Vorwort zur 1. Auflage
Nahezu 5 Jahrzehnte konnte die Supraleitung nicht befriedigend gedeutet werden. Heute haben wir eine mikroskopische Theorie, die eine Fülle von Erscheinungen erfaßt und zum Teil sogar quantitativ beschreibt. Damit ist das Phänomen Supraleitung zumindest im Prinzip verstanden.
Mit dem Bau großer supraleitender Magnete hat die technische Auswertung der Supraleitung begonnen. Weitere Anwendungen in der Elektrotechnik, z. B. für die Leistungsübertragung, werden intensiv studiert. Auf einigen Gebieten der elektrischen Meßtechnik hat die Supraleitung durch eine Steigerung der Empfindlichkeit um einige Größenordnungen, z. B. bei der Magnetfeldmessung, geradezu einen Durchbruch bewirkt.
Damit wird das Interesse an dieser Erscheinung in Zukunft nicht auf den Physiker beschränkt bleiben. Vielmehr werden mehr und mehr Ingenieure mit diesem Phänomen konfrontiert werden. Die Anwendungen werden auch dazu führen, daß die Supraleitung stärker in das Blickfeld der technisch interessierten Öffentlichkeit rückt.
An alle diese interessierten »Nichtfachleute« wendet sich die vorliegende Einführung in die Supraleitung. Es wird versucht, unsere Grundvorstellungen über die Supraleitung möglichst anschaulich und unter bewußtem Verzicht auf mathematische Formulierungen darzustellen. Auf dem Hintergrund dieser Vorstellungen werden die vielfältigen Erscheinungen diskutiert. Auch die Anwendungen werden dabei eingehend behandelt.
Natürlich kann eine solche einführende Darstellung nur eine begrenzte Auswahl von Überlegungen und Fakten bringen. Jede solche Auswahl muß notwendigerweise sehr subjektiv sein. Unter Verzicht auf viele Einzelheiten wurde versucht, ein möglichst umfassendes Bild der Supraleitung und insbesondere ihrer Quantennatur zu geben. Dabei schien es nicht zweckmäßig, der historischen Entwicklung zu folgen. Vielmehr werden die Erscheinungen ihrem inneren Zusammenhang nach geordnet und behandelt. Zweifellos wird dabei viel hervorragende Pionierarbeit nicht entsprechend gewürdigt. Auch das Literaturverzeichnis gibt keineswegs einen repräsentativen Querschnitt der vielen tausend Arbeiten, die zum Thema Supraleitung erschienen sind. Es soll dem interessierten Leser lediglich einen Zugang zur Originalliteratur eröffnen. Im übrigen kann für Spezialfragen auf eine ganze Reihe hervorragender Monographien verwiesen werden.
Das Buch hat seinen Zweck erfüllt, wenn es dazu beitragen kann, die Supraleitung einem weiteren Kreis von Interessierten näher zu bringen. Vielleicht kann es darüber hinaus als kurze Zusammenfassung auch denen eine kleine Hilfe sein, die selbst Fragen der Supraleitung bearbeiten.
Viele haben mich bei der Arbeit an diesem Buch dadurch tatkräftig unterstützt, daß sie stets bereit waren, über alle auftauchenden Probleme mit mir eingehend zu diskutieren. Ihnen allen habe ich sehr zu danken. Ganz besonders danke ich meinem lieben Kollegen Falk, der unermüdlich bereit war, meine Fragen zu beantworten und zu diskutieren. Herzlich zu danken habe ich meinen Mitarbeitern, sowohl in Karlsruhe als auch in Jülich, unter ihnen besonders den Herren Dr. Baumann, Dr. Gey, Dr. Hasse, Dr. Kinder und Dr. Wittig. Den Herren Dr. Appleton (EEDIRDC), Dr. Schmeissner (CERN), Dr. Kirchner (München); Prof. Rinderer (L.ausanne), Dr. Eßmann (Stuttgart) und Dr. Voigt (Erlangen) sowie den Firmen Siemens, Vakuumschmelze und General Electric möchte ich sehr herzlich für die freundliche Überlassung von Bildern danken. Dem Physik Verlag bin ich für die angenehme Zusammenarbeit sehr verbunden.
Besonders herzlich habe ich aber meiner lieben Frau zu danken, die mit großer Geduld ertragen hat, daß ich manche Abende und Sonntage ausschließlich mit der Arbeit an diesem Buch verbracht habe.
Jülich, im August 1971
Werner Buckel
Werner Buckel
15.5.1920 – 3.2.2003
Einleitung
Viele Phänomene in der Physik resultieren aus dem Gegeneinander gegensätzlicher Wechselwirkungen. Ein wichtiges Beispiel ist das Wechselspiel zwischen der ungeordneten thermischen Bewegung der Bausteine der Materie und den ordnenden Kräften zwischen diesen Bausteinen. Wird mit wachsender Temperatur die thermische Bewegungsenergie genügend groß im Vergleich zu der Energie irgendeiner ordnenden Wechselwirkung, so bricht der geordnete Zustand der Materie, der sich bei kleinen Temperaturen eingestellt hat, zusammen. Alle Phasenübergänge, etwa vom gasförmigen in den flüssigen Zustand, genauso wie der Aufbau der Atome selbst aus den elementaren Bausteinen der Materie unterliegen dieser Gesetzmäßigkeit. Es muss daher nicht überraschen, dass oft unerwartete – und später für die Technologie wichtige – neue Eigenschaften der Materie durch Experimente bei extremen Bedingungen entdeckt werden. Ein Beispiel einer solchen Entdeckung ist die Supraleitung.
Im Jahre 1908 war es Heike Kamerlingh-Onnes1), Leiter des von ihm gegründeten und zu Weltruhm geführten Kältelaboratoriums der Universität Leiden, gelungen, das Helium als letztes der Edelgase zu verflüssigen [1]. Dessen Siedetemperatur liegt bei Atmosphärendruck bei 4,2 Kelvin und kann durch Abpumpen weiter erniedrigt werden. Mit der Verflüssigung des Heliums war ein neuer Temperaturbereich in der Nähe des absoluten Nullpunktes erschlossen. Der erste erfolgreiche Versuch hatte noch die gesamte Kapazität des Instituts erfordert; aber schon bald konnte Kamerlingh-Onnes bei diesen Temperaturen experimentieren. Er begann zunächst eine Untersuchung des elektrischen Widerstandes der Metalle.
Die Vorstellungen über den elektrischen Leitungsmechanismus waren zu der damaligen Zeit noch recht lückenhaft. Man wusste zwar, dass es Elektronen sein müssen, die den Ladungstransport bewirken. Man hatte auch schon die Temperaturabhängigkeit des Widerstandes vieler Metalle gemessen und gefunden, dass der Widerstand im Bereich der Zimmertemperatur linear mit der Temperatur abnimmt. Im Gebiet tiefer Temperatur zeigte sich allerdings, dass diese Abnahme immer kleiner wird. Es standen im Prinzip drei Möglichkeiten zur Diskussion:
1. Der Widerstand konnte mit sinkender Temperatur stetig gegen Null gehen (James Dewar, 1904; Abb. 1, Kurve 1);
2. er konnte einem festen Grenzwert zustreben (Heinrich Friedrich Ludwig Matthiesen, 1864; Abb. 1, Kurve 2) oder
3. er konnte durch ein Minimum laufen und für sehr tiefe Temperaturen gegen unendlich gehen (William Lord Kelvin, 1902; Abb. 1, Kurve 3).
Gerade für die dritte Möglichkeit sprach die Vorstellung, dass bei genügend tiefen Temperaturen die Elektronen eigentlich an ihre Atome gebunden sein sollten. Damit sollte die freie Beweglichkeit verschwinden. Die erste Möglichkeit, wonach der Widerstand für kleine Temperaturen gegen Null gehen würde, war durch die starke Abnahme mit sinkender Temperatur nahegelegt worden.
Kamerlingh-Onnes untersuchte zunächst Platin- und Goldproben, weil er diese Metalle schon damals in beachtlich reiner Form erhalten konnte. Er fand, dass der elektrische Widerstand seiner Proben bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt einem festen Wert, dem sog. Restwiderstand zustrebte, in seinem Verhalten also der unter Punkt 2 genannten Möglichkeit entsprach. Dieser Restwiderstand war in seiner Größe abhängig vom Reinheitsgrad der Proben. Je reiner die Proben waren, desto kleiner war der Restwiderstand. Kamerlingh-Onnes neigte nach diesen Ergebnissen zu der Auffassung, dass ideal reines Platin oder Gold bei den Temperaturen des flüssigen Heliums einen verschwindend kleinen Widerstand haben sollte. In einem Vortrag auf dem Dritten Internationalen Kältekongress in Chicago 1913 schildert er diese Überlegungen und Experimente. Er sagt dort: »Allowing a correctionfor the additive resistance I came to the conclusion that probably the resistance of absolutely pure Platinum would have vanished at the boiling point of Helium« [2]. Diese Vorstellung wurde auch gestützt durch die gerade in einer sehr stürmischen Entwicklung begriffene Quantenphysik. Von Albert Einstein war ein Modell des festen Körpers angegeben worden, nach dem die Schwingungsenergie der Atome bei sehr kleinen Temperaturen exponentiell abnehmen sollte. Da der Widerstand sehr reiner Proben nach der – wie wir heute wissen, völlig richtigen – Ansicht von Kamerlingh-Onnes nur durch diese Bewegung der Atome hervorgerufen werden sollte, lag seine oben zitierte Hypothese auf der Hand.
Für einen Test dieser Vorstellung entschloss sich Kamerlingh-Onnes zu einer Untersuchung des Quecksilbers, des einzigen Metalls, von dem er damals hoffen konnte, es durch mehrfache Destillation in einen noch höheren Reinheitsgrad zu bringen. Er schätzte ab, dass er den Widerstand des Quecksilbers am Siedepunkt des Heliums mit seiner Anordnung gerade noch beobachten könnte, dass dieser aber dann bei noch tieferen Temperaturen rasch gegen Null gehen sollte.
Abb. 1 Zur Temperaturabhängigkeit des elektrischen Widerstandes bei tiefen Temperaturen.
Abb. 2 Supraleitung von Quecksilber (nach [3]).
Die ersten Experimente, die Kamerlingh-Onnes mit seinen Mitarbeitern Gerrit Flim, Gilles Holst und Gerrit Dorsman durchführte, schienen diese Auffassung zu bestätigen. Der Widerstand des Quecksilbers wurde bei Temperaturen unter 4,2 K wirklich unmessbar klein. In seinem Vortrag 1913 beschreibt Kamerlingh-Onnes diese Phase der Überlegungen und Versuche wie folgt: »With this beautiful prospect before me there was no more question of reckoning with dificulties. They were overcome and the result of the experiment was as convincing as could be.«
Aber schon bald erkannte er bei weiteren Experimenten mit einer verbesserten Apparatur, dass der beobachtete Effekt keineswegs identisch sein konnte mit der erwarteten Widerstandsabnahme. Die Widerstandsänderung erfolgte nämlich in einem Temperaturintervall von nur einigen Hundertstel eines Grades, glich also eher einem Widerstandssprung als einer stetigen Abnahme.
Abb. 2 zeigt die von Kamerlingh-Onnes publizierte Kurve [3]. Er selbst sagt dazu: »At this point (etwas unterhalb von 4,2 K) within some hundredths of a degree came a suddenfall notforeseen by the vibrator theory of resistance, that hadframed, bringing the resistance at once less than a millionth of its original value at the melting point… Mercury has passed into a new state, which on account of its extraordinary electrical properties may be called the superconductive state.« [2]
Damit war auch der Name für dieses neue Phänomen gefunden. Die Entdeckung kam unerwartet bei Experimenten, die eine wohlbegründete Vorstellung testen sollten. Es zeigte sich bald, dass die Reinheit der Proben von untergeordneter Bedeutung für das Verschwinden des Widerstandes ist. Das genügend sorgfältig und kritisch durchgeführte Experiment hatte einen neuen Zustand der Materie aufgedeckt.
Wir wissen heute, dass die Supraleitung ein sehr verbreitetes Phänomen ist. So tritt Supraleitung bereits im Periodensystem der Elemente bei einer ganzen Reihe von Metallen auf, wobei – bei Umgebungsdruck – Niob das Element mit der höchsten Übergangstemperatur von ca. 9 Kelvin ist. Im Lauf der Zeit wurden tausende supraleitender Verbindungen gefunden, und die Entwicklung ist noch lange nicht abgeschlossen.
Welches Gewicht die wissenschaftliche Welt der Entdeckung der Supraleitung zumaß, geht aus der Verleihung des Nobelpreises für Physik an Kamerlingh-Onnes im Jahr 1913 hervor. Damals konnte aber wohl niemand ahnen, welche Fülle grundsätzlicher Fragestellungen und interessanter Möglichkeiten sich aus dieser Beobachtung ergeben würde, und dass es erst etwa ein halbes Jahrhundert später gelingen sollte, die Supraleitung wenigstens im Prinzip zu verstehen2).
Das Verschwinden des elektrischen Widerstands unterhalb einer »kritischen Temperatur« oder »Übergangstemperatur« Tc ist nicht die einzige ungewöhnliche Eigenschaft von Supraleitern. So können Supraleiter von außen angelegte Magnetfelder entweder bis auf eine dünne Außenschicht vollständig aus ihrem Inneren verdrängen (»Idealer Diamagnetismus« oder »Meißner-Ochsenfeld-Effekt«), oder sie bündeln das Magnetfeld in Form von »Flussschläuchen«. Dabei ist der magnetische Fluss in Einheiten des »Flussquants« Φ0 = 2.07 · 10–15 Wb quantisiert3). Der ideale Diamagnetismus von Supraleitern wurde 1933 von Walther Meißner und Robert Ochsenfeld entdeckt und war sehr überraschend, da man für ideale Leiter auf Grund des Induktionsgesetzes lediglich erwartet hätte, dass sie ein in ihrem Inneren befindliches Feld beibehalten, aber nicht verdrängen.
Der Durchbruch im theoretischen Verständnis der Supraleitung kam durch die Arbeiten von John Bardeen, Leon Neil Cooper und John Robert Schrieffer (»BCS-Theorie«), die hierfür 1972 den Nobelpreis erhielten [4]. Sie erkannten, dass beim Übergang in den supraleitenden Zustand die Elektronen paarweise in einen Zustand kondensieren, in dem sie nach den Gesetzen der Quantenmechanik eine kohärente Materiewelle mit wohldefinierter Phase bilden. Die Elektronen wechselwirken hierbei über die »Phononen«, die Schwingungen des Kristallgitters.
Das Ausbilden einer kohärenten Materiewelle, oft »makroskopische Wellenfunktion« genannt, ist die wesentliche Eigenschaft des supraleitenden Zustands. Ähnliche Erscheinungen kennen wir auch aus anderen Bereichen der Physik. So hat man beim Laser eine kohärente, aus Photonen gebildete Lichtwelle. Beim Phänomen der Superfluidität bilden Helium-Atome unterhalb des sogenannten Lambda-Punktes – er liegt bei dem Isotop 4 He bei 2,17 Kelvin, und bei 3He bei etwa 3 Milli-kelvin – eine kohärente Materiewelle [5, 6]. Diese Supraflüssigkeit kann unter geeigneten Bedingungen völlig reibungsfrei fließen. Schließlich kann man seit kurzem Gase aus Alkaliatomen wie etwa Rubidium oder Kalium in einen kohärenten Quantenzustand kondensieren. Diese »Bose-Einstein-Kondensation« wurde von Bose und Einstein 1925 vorhergesagt. Erst 1995 konnten solche Kondensate aus einigen tausend Atomen durch spezielle optische und magnetische Kühltechniken bei Temperaturen unterhalb von 1 Mikrokelvin realisiert werden [7]. Auch für die Entdeckung des Lasers, der Superfluidität und der Bose-Einstein-Kondensation wurden Nobelpreise vergeben4).
Über 75 Jahre war auch die Supraleitung ein ausgesprochenes Tieftemperaturphänomen. Dies änderte sich 1986, als J. G. Bednorz und K. A. Müller Supraleiter auf der Basis von Kupferoxid entdeckten. Die beiden Forscher erhielten hierfür bereits 1987 den Nobelpreis [8]. Im Septemberheft 1986 der Zeitschrift für Physik B publizierten Bednorz und Müller eine Arbeit mit dem vorsichtigen Titel »Possible High Tc Superconductivity in the Ba-La-Cu-O System«, in der berichtet wurde, dass dieses Material bei ca. 30 K seinen Widerstand verliert [9]. Die Arbeit fand überraschenderweise wenig Beachtung. Zweifel, ob es sich wirklich um Supraleitung handelte, wurden geäußert. Die Proben waren Mischungen aus mehreren Phasen, darunter auch isolierende Substanzen. Sie hatten deshalb extrem große spezifische Widerstände. Es war durchaus denkbar, dass irgendeine Phasenumwandlung im Gefüge den Widerstandsabfall verursachte5). So musste ein überzeugender Beweis für die Supraleitung dieser Proben noch erbracht werden.
Dies geschah durch Bednorz, Müller und Takashige über den Nachweis des Meißner-Ochsenfeld-Effektes [10]. Die Abb. 3 gibt die entscheidende Messung dieser Arbeit wieder. Die beiden Proben zeigten oberhalb von 40 K den f...