Der Rand
  1. 284 Seiten
  2. German
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eBook - ePub

Über dieses Buch

Als Vertretung für seinen kranken Vetter tritt Sigismond eine Geschäftsreise nach Barcelona an. Als ihn, dort angekommen, ein Brief mit einer schrecklichen Nachricht von seiner Familie erreicht, verliert er den Halt und gerät in den Strudel der Stadt und ihren Zerstreuungen. Er gibt sich dem nächtlichen Barcelona hin, taumelt von erotischen Verlockungen zu leuchtenden und blinkenden Vergnügungen und kann der Realität und seinen Gespenstern doch nicht entkommen. André Pieyre de Mandiargues, der elegante Stilist und preisgekrönte Autor von barock wuchernder Sprachkraft, hat mit diesem großen Roman (Prix Goncourt 1967) ein Werk von traumwandlerischer Schönheit, ein atemberaubendes mysteriöses Meisterwerk geschaffen. Über 40 Jahre später kann es nun erstmals auf Deutsch gelesen werden, in einer präzisen Übersetzung von Rainer G. Schmidt.

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Information

III

Also hat Sigismond gefrühstückt: Toastbrot, das er mit der Hotelbutter bestrich, auf das er aber dann den Rest des Salzes streute, mit dem er das hartgekochte Ei von unterwegs gewürzt hatte, denn er hat dem roten Gelee misstraut, der nun auf dem Tablett zurückbleibt: er könnte aus Kürbis sein, der mit Tomate oder einem chemischen Farbstoff geschönt wurde. Der Tee, in zwei Beuteln, die jetzt auf dem Boden der Teekanne ausgedrückt liegen, war besser als der in Frankreich übliche; und die an der braunen Steingutkanne hängenden englischen Herkunftsschilder kennzeichneten vielleicht eine Ware des Seeschmuggels. Dies ist ein fast erlaubter Handel im Hafen, wie Sigismond hat feststellen können, als er die Auslagen der Versehrten betrachtete, die bei den Seeleuten einkaufen und dann weiterverkaufen. Diesen Tee hat er lediglich gesüßt (die vier beigelegten Zuckerstücke reichten kaum für drei Tassen), hat ihn nicht mit Milch vermischt, einer Flüssigkeit, gegen die er einen Widerwillen empfindet, an dem er Sergine teilhaben zu lassen verstand. Obwohl sie nicht wie er von einem rundum rot behaarten Vater belästigt worden ist, der sich an Brotschnitten gütlich tat, die er in große Trinkschalen mit Milchkaffee tunkte. Es war nach neun Uhr, als er telefonisch das Frühstück bestellt hatte; sogar vor dem Blick auf seine Uhr hat seine Aufmerksamkeit als erstes dem auf dem Tisch unter der säulenförmigen Flasche liegenden Brief gegolten. Dieser hatte die Nacht wie eine Schlange verbracht, zu Sigismonds Füßen eingerollt, Schlange, die durch das Aufdecken des Bettes entdeckt worden wäre. Das Frühstück ist ihm lange nach der Bestellung, als er bereits unruhig wurde, gebracht worden. »Es muss spät sein«, sagt er (in Gedanken), obwohl er bedauert, dass er durch die Glocken, die in allen Kirchen der Stadt zur Messe rufen, am Wiedereinschlafen gehindert wird.
Denn wir haben Sonntagmorgen (und man könnte diesem Umstand die Unregelmäßigkeit der Bedienung zuschreiben). Das Glockengebimmel ist allzu deutlich, damit dies nicht »ein schöner Sonntag im April« ist (wie in mehreren französischen Chansons geträllert wird, die nicht minder idiotisch sind als die am Vorabend im Molino gehörten); und es wird heiß werden. In einer reinen Luft, unter einem klaren Himmel wird die Blase, die ihn umhüllt, dahintreiben; ihre durchscheinende Wand wird wahrscheinlich bis Montag standhalten, wenn nichts sie zum Platzen bringt, hier in diesem Land, in dem die Hörner ebenso zahlreich sind wie die Kirchen. Sonntag ist der Tag der Corrida. Sigismond hat sich oftmals die Stiere mit recht großer Leidenschaft in Nîmes, Béziers oder Carcassonne angesehen, aber sein kurzer Aufenthalt in Spanien hat ihm genügt, um zu begreifen, wie sehr die Corrida durch das Regime des Führunkels protegiert war und wie sehr sie seiner Propaganda half; wie sehr sie, indem sie eine Ablenkung durch das geduldete Blutvergießen bot, dem eitrigen System diente; wie sehr sie unter diesem Gesichtspunkt überholt und finster war, nach dem Muster der römisch-katholischen Messe, die eine nicht sehr unterschiedliche Opferhandlung darstellt und die an dem gleichen grässlichen Bündnis teilhat. Das auf die Brust der Totschläger von einst gestickte Herz Jesu war eine einfache Variation des vergoldeten Besatzes, welcher die Tracht des Toreros ziert. Matador, wie könnte man dieses Wort aussprechen, ohne an das Führunkel zu denken? Nein, Sigismond wird sich die Corrida nicht anschauen.
Seine verbiesterte Träumerei verwandelte sich allmählich in einen angenehmen Zustand der Bewusstlosigkeit, Vorspiel eines weiteren Schläfchens; doch ein Pochen bringt ihn davon ab. Man hat an die Tür geklopft. »Herein«, sagt er (in einer mühsamen Rückkehr in die Gegenwart); dann, da er sich entsonnen hat, korrigiert er: »Adelante«. Es soll nur das Tablett mitgenommen werden und es ist ein Zimmermädchen; doch ist es nicht diejenige, die ihm als schöne Wohlriechende im Sinn geblieben ist. Als sie sich bückt, streift sie mit dem Ellbogen den gläsernen Turm; daraufhin setzt sich Sigismond, ungeachtet seiner Nacktheit, mit einer Bewegung, die das Laken zurückwirft, in seinem Bett auf und sagt: »Cuidado!« Sie ist zu aufmerksam, um den geringsten Schaden zu verursachen; sie ist flink, auch hochmütig, und als sie mit den Schritten einer Tänzerin hinausgeht, betrachtet sie den Mann einen Augenblick lang mit einer Miene, in der er ein wenig Verachtung und viel Mitleid zu spüren glaubt, als ob sie gewusst hätte, was ihm am Herzen liegt. Dann denkt er, dass das Tablett nur ein Vorwand war und dass sie dem Faulen zeigen wollte, dass sie bald das Zimmer machen müsste. Ohne Zweifel ist es Zeit, aufzustehen.
Gebieterischer als solche vagen Überlegungen ist ein Lichtstrahl, der, durch die Fensterläden dringend, auf Sigismonds Gesicht gelangt ist; dieser liegt nackt vor dem Fenster, denn er hat sich nach dem Weggehen des Zimmermädchens vollständig des Lakens entledigt. Gewiss, er bräuchte sich nur umzudrehen, um in einer Schattenzone zu liegen, aber das würde nichts an dem einfallenden Lichtstrahl ändern; und es trifft sich, dass dieser den oberen Teil der Flasche berührt, die zwischen dem Fenster und den Füßen des Faulenzers steht. So flammt der Colón des Stöpsels im Halbdunkel auf; so ist der gläserne Turm von einem Feuermännchen überragt, unheilvoll wie es der Vater war, der in der Erinnerung des Sohnes manchmal ganz durch den Glanz seines roten Haars und Bartes erhellt ist. Will man die Säule als einen männlichen Schwanz betrachten, der auf den fatalen Brief gepflanzt ist, um ihn monumental zu versiegeln, wäre das ein weiterer Grund, um mit Angst und Abscheu die Flamme zu sehen, die von seiner Eichel ausgestoßen wird. Vulkanischer Samenerguss, letztes Sich-Versprühen eines verurteilten Geschlechts, zu dem der Liegende gehört: Wie könnte er ungerührt dem Schauspiel beiwohnen? Er kann nun auch nicht mehr einfach die Flasche verrücken, denn er hat auf abergläubische Weise entschieden, dass er, wenn er die Flasche hochheben würde, den Brief lesen müsste; und er weiß sehr wohl, daß dann die Blase zerrissen wäre und er dann nicht mehr einem Raum oder einer Zeit angehören würde, die vorübergehend von dem gemeinen Dasein abgeschnitten ist. Das universelle Unglück wird mit einem Tosen mächtigen Windes oder gewaltiger, sich überstürzender Wasser in die ruhige Fahrrinne hereinbrechen. Um noch einen Augenblick heil zu sein, muss er das Zimmer verlassen. Am besten so bald wie möglich.
Nachdem er unter dem Strahl hindurchgeschlüpft ist (warum?), steht Sigismond auf seinen Füßen. Obwohl er gewöhnlich Freude an sorgfältiger Toilette und am Ankleiden hat, wäre es ihm jetzt unerträglich, die notwendige Viertelstunde darauf zu verwenden. Er wird nicht unter die Dusche gehen, er wird sich nicht rasieren (tatsächlich ist sein Gesicht nicht sehr stoppelig), er wird sich nicht einmal die Zähne putzen und er wird sich nicht die Haare kämmen. Er wird die Kleider nicht wechseln; diejenigen vom Vorabend, die auf einem Stuhl nahe dem Tisch hängen, auf dem der gläserne Turm leuchtet, werden, zusammen mit den Schuhen und den Gamaschen, die sie begleiteten, ausreichen. Im Nu (höchstens zwei Minuten) bekleidet, geht er hinaus, nachdem er seine Uhr genommen hat, deren Armband er im Gang schließt.
Die Treppe ist menschenleer, die Empfangshalle ebenso. Seinen Schlüssel hat er für das Zimmermädchen im Schloss stecken lassen; so braucht er nicht an der Loge haltzumachen und, ohne ein Wort an jemanden zu richten, ist er auf der Straße. Umso besser, wenn die alte Lotterieverkäuferin mit ihrem Gekreische auf dem Bild fehlt; sie ist zweifelsohne in der Messe, denn nach elf Uhr ist es nicht zu früh, um Lose zu verkaufen. Die Glocken beruhigen sich endlich.
In der Escudillers herrscht weniger Fülle als während der Woche oder zu späterer Stunde. Vor den geschlossenen Läden trödeln einige Matrosen der Altair herum, einer voraus, zwei in der Mitte, einer am Schluss; sie kommen aus der Rambla und suchen die Seitengassen ab, und man möchte schwören, dass sie bereits auf der Pirsch nach Frauenkörpern sind. Doch zu dieser Stunde ruhen die Nutten des Viertels, und die Matrosen würden sich besser in der Richtung der Robador umsehen. Sigismond steht mitten auf der Straße, vor dem Hotel; doch ist er in Gedanken in dem Zimmer, das er soeben verlassen hat, und der Gedanke an den Brief hat sich ganz unvermutet auf ihn gestürzt. Die Versuchung ist groß, wieder nach oben zu gehen, den Turm (Schach gegen ihn) zu verrücken, den Umschlag zu öffnen und das Briefchen zu lesen, den Augenblick zu berühren, in dem er nicht mehr geschützt sein wird. Tibidabo. Wird er das nicht akzeptieren, was ihm in jedem Fall gegeben werden muss?
Nein, er akzeptiert es nicht oder zumindest noch nicht; denn er ist auf dem Gehsteig des Hotels zur Seite getreten, um zwei Personen vorbeizulassen, die in Richtung der Rambla gehen. Sie haben ihn von der gefährlichen Versuchung abgebracht. Mutter und Tochter, seiner Vermutung nach, die erste eine dicke Brünette mit einer etwas ausladenden Brust unter dem violetten Seidenstoff des Kleids, doch die Kleine, mit weißen Schuhen, schwarzen Strümpfen, orange Rock und rosa Pullover, hat ihn verblüfft, weil ihre großen Augen, die auch die andere hat, den vergoldeten Blick Juanitas haben, und auch weil ihr übertrieben frisiertes Haar, ihr Gang und ihr Kostüm die Ähnlichkeit nur noch unterstreichen. Es ist absurd, aber die Erinnerung an die kindliche Nutte wiegt schwerer als das Bild des gläsernen Turms; und Sigismond hat sich gesagt, dass er vor Ende des Tages bestimmt zur San Olegario und zur Bar Pigalle gegangen sein wird, gar nicht zu reden von der Wohnung der großen 20, wahrscheinliches Ende des Wegs. Unterdessen hat er sich auf eine etwas mechanische Weise angeschickt, hinter der Mutter und dem Töchterchen herzugehen, die beide auf dem Kopf ein Taschentuch aus schwarzer Spitze tragen, um zu zeigen, dass sie auf dem Weg zur Kirche sind oder von dort kommen.
Hat Juanita im Alter von zwölf oder dreizehn auf diese Weise mit einer schweren Mama (ärmer als dieses dicke Weibsstück in Violett) und mit einem gestickten Fetzen auf dem Strubbelkopf die Vogelscheuche bei der Messe gespielt? Wie alt ist es, das Nuttchen, wenn man’s überlegt? Kann zwanzig, kann aber auch sechzehn sein …
Auf der Rambla: »Sollen sie doch zu den Heiligen und allen Teufeln fahren!«, sagt er sich, und er lässt sie gerne ziehen, da er nur einem Trugbild von Liebe hinterhergelaufen war.
Er geht ein Stück unter den Bäumen, von denen, wie ein unerschöpfliches Manna, der Kot der Vögel herabkommt, dann auf der Mitte des mittleren Gehsteigs, auf dem nicht sehr viele Spaziergänger flanieren. Die Sonne ist grell; ihre Glut bringt einige Frauengesichter zum Schwitzen, die mit gelbem Puder, nicht aber mit Lippenstift geschminkt sind; diese Kombination, gepaart mit schwarzer Seide, bringt am helllichten Tag nicht die beste Wirkung hervor, obwohl sie als Messeschminke die Erlaubnis und sogar die Zustimmung der Geistlichkeit genießt. Sigismond wirft einen Blick auf den Stadtplan, der zum Glück in seiner Westentasche geblieben ist. Wird er wieder die Ramblas bis zur Plaza de Cataluña hinaufgehen? Zu dieser Stunde besitzt diese alte Avenue wegen des maßvollen Andrangs einen Zauber, der dem friedlicher Promenaden gleicht, aber nach Mittag wird sich die Menge zwischen Kirchgang und Mahlzeit dort aufhalten, das ist nur allzu sicher; und Offiziere werden mit Offiziersfrauen einen Speck zur Schau stellen, der ebenso dick ist wie der ihres Herrn. Das Koppel auf einer dicken Wampe, das Pistolenhalfter nahe am Arsch, das sind die deutlichen Zeichen der Herren von Kastilien inmitten der unterworfenen Katalanen.
Plötzlich hat Sigismond sich erinnert, dass Sergine ihm gesagt hatte, er müsse in Barcelona das Museum besuchen. Nichts anderes als das hätte sie verlockt (da sie nichts vom Molino und dem barrio der Nutten wusste), und sie hatte hinzugefügt, dass das Museum von Barcelona, zusammen mit dem von Siena, in Europa über die reichhaltigste Sammlung früher Malerei verfüge. Der Beweis sollte endlich erbracht werden; und da Sigismond sich nicht vorstellen kann, dass das Militärvieh den Sonntagvormittag vor Gemälden und Freskenfragmenten verbringt, wird er sich dorthin begeben (aber im Wagen). Und wiederum schaut er auf den Plan.
Er hatte erst gerade die Kreuzung passiert, sodass er nur zwanzig Meter auf der Avenue zurückzugehen und den Fahrdamm links zu überqueren brauchte, um sich auf dem kurzen, von Arkaden gesäumten Weg zu befinden, der in die Plaza Real mündet. Schuhputzer, die vor sich hin dösten, winken ihn herbei, verlieren aber schnell wieder das Interesse, nachdem sie seine Wildlederschuhe gesehen haben. Als er gedankenverloren um die rechte Ecke biegt, ist plötzlich eine Negerin in leichtem weißem Kleid Leib an Leib mit ihm, und der schöne Mund, der schöne Busen und das süßliche Parfüm des Mädchens sind in vollkommener Übereinstimmung mit den hohen Palmen, die mitten auf dem Platz still in der Luft stehen und die ihm gleichzeitig ins Auge gefallen sind. Sie entfernt sich, und die vollkommene Übereinstimmung ist aufgehoben, doch hat sie bei dem Zusammenstoß ganz unschicklich gelacht. Für Sigismond ist sie »aus Brasilien«, da er soeben unter dem Gewölbe das Hotelschild gleichen Namens erblickt hat. Es wäre möglich, mit ihr ein Glas zu trinken, wenn er nicht im Museum eine Art Rendezvous hätte. Sie überquert die Ecke der Fahrbahn in Richtung der Rambla, und es ist fraglich, ob Sigismond sie je wiedersehen wird.
Sein Wagen, dessen helle blaue Farbe unter dem Staub verschwindet, ist einige Schritte entfernt und steht nahe einem Arkadenpfeiler zur Hälfte auf dem Gehsteig des Platzes. Um schneller zum Wagen zu gelangen, überquert Sigismond die Straßenecke; er schlüpft zwischen ihr und einem grauen, in Schweden zugelassenem Volkswagen hindurch, der wenig Platz zum Öffnen der Tür lässt, nachdem der Schlüssel das Schloss freigegeben hat; und mehr als mühsam schlüpft Sigismond in den Spalt. Der Schlüssel des kleinen Renault wird gleichfalls für die Tür wie für die Zündung verwendet (die wiederum den Anlasser betätigt). Bei der ersten Bemühung brummt der Motor.
Dann löst Sigismond die Bremse; er tritt die Kupplung, legt den Rückwärtsgang ein, kuppelt sacht aus und lässt den Wagen einige Meter zurückrollen, um herauszukommen. Der von den Spielen der Kinder andauernd aufgewirbelte Staub ist auf die Windschutzscheibe wie auf die Karosserie geflogen und trübt die Sicht nach draußen. Bevor Sigismond losfährt, muss er, auch nur für eine kurze Strecke, die Scheibe säubern. Im Handschuhfach liegen verschiedene Lappen, zu diesem oder jenem Gebrauch.
Der Lappen, den Sigismond genommen hat, ist neu, und als er ihn außerhalb des Wagens betrachtet, bemerkt er an ihm etwas Vertrautes. Tatsächlich, es ist ein Stück rosa Linon, das von einem Nachthemd stammte; Sergine hatte es lange getragen, und als es abgenutzt war, hat sie es in Stücke gerissen. Sie war es, die vor der Abfahrt ihres Ehemannes die Lappen im Wagen erneuert hat. Mit einer leicht zitternden Hand wischt Sigismond mit dem hübschen Tuch die Scheibe. Ihm gegenüber ist ein kleines, kaum fünfjähriges Mädchen stehengeblieben; sie hat blonde Haare und eine braune Haut unter dem sehr kurzen roten Kleid und sieht ihn ernst an, wobei sie sich auf ihren Reifen mit Griff stützt; sie streckt die Hand nach dem roten Lappen aus, und wie sollte er es anstellen, ihr diesen nicht zu geben, obwohl er mit seiner Arbeit noch nicht ganz fertig ist? Zum Dank verneigt sie sich, doch ohne Lächeln, dann enteilt sie auf ihren kleinen weißen Schuhen. Sie hätte ihn erdolchen können, und er hätte sich nicht schlechter gefühlt. Keine Wolke zieht über den Palmen dahin, doch könnte der Himmel in zwei Hälften zerreißen, ohne Sigismond etwas Übernatürliches zu offenbaren.
Vor etwas mehr als vier Jahren, Ende Januar, brachte Sergine ihren Sohn, den kleinen Élie auf die Welt (wie es heißt …). Doch als Sergine, zu Beginn eines Junis, unter Sigismond blutete, wird das bald sechs Jahre her sein. Wird er sich lange an süße oder grausame Begebenheiten wiedererinnern, an die Zeitpunkte und die Zeiträume, in denen sie stattfanden? Unter den Palmen bekämpfen sich zwei Lager von Kindern mit harten Holzschwerthieben, und ihre Kriegsschreie, die sich von der gleichmäßigen Geräuschkulisse des Springbrunnens abheben, zeigen, dass sie Christen und Mauren spielen. Der eigentliche Sinn der Geschichte ist es, für das Vergnügen der Knirpse zu sorgen. Was ihn, Sigismond Pons, im Besonderen angeht, so ist seine Vergangenheit versiegelt und seine Zukunft durch den Zusatz eines durchscheinenden Turms versperrt. Gegenwärtig ist er am besten im Museum aufgehoben.
Er hatte den Motor nicht abgestellt, als er aus dem Wagen gestiegen war, und das schwache Brummen, das ihm wieder vernehmlich wurde, ist gleichsam ein Rat, sich unverzüglich zurück zu begeben. Sigismond nimmt wieder auf dem Sitz Platz, legt den Rückwärtsgang ein, um noch ein wenig zurückzurollen, geht dann in den ersten Gang, schaltet in den zweiten, um langsam den Platz zu umrunden, bis er den einzigen Eingangs- und Ausgangsweg erreicht. Ein junger Cid wäre von einem Kalifen aus Granada auf die Windschutzscheibe des Renault geschleudert worden, wenn der Fahrer schneller gefahren wäre oder weniger scharf gebremst hätte, aber es war ihm gelungen, das Kind nicht zu berühren, das ihm durch sein Fliehen (bravo Sarazene!) die Weiterfahrt ermöglicht; und als er zu der Stelle abgebogen ist, an der die sympathische Negerin verschwunden war, ertappt er sich dabei, an den Tischen eines Cafés nach dem Mädchen Ausschau zu halten. Nicht, dass er es wirklich bedauert hätte, sie dort nicht vorzufinden; aber er hatte gehofft, sie zu sehen, ja, und indem er, einmal mehr, sein seltsames Doppeldasein feststellt, spürt Sigismond auch, dass sich in ihm der Schmerz abschwächt, den er extrem genannt hätte.
Rechts nimmt er die Rambla bis zur ersten Kreuzung, an der er eine vollständige Kehre nach links macht, um die Straße in umgekehrter Richtung bis zur Plaza del Teatro zu befahren, dann weiter hinab, bis zum ersten Weg, wo er nach rechts abbiegen kann, um unten am Paralelo anzukommen. Dort biegt er nochmals nach rechts ab, um wieder zurückzufahren; und er rollt sachte dahin, neugierig darauf, ob er die Stelle, an der er während der letzten Nacht herumgeirrt war, unter einer fast am Zenit stehenden Sonne wiedererkennt.
Die Sicht des Autofahrers unterscheidet sich von der des Fußgängers vor allem dadurch, dass sie den Raum (und nicht nur die Entfernungen) verkleinert; hingegen vergrößern Schatten und künstliche Beleuchtung die Dimensionen gegenüber ihrem offensichtlichen Maßstab unter Tageslicht. Der Weg zwischen der Calle Arco del Teatro und der Bodega Apolo, wo Sigismond ohne Ende herumgestolpert war, ist eigentlich kurz; die Bodega, das alte Kino und der Vergnügungspark sind armselige Baracken; das neue Kino jenseits der Straße ist nicht so groß, wie es gestern schien. Gleichgeblieben bei letzterem ist das Programm, und Sigismond, der wieder dem Zauber des großen indianischen Gesichtes auf dem Plakat verfallen ist, hat nicht auf die Ampel an der Kreuzung geachtet, die auf Rot stand. Sonntags ist glücklicherweise weniger Verkehr. Nicht schlimm, da kein Polizist Dienst hatte und kein Fahrzeug kreuzte. Mit einem Seufzer (wenn Sergine da gewesen wäre, hätte sie den von Bildern gebannten Pons gekniffen), nach einem weiteren Seitenblick auf die Heldin des Corazón selvaje, fährt Sigismond vor dem Gehsteig, wo ihm der Lümmel die Zunge herausstreckte, ein wenig schneller, obwohl das Gebiet am Morgen nichts Anstößiges hat.
Da ist das Molino, das sich, zu dieser Stunde und mit erloschenen Lichtern, wie ein großes Ei präsentiert, das man mit Flügelchen und einer Sockelarchitektur versehen hat. Was ist ein großes Ei mit Flügelchen denn anderes als eine Bombe? Und wenn im Kastilischen die fulminanten Schauspielerinnen, die Diven mit explosiven Reizen, »Bomben« genannt werden, fungierte dann das in den Büstenhalter eingeführte Ei nicht als eine Zündkapsel? Ist es denkbar, Juanita durch dieses oder ein anderes Mittel zu entflammen? Und er, war er, wenn er sich ernsthaft befragt, jemals fähig gewesen, Sergine in Brand zu stecken?
Sofort bereut er es, sich die Frage gestellt zu haben, und nach dem Passieren der großen Kreuzung tritt er voll aufs Gaspedal, was die Nadel des Tachos im dritten Gang schnell über die 90 treibt, dann legt er den vierten Gang ein und gibt weiterhin Vollgas. Den Paralelo mit einhundertzwanzig Stundenkilometern hinaufzufahren ist, trotz der Leere der Stadt, nicht sehr klug, und da er den Fuß nicht hebt, vergrößert sich die Geschwindigkeit noch, als er auf einem durchaus buckligen Pflaster ein schwarzes Seat-Taxi überholt, dann nimmt er das Gas herunter und bremst, bevor er die Plaza de España erreicht, wo die Polizei sicherlich anwesend ist.
Sie ist es in der Tat, in Gestalt mehrerer blauschwarzer (mistkäferfarbener) Polizisten, die zum Glück dem Paralelo den Rücken zugewandt haben; denn sie sind damit beschäftigt, Autoschlangen zu dirigieren, die über die Avenue José Antonio zu den Stränden in Richtung Sitges fahren. Eine Handbewegung eines Polizisten erlaubt es Sigismond, sich in die Kette der Seats einzureihen, und so fährt er, vorübergehend unter die Familien des gehobenen Mittelstandes gemischt, die von dem Nutzfahrzeug begeistert sind, behutsam um das mittlere Trottoir. Auf der anderen Seite verlässt er, ohne wesentlich schneller zu fahren, das Wagengedränge...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Kapitel I
  5. Kapitel II
  6. Kapitel III
  7. Kapitel IV
  8. Nachbemerkungen
  9. Impressum