Musterbrecher 1
EXPERIMENT VOR PLAN
Kennen Sie jemanden, der seinen Partner fürs Leben durch eine Nutzwertanalyse aussucht, Meilensteine der Beziehung festlegt, ein Leitbild an den Kühlschrank heftet, ein Projektziel mit schlagkräftigem Titel à la »LifelongWithLove@Home« definiert und einmal im Jahr ein strukturiertes Beurteilungsgespräch mit dem Partner durchführt?
__Experimente machen uns Menschen aus; denn letztlich ist unser ganzes Leben durch nie endende Episoden des Ausprobierens geprägt. Als Kinder versuchen wir, andere zu imitieren. So erschließen wir uns die Welt – zuerst im sicheren Umfeld der Eltern und später immer mutiger. Und auch als Erwachsene experimentieren wir ständig. Selbst wenn Online-Partnervermittlungen uns durch Matching-Algorithmen die optimale Partnerwahl versprechen, bleibt jede Beziehung ein Versuch mit der nicht ganz unwahrscheinlichen Möglichkeit des Irrtums. Das experimentelle Vorgehen scheint also allzu menschlich. Natürlich überlegen wir uns oft etwas dabei, wenn wir einen Versuch starten. Manchmal passiert es aber auch einfach, und wir ergreifen eine Chance. Das Ende bleibt dabei stets offen und ungewiss.
__In den Naturwissenschaften hat sich das Experiment als mächtigster Katalysator des Fortschritts und der Wissensproduktion erwiesen. Als mutige Wissenschaftler wie beispielsweise Galileo Galilei mit ihren experimentellen und beobachtenden Ansätzen begannen, stellten sie damit die Autorität der Heiligen Schrift und somit der göttlichen Vorhersehung in Frage. Gleichzeitig leiteten sie damit einen explosionsartigen Anstieg des Wissens ein. Ohne den Mut, Fragen zu stellen, die bisher keiner zu stellen gewagt hatte, wären viele Innovationen bis heute schlicht unvorstellbar gewesen. Nicht mehr der fatalistische Umgang mit scheinbar gesichertem Wissen, sondern die Evidenz durch das Experiment trieb von diesem Zeitpunkt an die Entwicklung. Das induktiv-experimentelle Vorgehen als neuer Forschungsstandard setzte sich durch. François Jacob, Nobelpreisträger für Medizin, bezeichnete das Experiment als einen »Brutkasten der Hoffnung« oder als »Maschinerie zur Herstellung von Zukunft«.
__Obwohl man die Erfolge der Wissenschaft würdigt und schätzt, dominiert in Unternehmen die Planungslogik, und das Management nutzt das Experiment als Mittel zur Wissensproduktion wenig bis gar nicht. Das ergebnisoffene Ausprobieren alternativer Formen zur Organisationsentwicklung ist weder Bestandteil der Managementausbildung noch der Managementpraxis. Dies erstaunt umso mehr, als wir im betrieblichen Alltag die Grenzen analytischer Planung und des Strebens nach Sicherheit deutlich erleben.
// Die dominante Haltung
Es darf nichts angefangen werden, bevor wir das Ende nicht kennen.
__Wir extrapolieren Trends, berechnen die Eintrittswahrscheinlichkeit von sensitiven Szenarien und prognostizieren permanent künftige Entwicklungen – gerade so, als ob wir die Ungewissheit der Zukunft ausschalten könnten, indem wir sie einfach ignorieren. Solche Muster, die sich einmal als sinnvoll erwiesen haben, prägen auch weiterhin unser Verhalten. Per definitionem schließt das Selbstverständnis von Management das Experimentieren aus. Management versteht sich als Planungsinstanz, als Erfüllungsgehilfe von Kontinuität, Produktivität, Wertschöpfung und Stabilität und weiß, was zu tun ist, beziehungsweise sollte es wissen. Unangenehme Überraschungen sind zu vermeiden. Im Managementkontext ist das Experimentieren negativ belegt. Als Manager zu experimentieren bedeutet, unprofessionell zu handeln, unkalkulierbare Risiken einzugehen und Wissenslücken zuzugeben.
// Einsicht vorhanden – Handlung fehlt
Intellektuell sehen viele ein, dass sie experimentierfreudiger werden müssen. Nicht umsonst findet man in Unternehmen Aufrufe, die lauten: »Probiert mutig Neues aus!« Der Übergang vom Erkennen zum Handeln fällt indes schwer.
__Musterbrecher wissen, dass sie die Organisation als »Labor« verstehen müssen. Jaime Lerner, der ehemalige Bürgermeister der Zwei-Millionen-Metropole Curitiba, einer der innovativsten Städte der Welt, im Süden Brasiliens, antwortete auf die Frage, was er uns zum Abschluss des Interviews noch mit auf den Weg geben könne: »Plant nicht zu lange! Wer lange und ausgiebig plant, findet gute Gründe, etwas nicht zu tun. Innovation heißt aber anfangen!«
__Das bedeutet: Je ungewisser die Welt, desto mehr erweist sich die auf einer analytischen Vernunft basierende Planungslogik als nicht mehr zielführend. Die ideale Vorstellung, langfristig gültige Strategien und daraus abgeleitet stabile Strukturen und Prozesse zu definieren, stellt eine Fiktion dar. Der Reflex, der Unsicherheit mit sicherheitsgebenden Initiativen zu begegnen und zu hoffen, der Organisation dadurch die vermisste Stabilität zu geben, ist verständlich. Wir alle benötigen Stabilitäten; denn permanente Instabilität macht uns krank und überfordert uns. Wenn Führung die Beständigkeit nicht mehr durch Planung sicherstellen kann, sind Alternativen gefordert. Das Experiment ist die sichere Einführung der Unsicherheit in die Organisation und somit das wirksamste Mittel im Umgang mit dem Unplanbaren. Die experimentelle Führung bildet ein Gegengewicht zur stabilen, auf Reproduzierbarkeit und Effizienz ausgerichteten Routine der Organisation.
// Sicherheit durch ergebnisoffenes Experimentieren
Wenn es gelingt, in der Organisation eine Haltung des Experimentierens zu verankern, dann entsteht eine Sicherheit, besser mit der Unplanbarkeit zurechtzukommen.
__Der Übergang von der Planungs- zur Experimentierlogik bedingt einschneidende Haltungsänderungen. Doch Haltungsänderung gelingt nicht durch einfache Appelle wie: »Jetzt experimentiert doch mal!« Wenn eine Führungskraft von einem Musterbrecher-Workshop zurückkommt und sagt: »Ich habe es erkannt, ab jetzt müssen wir alle mehr experimentieren! Ich lebe euch das jetzt vor!«, werden die Mitarbeitenden allenfalls so tun, als würden sie experimentieren. Erst durch neue Erfahrungen, die unter die Haut gehen, kann sich Haltung und in der Folge auch Handlung verändern. Musterbrecher appellieren nicht, sie sind bereit, neue Erfahrungen zu machen.
__Ein erster Schritt könnte die Erkenntnis sein, dass die eigene Erfahrungswelt den Möglichkeitsraum begrenzt. Was wir kennen, limitiert unsere eigene Vorstellungskraft. Musterbrecher gehen offen mit dem eigenen Nichtwissen um und sind bereit, mit Experimenten die Wissenslücken zu schließen. Sie akzeptieren, dass es die idealtypischen Lösungen nicht gibt, und sie verstehen, dass intelligente Organisationsentwicklung immer wieder neue Prototypen benötigt. Sie sind neugierig und haben den Mut zu scheitern. Dabei nutzen sie die Organisation konsequent als »Resonanzkörper«, stehen im Dialog mit Kollegen, Mitarbeitenden und Kunden, stellen in Frage, testen erneut, verwerfen, setzen anders an …
// Scheitern (fast) unmöglich
Experimente können im Grunde nicht scheitern, weil jedes Experiment zu einer Erkenntnis führt, auch wenn sich die Hypothese nicht bestätigen lässt.
__In den letzten Jahren konnten wir viele (Führungs-)Experimente in Wirtschaft und Verwaltung begleiten und deren Mehrwert für die Organisationsentwicklung erleben. Ausgangspunkt beim Design der Experimente bilden Hypothesen und Vermutungen, die den antrainierten und sozialisierten Glaubenssätzen widersprechen. Eine solche Hypothese könnte beispielsweise lauten: Auch wenn wir auf Zeiterfassung verzichten, werden die Mitarbeitenden ihre Leistung erbringen, ohne sich dabei zu überfordern. Oder Mitarbeiter benötigen keine Führungskraft, um ihre tägliche Arbeit zu organisieren. Oder mit abnehmendem Arbeitsdruck steigen die Qualität der Arbeit und die persönliche Zufriedenheit.
__Aus den Begleitungen erkennen wir die Kraft von Experimenten. Organisationen werden durch sie gewissermaßen gezwungen, ihr »wahres Gesicht« offenzulegen. Es werden andere als die üblichen Annahmen getroffen, anschließend wird das Verhalten der Menschen beobachtet. Experimente helfen dabei, Potenziale und verborgene Energien zu mobilisieren. Sie entlarven bisherige Blockaden und limitierende (Denk-)Muster. Sie unterstützen Neuerungen und verbessern deren Akzeptanz bei den Betroffenen. Experimente widerlegen Theoriestandards und geben neue Antworten. Sie schaffen Wissen, das unmittelbar im organisationalen Kontext mehrwertstiftend ist, und vereinen Wissensproduktion und Gestaltung in einem integrativen Prozess.
// Das Experiment
Es unterscheidet den Querdenker vom Musterbrecher, denn der Musterbrecher belässt es nicht beim Denken, sondern handelt. Das Experiment ist zwar ergebnisoffen, aber kein russisches Roulette. Es erzeugt Perspektivenvielfalt und irritiert.
__In Unternehmen finden wir unterschiedlichste Labore. Doch diese sind darauf ausgerichtet, dass neue chemische Verfahren, effektivere medizinische Wirkstoffe, leistungsfähigere Triebwerke oder besser zu bearbeitende Materialien erforscht werden. Was fehlt, sind Labore, in denen neue Formen der Organisation oder ein anderes Managementverständnis erfor...