Sterben lassen
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Sterben lassen

Über Entscheidungen am Ende des Lebens

  1. 268 Seiten
  2. German
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Sterben lassen

Über Entscheidungen am Ende des Lebens

Über dieses Buch

Es gibt Fragen, die sich niemand gern stellt: Wann dürfen wir Sterben zulassen? Wie wahrt man die Würde des Menschen bis zum Schluss? Doch wir müssen Antworten darauf finden - als Individuen und als Gesellschaft. Zwei Drittel aller Menschen in den reichen Ländern sterben nicht mehr unerwartet, sondern absehbar, unter ärztlicher Begleitung. Ralf J. Jox hat die Sterbepraxis auf deutschen Intensivstationen untersucht und eine große Verunsicherung festgestellt. Denn Ärzte und Angehörige müssen über die »Therapiebegrenzung« entscheiden, wenn der Sterbende dies nicht mehr selbst kann. Aus seiner eigenen Erfahrung als Palliativmediziner und auf wissenschaftlicher Grundlage entwickelt Ralf J. Jox Kriterien für ethisch vertretbare Entscheidungen am Sterbebett. Er plädiert für einen intensiven Dialog aller Beteiligten als besten Weg, der Selbstbestimmung des Patienten gerecht zu werden. Eine ethische Fallberatung, mehr Rechtssicherheit, eine bessere Ausbildung in der Sterbebegleitung und vor allem ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel können dazu beitragen, die Entscheidungen am Lebensende erträglicher zu machen.

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1. Die Kunst des Sterbenlassens

Historischer Wandel der Todeserfahrung

»Mors certa, hora incerta.« Es gibt kaum etwas Gewisseres als den Tod, aber auch kaum etwas Ungewisseres als die Todesstunde. Bereits Augustinus reflektierte diesen Gedanken, der in der Antike zum Allgemeingut gehörte und später auch prominent von dem Zisterzienserprediger Bernhard von Clairvaux aus dem 12. Jahrhundert überliefert ist. Lange Zeit war es Brauch, den zitierten lateinischen Sinnspruch auf Uhren, insbesondere Sonnenuhren, gravieren zu lassen, um die Menschen jederzeit an ihre Sterblichkeit zu erinnern. So tragen etwa die große Uhr am Neuen Rathaus in Leipzig oder die Sonnenuhr des Dresdener Schlosses diese Inschrift.
Dabei vermittelt sie nicht allein die Erkenntnis, dass wir in gesunden Tagen nicht wissen, wann wir sterben werden, ob bereits am morgigen Tag oder erst in 50 Jahren. Damals wie heute leben wir in dieser Ungewissheit, an der auch die Voraussagekraft der modernen Genetik bisher nichts geändert hat – und das ist gut so. Ein Zweites drückt die Sentenz aus: Der Tod kommt meist unversehens und plötzlich. Noch in den Jahren 1871–1881 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung eines Deutschen bei seiner Geburt 35,5 Jahre, wie es das Statistische Bundesamt belegt.1 Bis ins 19. Jahrhundert hinein starben die meisten Menschen in ihrer Kindheit, Jugend oder im jüngeren Erwachsenenalter. Die Todesursache waren zumeist akute Infektionen, Epidemien, Unfälle oder Gewalttaten und Kriege. Die tödlichen Verläufe konnten mit medizinischen Mitteln nur unwesentlich gebremst, geschweige denn aufgehalten werden.
Dies hat sich seit dem 19. Jahrhundert für die industrialisierten westlichen Länder grundlegend gewandelt. In der jüngsten Sterbetafel von 2007 bis 2009 wird die Lebenserwartung bei der Geburt mit 77,3 Jahren für Männer und 82,5 Jahren für Frauen angegeben.2 Heute sterben hierzulande die meisten Menschen an fortschreitend verlaufenden chronischen Krankheiten, vor allem Herz-Kreislauf-, Krebs- und Lungenerkrankungen.3 Zwar vermag die moderne Medizin, entgegen einer weitverbreiteten Meinung, die meisten dieser chronischen Erkrankungen nicht zu heilen und in ihrem Verlauf allenfalls zu bremsen. Doch können akute Verschlechterungen des Gesundheitszustands deutlich besser behandelt und oftmals stabilisiert werden, Organfunktionen können gestützt oder ersetzt werden, der menschliche Organismus kann in lebenskritischen Lagen am Leben erhalten werden. Diese Diskrepanz zwischen einer hocheffektiven, Lebenserhaltung erreichenden Akut-, Notfall- und Intensivtherapie und einer weniger effektiven, Heilung oder Zustandsbesserung oft verfehlenden Behandlung chronischer Leiden ist das hervorstechende Merkmal der heutigen Medizin.
Dabei ist es noch gar nicht lange her, dass die akutmedizinischen Errungenschaften entwickelt wurden. Erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stehen die Techniken zur Verfügung, mit deren Hilfe die Intensivmedizin heute so effektiv ist. Die Dialyse wurde 1945 von dem Niederländer Willem Kolff entwickelt, die maschinelle Intubationsbeatmung heutiger Art entstand in den 1950er Jahren, und 1954 begann die Transplantationschirurgie mit der ersten erfolgreichen Verpflanzung einer Niere. Der Stockholmer Herzchirurg Åke Senning implantierte 1958 den ersten Herzschrittmacher, 1961 gelang dem österreichisch-amerikanischen Anästhesisten Peter Safar der Durchbruch in der Herz-Lungen-Wiederbelebung, und 1962 veröffentlichte der amerikanische Kardiologe Bernard Lown die elektrische Defibrillation zur Unterbrechung lebensbedrohlicher Herzrhythmusstörungen. In den 1970er Jahren wurde eine Möglichkeit gefunden, bei stark geschädigter Lunge das Blut auch außerhalb des Körpers künstlich mit Sauerstoff anzureichern. Die Magensonde gab es zwar schon länger, aber erst 1980 wurde die direkt durch die Bauchdecke in den Magen mündende PEG-Sonde erfunden, welche eine künstliche Ernährung über Jahrzehnte hinweg erlaubt. Schließlich wurde 1999 von deutschen Forschern eine Möglichkeit entwickelt, einen Großteil der Leberfunktionen mittels einer Art von Leber-Dialyse zu ersetzen.
Diese und weitere neue Behandlungsmethoden erlauben es heutzutage, beinahe alle Organfunktionen des menschlichen Körpers zu ersetzen. Gemeinsam mit den geschilderten Veränderungen von Lebenserwartung und Todesursachen hat dies dazu geführt, dass wir Zeitgenossen anders sterben als je zuvor. Der Tod ist für die meisten Menschen nicht mehr der Sensenmann, der unvermutet auftrittt und mit einem schnellen Schnitt das Leben der Menschen in seiner Blüte kappt. Der Tod beendet das Leben in der Regel im Alter, er ist über Wochen oder Monate zuvor absehbar und stellt das Ergebnis bewusster Verzichtsentscheidungen dar.

Alltäglichkeit des Sterbenlassens

Dies lässt sich mit empirischen Daten solide untermauern. Vor etwa zehn Jahren wurde die große europäische Studie EURELD durchgeführt, welche in den sechs Ländern Belgien, Dänemark, Italien, Niederlande, Schweden und Schweiz die aktuelle Sterbepraxis untersuchte.4 Für einen Zeitraum von neun Monaten wurde ein repräsentativer Querschnitt aller Todesfälle in der Bevölkerung analysiert, indem die Todesbescheinigungen ausgewertet und die zuletzt behandelnden Ärzte zu diesen Patienten5 befragt wurden. Von den über 20.000 untersuchten Todesfällen trat nur ein Drittel unerwartet auf, zwei Drittel jedoch erwartet und absehbar. Je nach Land war jeder vierte bis jeder zweite aller untersuchten Todesfälle mit der bewussten Entscheidung verbunden, das Sterben des Patienten zu ermöglichen. Meist geschah dies dadurch, dass eine oder mehrere lebenserhaltende Maßnahmen nicht mehr begonnen oder nicht mehr fortgeführt wurden.
Wenn schon bei sämtlichen Todesfällen in der Bevölkerung der Anteil von Todesfällen durch ein Sterbenlassen so groß ist, dann darf man erwarten, dass dies auf Intensivstationen, wo ja die Kunst der Lebenserhaltung auf die Spitze getrieben wird, noch häufiger vorkommt. Außerdem ist die Intensivstation einer der Orte, an denen Menschen am häufigsten sterben. In einer amerikanischen Untersuchung wurde festgestellt, dass jeder fünfte Bürger sein Leben auf der Intensivstation beendet.6 Wer im Krankenhaus stirbt – 38 Prozent aller Todesfälle –, stirbt demnach am wahrscheinlichsten auf der Intensivstation. Je jünger ein Sterbender ist, umso wahrscheinlicher ist es dieser Studie zufolge, dass er in der sogenannten Behandlungsbox einer Intensivstation seine letzten Tage verbringen wird.
In der Tat verhält es sich so, dass auf Intensivstationen die allermeisten Todesfälle durch Sterbenlassen zustande kommen. Auch hierzu gibt es eine europaweite Untersuchung, die sogar in 17 Ländern über 30.000 Patienten, die auf Intensivstationen aufgenommen wurden, weiterverfolgt hat.7 Etwas über 13 Prozent dieser Patienten starben auf der Intensivstation. Bei drei Vierteln dieser Todesfälle waren lebenserhaltende Maßnahmen eingestellt oder von vornherein nicht begonnen worden. Auch hier ließ sich, wie schon bei der EURELD-Studie, ein Nord-Süd-Gefälle in Europa feststellen: In nordeuropäischen und etwas abgeschwächt auch in zentraleuropäischen Ländern werden lebenserhaltende Maßnahmen häufiger begrenzt als in südeuropäischen Ländern. Genauer betrachtet liegt dies daran, dass in südeuropäischen Ländern lebenserhaltende Maßnahmen deutlich seltener abgebrochen werden, wenn sie einmal begonnen worden sind, während kein relevanter Unterschied darin besteht, wie oft solche Maßnahmen von vornherein unterlassen werden.
Die Tatsache, dass uns diese genauen Daten aus der Intensivmedizin vorliegen, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sterbenlassen nicht auf die Intensivstationen beschränkt ist. Es geschieht genauso in Alters- und Pflegeheimen, wenn Ärzte, Pflegende, Angehörige und rechtliche Vertreter der Patienten übereinkommen, auf eine Wiederbelebung zu verzichten. Es findet sich in der Entscheidung des Hausarztes, seinen todkranken Tumorpatienten bei der nächsten Komplikation nicht mehr ins Krankenhaus einweisen zu lassen, oder in der Entscheidung des Notarztes, der Patientin mit der Lungenfibrose im Endstadium keinen Beatmungsschlauch mehr für eine maschinelle Beatmung zu legen, sondern ihr Morphin zur Linderung der Atemnot zu geben. Und schließlich gehört das Zulassen des natürlichen Sterbens zu den Grundlagen der Palliativmedizin, die immer mehr Menschen beim Sterben begleitet. Eine wissenschaftliche Befragung aller ärztlichen Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin aus dem Jahr 2010 hat ergeben, dass knapp 70 Prozent dieser Ärzte bei ihren zuletzt behandelten Patienten auf lebenserhaltende Maßnahmen bewusst verzichtet haben, um das natürliche Sterben zuzulassen.8

Sterbenlassen: ein ethisches Problem?

Sterbenlassen stellt heutzutage also eine weitverbreitete Praxis dar. Heißt das aber nun, dass Menschen wieder »natürlich« sterben können wie in früheren Zeiten, als noch kein Kraut gegen die lebensbedrohliche Gefahr von Unfällen und Krankheiten gewachsen war? Immer wieder hört man ja die Forderung, wir müssten das natürliche Sterben wiederentdecken. Doch unterliegen wir damit einem Trugschluss: Wir lassen zwar der Krankheit ihren Lauf und greifen nicht mittels lebenserhaltender Techniken ein, doch wir tun dies sehr bewusst und erlauben der Natur nur so viel, wie es unseren Zielen zupass kommt. Selbstverständlich bemühen wir uns zugleich, die Schmerzen der Sterbenden zu lindern, ihre Atemnot zu dämpfen oder ihre sonstigen Beschwerden zu mildern. Dies tun wir mithilfe neuester Medikamente und technischer Hilfsmittel, wie etwa Kanülen im Unterhautfettgewebe zur Verabreichung von Infusionen. So wird der Sterbeprozess heute mehr denn je professionell gestaltet und gebändigt, von Ärzten, Pflegenden, Seelsorgern, Psychologen und Therapeuten. Und dabei ist es gerade die Palliativmedizin, welche sich parallel zu den skizzierten technischen Errungenschaften der Akutmedizin seit den 1960er Jahren von England und Kanada aus entwickelt hat und sich für die bewusste Gestaltung des Sterbeprozesses einsetzt. Bezeichnend dafür ist ein geflügeltes Wort, das als Motto für die Palliativmedizin gilt: »Wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch viel zu tun.«
Wo aber liegt nun das Problem bei alledem? Stellt es überhaupt ein Problem für unsere Gesellschaft dar, wann und wie wir andere – oder auch uns selbst – sterben lassen? Die gesellschaftliche Diskussion der letzten Jahrzehnte bejaht diese Frage auf eindrückliche Weise. Es gibt kaum ein anderes Thema der Bioethik und Biopolitik, das die gesellschaftliche Diskussion seit den 1970er Jahren so kontinuierlich und nachhaltig prägt wie das Problem der sogenannten Sterbehilfe. Es begann mit dem berühmten Fall der amerikanischen Komapatientin Karen Ann Quinlan, bei der 1976 der New Jersey Supreme Court entschied, dass ihre maschinelle Beatmung abgestellt werden dürfe.9 In der Folge entwickelte sich eine Right-to-die-Bewegung, die auch auf Deutschland überging und bereits in der 1980er Jahren erste Formen der Patientenverfügung propagierte. Anfangs wurde die Debatte um das Sterbenlassen stark vermischt mit Forderungen nach einer Legalisierung der Tötung auf Verlangen (»aktive Sterbehilfe«) oder der Beihilfe zur Selbsttötung. Dies geschah im Kontext der niederländischen Liberalisierung der Tötung auf Verlangen und der Aktivitäten von Suizidhilfe-Vereinen in der Schweiz, die auch Protagonisten in Deutschland beeinflussten, etwa den Arzt Julius Hackethal, der 1984 einer Frau Suizidhilfe leistete. Seit den 1990er Jahren trat dann mehr und mehr das Recht in den Vordergrund, am natürlichen Sterben nicht gehindert zu werden, was in Deutschland und anderen Ländern vorwiegend durch höchstrichterliche Urteile ausgearbeitet und durchgesetzt wurde. So hat der Bundesgerichtshof mit mehreren Urteilen zwischen 1994 und 2010 das Patientenrecht, sterben zu dürfen, und die Arztverpflichtung, Sterben zuzulassen, juristisch installiert. In den vergangenen zehn Jahren wurde dieses Recht vor allem unter dem Reizwort der Patientenverfügung diskutiert, was schließlich 2009 in einer gesetzlichen Regelung derselben mündete.
Die öffentlichen Debatten in Feuilletons, Fernseh-Talkshows und Podiumsdiskussionen sind aber nicht losgelöst vom klinischen Alltag, sondern spiegeln die Probleme der Kliniker einerseits wider und wirken andererseits auf sie zurück. Eine groß angelegte Befragung von Internisten in verschiedenen europäischen Ländern ergab 2007, dass quasi alle befragten Internisten in ihrer täglichen Patientenversorgung mit ethischen Problemen konfrontiert wurden.10 Eines der häufigsten Probleme, genannt von 80 Prozent der Ärzte, betraf die Begrenzung lebenserhaltender Maßnahmen am Lebensende. Das identische Ergebnis hatte bereits einige Jahre zuvor eine Befragung Ärztlicher Direktoren und Pflegedirektoren deutscher Universitätskliniken erbracht.11 Die praktische Relevanz des Problems lässt sich auch daran ablesen, dass die Frage des Sterbenlassens der mit Abstand häufigste Grund ist, weshalb Ärzte in Kliniken die Hilfe von ethischen Beratungsdiensten anfordern. Dies hat sich gemäß einer Übersicht aller wissenschaftlichen Studien hierzu zwischen 1987 und 2005 nicht geändert.12
Warum bewerten Ärzte kein anderes ethisches Problem als gewichtiger und häufiger als die Frage des Sterbenlassens? Es finden sich im Wesentlichen drei Gründe: Erstens ist die Sterblichkeit die zentrale Herausforderung eines jeden Menschen, und jeder muss versuchen, seinem Leben vor diesem Hintergrund einen Sinn zu verleihen. Das trifft natürlich auf die in der Medizin Tätigen ebenso zu, vielleicht sogar in besonderem Maße, da sie durch die Patientenschicksale viel häufiger an ihre eigene Endlichkeit erinnert werden. Zweitens haben sich die westlichen Gesellschaften in den letzten 100 Jahren deutlich gewandelt, hin zu einer offenen, pluralen und säkularen Gesellschaft, in der Menschen unterschiedlicher Kulturen, Ethnien und Biografien mit verschiedensten Wertvorstellungen gleichberechtigt koexistieren – zumindest orientieren sich die westlichen Gesellschaften an dieser Idee, auch wenn sie nur unzureichend realisiert ist. Keine Institution kann noch uneingeschränkte moralische Autorität beanspruchen, weder die Kirchen oder Religionsgemeinschaften noch die Familie, die Parteien oder die Professionen. Damit stehen auch die moralischen Positionen zum Sterben und Sterbenlassen in einem pluralen Widerstreit. Drittens haben sich auch die Medizin und das Gesundheitswesen gewandelt. Die intime Dyade zwischen dem Hausarzt und seinem Patienten ist einem komplexen Versorgungssystem gewichen, das von Spezialisierung und Subspezialisierung, Institutionalisierung, Multiprofessionalisierung und Ökonomisierung geprägt ist. Der Kranke wird nicht mehr allein von seinem wohlbekannten, freundschaftlich verbundenen Hausarzt behandelt, sondern sieht sich in einem urbanen Klinikum einer Vielzahl spezialisierter, ihm unbekannter Ärzte, Pflegender und Therapeuten gegenüber. Niedergelassene Ärzte und Krankenhäuser müssen sich zudem als Wirtschaftsunternehmen behaupten und im Kontext der Ressourcenknappheit und der kompetitiven Mittelverteilung ihre wirtschaftliche Existenz im Auge behalten, was zuweilen zu Konflikten mit dem medizinisch Notwendigen oder ethisch Geforderten führt. Der Verlust der traditionellen Vertrauensbasis einer intimen und lange währenden Arzt-Patient-Beziehung hat es erforderlich gemacht, dass Patienten ihre eigenen Rechte formulieren, ihre Selbstbestimmung betonen und die Ethik der Ärzte hinterfragen. Die moderne Bio- und Medizinethik ist genau aus dieser Situation heraus in den 1960er Jahren entstanden und hat sich von Anfang an vor allem durch die Stärkung der Patientenselbstbestimmung ausgezeichnet. Konsequenterweise wurde auch die traditionelle ärztliche Berufsethik infrage gestellt, sodass althergebrachte Kodizes wie etwa der Hippokratische Eid nicht mehr eins zu eins auf die heutige Situation übertragbar sind, sondern neue Handlungskriterien entwickelt werden müssen. Jede größere Ärztevereinigung hat deshalb heutzutage ein Gremium, das ethische Grundsätze ihres Handelns reflektiert und einen Konsens formuliert. Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, 1979 erstmals als »Richtlinien« verfasst und seither viermal aktualisiert, gehen in ihrer neuen Fassung von 2011 sogar so weit, nicht mehr von einem einheitlichen ärztlichen Ethos zu sprechen, wie dies noch 2004 der Fall war, sondern von den »verschiedenen und differenzierten individuellen Moralvorstellungen von Ärzten in einer pluralistischen Gesellschaft«.13

Wandel der ärztlichen Einstellung zum Sterben

Im Zuge dieser Veränderungen in den moralischen Vorstellungen westlicher Gesellschaften ist es nur folgerichtig, dass auch ein Berufsstand wie die Ärzteschaft seine Wertehaltungen ändert. Für die Einstellung zum Sterben ist dies sehr eindrücklich zu beobachten. Bis weit ins 20. Jahrhundert orientierten sich die ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort
  2. 1. Die Kunst des Sterbenlassens
  3. 2. Von Ängsten und Wissenslücken
  4. 3. Rechtslage und Regelungsbedarf
  5. 4. Entscheidungsfindung in der Praxis
  6. 5. Selbstbestimmung im Sterben
  7. 6. Suizid und Suizidhilfe
  8. 7. Palliativversorgung in Deutschland
  9. 8. Klinische Ethikberatung
  10. Schlusswort
  11. Anmerkungen
  12. Glossar
  13. Über den Autor
  14. Impressum