalb des Heimatmarktes vorhanden, um zusätzlichen Absatz zu generieren?
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Wie kann man innerhalb des eigenen, regionalen Absatzgebietes neue Kunden gewinnen?
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Wie kann der Umsatz mit erweiterten bzw. neuen Angeboten ausgebaut werden?
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Welche Möglichkeiten bestehen, um den Umsatz mit Bestandskunden zu erhöhen?
Für die Lösung dieser Aufgaben mussten sich die Unternehmen nun professionell mit neuen Fragen auseinandersetzen, wie zum Beispiel:
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Wie kann in fremden Marktgebieten erfolgreich Wettbewerbsverdrängung betrieben werden?
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Welche Argumente und Maßnahmen müssen eingesetzt werden, um Nachfrage zu generieren?
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Welche Möglichkeiten sind vorhanden, sich als (bessere) Alternative darzustellen?
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Welche Maßnahmen müssen initiiert werden?
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Wie kann das Programm ergänzt bzw. erweitert werden?
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Welche Möglichkeiten der horizontalen, vertikalen oder diagonalen Diversifikation können genutzt werden?
Aus diesen Fragen ergaben sich zwangsläufig weitere Aufgaben wie beispielsweise die Beobachtung des Wettbewerbs, Produktanalysen, Marktforschung und andere mehr.
Der Einbruch der größeren Unternehmen in die Heimatmärkte der regionalen Anbieter löste zwangsläufig entsprechende Gegenreaktionen aus. Die »Hochrüstung« begann. Die Verteidigungsmaßnahmen zur »Markterhaltung« und die »Angriffsstrategien« wurden immer subtiler und aggressiver.
Die Wissenschaft entdeckte dieses neue Tätigkeitsfeld sehr schnell für sich. Die Maßnahmen wurden qualitativ und quantitativ weiterentwickelt und methodisiert. Damit war zugleich eine neue Unternehmensaufgabe geboren: die geplante, methodische und strategische Vermarktung von Waren und Dienstleistungen bei gleichzeitiger Verdrängung der Wettbewerber – das Marketing.
Die Unternehmensleitungen erkannten schnell die Bedeutung dieser neuen Unternehmensdisziplin. Jeder wusste, dass es nichts nutzt, die besten Maschinen und die besten Produkte zu besitzen, wenn man nicht genügend Abnehmer gewinnt. Im Kampf um die Gunst der Käufer begann der Siegeslauf des professionellen Marketings. Das Überangebot von Produkten und Leistungen hatte eine neue Ära des Wettbewerbs eingeläutet.
Das Wesen des Marketings
Das »neue« Marketing ist im Prinzip autoritär. Obwohl die Markt- und Wettbewerbsbedingungen nur sehr begrenzt zu beeinflussen sind, werden Marketingziele und daraus abgeleitete Vertriebs-, Kommunikations- und sonstige Ziele im Allgemeinen »festgeschrieben« und sind damit im Prinzip diktatorisch. Plan- bzw. Zielveränderungen erfolgen nur bei gravierenden Ereignissen.
Unternehmens- und damit verbundene Marketingziele sind mehr oder weniger öffentlich und somit weitgehend »veränderungsresistent«. Sobald in der Öffentlichkeit bekannt wird, dass kommunizierte Ziele nicht erreicht werden, führt das schnell zu kritischen Beurteilungen.
Dass Marketing ein zentrales Handlungsfeld mit vielen Möglichkeiten ist, entdeckten sowohl die Lehrenden an den Universitäten als auch die mit dieser Aufgabe betrauten Mitarbeiter in den Unternehmen sehr schnell. Sie erkannten die Möglichkeiten, die sich für sie ergaben. Sie machten aus einer »Absatzwirtschaft« das »Marketing« und entwickelten mehr und mehr den Anspruch der ganzheitlichen, markt- und kundenorientierten Unternehmensführung. Das war der Beginn der »Unterwerfung« vieler Unternehmensbereiche.
Der Anspruch und die Umsetzung der markt- und kundenorientierten Unternehmensführung dehnten sich immer mehr auf andere Unternehmensbereiche aus. So wurde im Laufe der Zeit die Forderung entwickelt, dass die vertriebs- und kundenorientierten Maßnahmen bereits bei der Motiv- und Marktforschung beginnen und erst beim Controlling enden müssten. Damit wurden von der Motivforschung über die Produktspezifikation, den Vertrieb bis zum Service sämtliche Handlungsfelder vom Marketing okkupiert.
Später wurden dann – ebenfalls mit dem Anspruch der ganzheitlichen Unternehmensführung – weitere Aufgaben integriert: PR, Forschung und Entwicklung sowie der Einkauf waren die Unternehmensbereiche, in die mehr oder weniger via Vorgaben eingegriffen wurde. Damit hatten die Marketingleute – mit tatkräftiger Hilfe der Wissenschaft – die Pole Position erreicht.
Die Unternehmensführungen hatten nun einen Apparat mit hochbezahlten Spezialisten, die für sie planten. Sie konnten sich auf die Unternehmensstrategie konzentrieren. Aber die »Basis-Verantwortung« für die Wettbewerbs- und »Zukunftsfähigkeit« des Unternehmens hatte das Marketing übernommen.
Natürlich müssen Marketingabteilungen nach den generellen Zielvorgaben der Unternehmensleitung arbeiten. Aber je größer die Unternehmen sind, desto größer ist die Anzahl der vielen spezialisierten Marketingabteilungen. Die Leistungen, die diese Abteilungen erbringen, sind oft so spezifisch, dass die Unternehmensleitungen die Einschätzungen, Interpretationen und Beurteilungen, die ihnen geliefert werden, fachlich selten hinterfragen können. So nimmt das Marketing auch Einfluss auf die Unternehmensstrategie.
Besonders gut lässt sich das an der Motiv- und Marktforschung darstellen. Weil die Unternehmensleitungen diese Fachgebiete selten beherrschen (können), sind sie auch nicht in der Lage, Ergebnisse fachlich zu beurteilen. Damit sind sie aus zwei Gründen gezwungen, die Interpretationen und Empfehlungen mehr oder weniger zu akzeptieren, die ihnen angeboten werden. Gleichzeitig haben sie ein perfektes Alibi. Entscheidungen, die auf der Basis von Motiv- und Marktforschungsergebnissen getroffen wurden, demonstrieren die Sorgfalt bei der Entscheidungsfindung. Und wenn es trotz aller positiven Prognosen doch ein Flop wird, gibt es selten einen Verantwortlichen.
Die 14 Nachteile des zentralen Marketings
Obwohl sich sowohl die Markt- und Wettbewerbsbedingungen als auch die Möglichkeiten der Vermarktung stark verändert haben, hat das Marketing weniger mit angepassten Lösungen als mit einem immer weiteren Ausbau des Systems reagiert.
Über die Ursachen kann man nur spekulieren: Vielleicht wünschen sich die im System handelnden Personen keine Veränderung, weil die Auswirkungen für sie negativ wären. Die Lehrenden an den Universitäten stellen sich bzw. die vorhandenen Theorien möglicherweise nicht in Frage, weil die Neuausrichtung ihren Einfluss und ihre (externe) Tätigkeit einschränken könnte.
Es folgen deshalb 14 Argumente, die aufzeigen, dass das Marketing in seiner jetzigen Form den geltenden Anforderungen nicht mehr gerecht werden kann.
1. Die systembedingte Trägheit
Aufgrund ihrer Arbeitsmethodik sind zentrale Marketingabteilungen systembedingt träge. Sie müssen interne und externe Daten und Fakten anfordern, prüfen, abstimmen, koordinieren, interpretieren und in Pläne umsetzen. Und in vielen Fällen benötigen sie dafür auch noch externe Hilfe. Die Konsequenz dieser zentralen Planung ist ein hoher Zeitbedarf für die Entwicklung der Planvorgaben.
Der Einwand, dass die Unternehmen und damit die Marketingabteilungen vorausschauend planen müssen, ist grundsätzlich richtig, aber gleichzeitig wird damit auch die Realitätsferne dokumentiert. Wenn große Unternehmen kurz-, mittel- und langfristig planen, bedeutet dies, dass Pläne mit einem Vorlauf von mehreren Monaten für die nächsten ein, zwei, drei und mehr Jahre erstellt werden. Während bei langfristigen Plänen noch die Möglichkeit der Anpassung besteht, sollen kurzfristige Vorgaben meist ohne Korrektur erfüllt werden. Das heißt, je kürzer der Zeitraum, desto konkreter und verpflichtender sind die Zielvorgaben.
Aus meiner eigenen Praxis kann ich sagen, dass ein derartiger Ablauf quasi zu Manipulationen verleitet. Ich musste – verantwortlich für einen siebenstelligen nationalen Werbeetat – bis zum 31. Juli des laufenden Jahres mein »latest estimate« an die überseeische Konzernzentrale für das kommende Kalenderjahr abgeben. Der Etat umfasste 43 Positionen. Dabei musste ich konkret angeben, wie hoch pro Monat, pro Position, (also 43 × 12 = 516 Etatpositionen) die Ausgaben für welche Leistungen sein werden.
Irgendwann, Ende Oktober bis Anfang November, bekam ich meine Maßnahmen- und Etatplanung aus Übersee korrigiert zurück. Oft mit gravierenden Eingriffen und immer ohne Rückfrage. Die Marketinggewaltigen hatten fleißig meine Pläne korrigiert und die Zahlen/Ausgaben eingetragen, die für mich »Gesetz« waren. Meine ursprüngliche Begeisterung für dieses Unternehmen und diesen Job war nach der ersten Etatplanung verflogen. Meine Motivation war gekillt. Ich musste zu einem erheblichen Teil Ausgaben verantworten, die meinem Wissen und Kenntnisstand widersprachen.
Unabhängig von diesen marktfremden Korrekturen musste jede dieser 516 Etatvorgaben eingehalten werden. Die Aktivitäten und die Ausgaben der 43 Positionen wurden jeden Monat detailliert geprüft. Wurde eine Planzahl um 10 Prozent über- oder unterschritten, musste die Differenz gegenüber der nationalen Geschäftsleitung in schriftlicher Form ausführlich begründet werden. Auf der Basis meiner Erklärungen wurde dann ein Rechenschaftsbericht an die Konzernzentrale geliefert.
Eine derart konkrete und detaillierte Planung ist vielleicht noch möglich, wo weitgehend konstante Bedingungen herrschen. Aber es wird dann suspekt, wenn es sich – wie in meinem Fall – um eine Branche handelt, die unter anderem auch noch wetterabhängig ist und wetterabhängig reagieren muss.
Planungen und Vorgaben dieser und ähnlicher Art habe ich auch bei vielen anderen Unternehmen erlebt. Sie degradieren die vor Ort verantwortlich Handelnden zu Ausführungsgehilfen. Obwohl die zentralen Marketingabteilungen im direkten Sinne nicht weisungsbefugt sind, bestimmen sie dennoch konkret, wann was getan werden soll.
Natürlich kann kein Unternehmen ohne Planung existieren. Aber die zu diskutierende Frage ist: Wie weit kann bzw. soll die zentrale Planung das eigenverantwortliche Handeln vor Ort ersetzen? Oder: Aus welchen Erkenntnissen und Informationen ergeben sich die Korrekturen aus der Zentrale?
Die Befürworter werden argumentieren, dass die zentrale Planung eine übergeordnete Steuerung ermöglicht und somit den exekutiv handelnden Personen klare Ziel- und Ausführungsvorgaben an die Hand gibt, die zu erfüllen sind. Diese Argumentation unterstellt, dass die vor Ort handelnden Personen nicht über die notwendigen Kenntnisse und Voraussetzungen verfügen, um autarke Entscheidungen zu treffen. Das aber ist falsch. Personen, die Niederlassungen, Filialen oder (Unternehmens-)Bereiche führen, verfügen im Gegensatz zu den Mitarbeitern der Marketingabteilung über ein deutlich besseres Wissen in Bezug auf die Markt- und Wettbewerbsverhältnisse vor Ort.
Außerdem kennen sie die Erwartungshaltungen und Wünsche der Kunden. Sie wissen aufgrund ihrer detaillierten Kenntnisse – besser als marktferne Theoretiker – was in den sich ständig wechselnden Wettbewerbssituationen für die Erhaltung und den Ausbau der eigenen Marktposition getan werden muss.
Die Unwissenheit der Zentrale ist im Allgemeinen umso größer, je größer die Distanz zu den Niederlassungen oder Filialen ist. Der Vorwurf der Unkenntnis trifft vor allem dann zu, wenn es sich um sehr technische, erklärungsbedürftige Produkte oder Leistungen handelt.
Der Hinweis, dass die Verantwortlichen vor Ort oft keine ausreichende Marketingausbildung besitzen, ist prinzipiell richtig. Aber das ist auch nicht notwendig, weil vor Ort der gewinnt, der in der Lage ist, die Erwartungen und Wünsche der Kunden am besten zu erfüllen. Um Kundenwünsche bzw. Erwartungshaltungen zu erfüllen, muss man keine Ausbildung im Bereich Marketing absolviert haben. Wichtiger und damit entscheidender sind das Wissen und die Erfahrungen vor Ort. Wer über dieses Wissen und diese Erfahrungen verfügt, der weiß, wie man sich erfolgreich im Markt behaupten kann.
Das zentrale Marketing kann bei Fachfragen und Fachaufgaben Hilfestellung leisten, z.B. bei der Optimierung von Mediaeinsätzen, der Produktion von Werbemitteln, bei der visuellen und textlichen Gestaltung. Voraussetzung wäre, dass es sich als Dienstleistungsabteilung versteht und zeitnah auf derartige Anforderungen reagiert.
Ein zeitnahes Agieren und Reagieren sind von entscheidender Bedeutung. Marketingabteilungen sind aber nicht in das Tagesgeschäft integriert. Sie sind Abteilungen, die aus der Distanz reagieren und agieren. Die daraus resultierenden Verzögerungen sind ein gravierender Nachteil.
Je größer die Unternehmen sind, desto größer sind oft auch die Marketingabteilungen. Wenn zig Mitarbeiter zu diesem Bereich gehören, wird es mit der Kommunikation schwierig. Wenn für jede Marketingdisziplin, jede Produktgruppe, jede Sportart, jede Zielgruppe, jedes Land ein oder mehrere Profis verantwortlich sind, entsteht ein Wettbewerb, der – das zeigt die Praxis – oft mehr personen- als zielorientiert ist. Je mehr Abteilungen es gibt und je größer diese sind, desto ausgeprägter ist das Konkurrenzverhalten der in diesem Bereich tätigen Personen. Die einzelnen Teilbereiche bzw. Personen konkurrieren bereichsübergreifend miteinander, weil sich jeder mit seinem Fachgebiet profilieren will und seine eigene Karriere fördern möchte.
Verschärft wird diese Situation noch, wenn eine Agentur für die Gesamtbetreuung eingebunden ist. Diese muss sich profilieren, um ihren Wert für das Unternehmen nachzuweisen. Da sie in vielen Fällen – insbesondere im B2B-Bereich – nur eingeschränkt über technisches Wissen verfügt, muss sie sich über ihre Kreativität profilieren. Dass das nicht immer zum Vorteil der Unternehmen ist, kann man beinahe täglich in den Medien sehen.
Der Grund dafür liegt oft in der Form der Informationsbeschaffung: Im Normalfall informieren sich die Mitarbeiter der Agentur bei den Technikern und anderen kompetenten Mitarbeitern des Unternehmens über die zu bewerbenden Produkte und Leistungen. Damit übernehmen sie die Sichtweisen, Einstellungen und Beurteilungen der Informanten. Ich kenne nur wenige Agenturen, die sich darüber hinaus bei verschiedenen Wettbewerbern oder bei Kunden informieren, um die vorgegebenen Informationen zu hinterfragen. Da sie selten unabhängiges Wissen einbringen können, versuchen sie, sich über Kreativleistungen zu profilieren.
Das gelingt manchmal, manchmal sogar sehr gut, aber oft fragen sich die Rezipienten, was man damit bei ihnen erreichen wollte. Als Beispiel sei die Sendung »Superspots« von PRO 7 genannt, in der Spots aus aller Welt gezeigt werden. Die meisten dieser Spots haben den gleichen Aufbau. Eine »endlos« lange Story und am Ende ein Satz, der alles erklären soll, aber oft gar nicht im Kontext zur erzählten Geschichte steht.
In Verbindung mit der systembedingten Trägheit des zentralen Marketings ergibt sich ein weiterer Nachteil: die unzureichende Flexibilität. Die Geschichte der Ökonomie ist voller Pleiten, weil sich die Unternehmen zu langsam oder zu spät bewegt haben. Weil weder die...