Perspektiven
Warum wir dieselbe Welt so unterschiedlich sehen
»Patient sind Sie aber nicht, oder?«, fragte mich der Taxifahrer, der mich vom Hauptbahnhof in die Klinik fahren sollte. Ich war in Eile, da mein Zug aus München mehr als eine Stunde Verspätung hatte. Der Fahrer wartete meine Antwort gar nicht erst ab, sondern begann gleich zu erzählen. Seine Frau habe lange in dem Klinikum gelegen, sie sei schwer krank – eine unheilbare Krebserkrankung. Inzwischen sei sie zu Hause und werde dort versorgt, es sei ein Graus, und er sei jeden Abend froh, wenn sie einigermaßen über den Tag gekommen seien. Es gebe so viel zu bedenken – Medikamente müssten genommen, Ausscheidungen kontrolliert, Werte gemessen und die Schmerztherapie abgestimmt werden. Lange könne es so nicht mehr weitergehen. Für ihn, meinen Fahrer, sei das schon schwer, ihn überfordere das alles, manchmal wisse er wirklich nicht weiter. Und was solle man sagen, wenn man nach über dreißig Ehejahren gesagt bekomme, dass sie froh wäre, wenn es endlich vorbei wäre?
Der Taxifahrer, ein vielleicht 65-jähriger beleibter Mann, hatte sich richtig in Rage geredet – auch wenn er die Geschichte mit seiner Frau, die medizinischen Details wie seine Ratlosigkeit, sicher nicht zum ersten Mal erzählte. Ich bekam das Gefühl, dass er mich fast vergessen hatte. Jedenfalls erschrak er ein wenig, als er sich wieder an meine Gegenwart zu erinnern schien. Wenn ich schon kein Patient war und auch nicht aussah wie ein Geschäftsreisender, lag nur eines nahe: »Was für ein Arzt sind Sie denn?« Ich betonte, kein Mediziner zu sein, und irgendwie war der Fahrer erleichtert: »Oh, ich dachte schon …«
Ich fragte nach. Und wieder folgte eine ausführliche, sehr emotionale Schilderung. Niemand habe Zeit für ihn gehabt, kein Mensch sich wirklich für ihn und seine Frau interessiert, von jedem seien immer nur Teilantworten gekommen. Der behandelnde Arzt habe immer wieder auf den Oberarzt verwiesen, der sei immer nur für wenige Minuten greifbar gewesen, man werde aber alle nötigen Infos an den Hausarzt weitergeben. Die Stationsschwester habe irgendwie überlastet gewirkt. Die Einzige, die mal ein wenig Zeit gehabt habe, sei die evangelische Krankenhauspfarrerin gewesen, aber mit der Kirche hätten er und seine Frau es nicht so.
Aus allem, was der Mann sagte, klang eine tiefe Enttäuschung darüber, dass es keine verbindlichen Gesprächspartner gab, dass niemand ihm sagen konnte, wie es weiterging und was getan werden müsse. Niemand sei so recht zuständig gewesen, manchmal hätten sich die Aussagen sogar widersprochen. »Es ist, glaube ich, besser, kurz und schnell zu sterben, am besten, man kriegt nix davon mit – und Andere auch nicht.« Und dann sagte er einen Satz, der mich nachhaltig berührt hat: »Machtloser als in so einem Krankenhaus sind Sie auch nicht, wenn Sie tot sind.« Der Satz hatte eine philosophische Schwere – und wir sind beide ein bisschen darüber erschrocken –, der Taxifahrer lachte, wohl um die Beklommenheit ein wenig aufzulockern …
Als ich ihm eröffnete, dass ich ein Soziologe sei, der das Ethik-Komitee der Klinik besuchen wollte, nahm der Mann das als Aufforderung zu einer erneuten, sehr engagierten Rede über die Zustände in Krankenhäusern. Er habe ja das Gefühl, dass dort die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut. »Versuchen Sie einmal, einen Arzt auf das festzunageln, was ein anderer Arzt gesagt hat, da werden Sie verrückt! Diese Doktoren, die sehen doch nur sich selbst, die sehen gar nicht, wie es um die Leute wirklich steht. Wenn's darum ging, dass meine Frau diese oder jene Pille bekommt, waren sie auf Zack, aber wenn es darum ging, wie es weitergehen soll und wie das alles zu Hause funktionieren soll, da wusste keiner Bescheid. Da hat doch keiner 'ne Ahnung vom Anderen.«
Wie in einem Brennglas hat der Taxifahrer formuliert, wofür ich mich als Soziologe interessiere. Krankenhäuser sind für mich nicht nur Anstalten zur Krankenbehandlung, sondern auch eine Parabel darauf, wie das moderne Leben funktioniert: schnell und multiperspektivisch, kaum steuerbar und doch permanent unter Regulierungsdruck, befasst mit lebenswichtigen Entscheidungen und doch irgendwie ohne ein Zentrum, von dem her sich das Ganze erschließt. Ich hatte freilich nicht viel Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen, denn wir waren am Klinikum angekommen, und ich musste das Taxi bezahlen. Der Fahrer fragte mich, ob ich anschließend zum Bahnhof zurückwolle, und wir machten einen Zeitpunkt aus, an dem er mich wieder abholen sollte.
Wegen meiner Verspätung wurde ich an der Pforte schon erwartet. Ich war zu einer Sitzung des Klinischen Ethik-Komitees eingeladen, da ich in einem langjährigen Forschungsvorhaben über die Arbeitsweise solcher Gremien geforscht habe. An diesem Tag sollte es darum gehen, wie das Krankenhaus mit suizidären Patienten umgeht. Eine Mitarbeiterin brachte mich zum Konferenzraum, wo die Sitzung bereits in vollem Gange war. Jedenfalls machten die Leute, die um einen ovalen Tisch herum saßen, den Eindruck, dass sie durch meinen Auftritt unterbrochen wurden. Man spürte geradezu die Spannung, gegen die auch der Vorsitzende des Gremiums, ein Anästhesist im Ruhestand, den ich bereits von einem früheren Treffen her kannte, nichts ausrichten konnte. Allein der Takt, den die Situation erforderte, hinderte die Beteiligten offensichtlich daran, weiter zu debattieren – zumindest erschien es mir so.
Der Vorsitzende begrüßte mich, und es folgte eine kurze Vorstellungsrunde. An der Sitzung nahmen der Verwaltungsleiter der Klinik teil, Seelsorger, mehrere Ärztinnen und Ärzte, darunter auch ein Palliativmediziner und ein Psychiater, ein Jurist, zwei Vertreterinnen des Pflegepersonals und eine Patientenfürsprecherin. Bereits in der Vorstellungsrunde kam es zu kleinen Spitzen der Anwesenden gegeneinander. Vor allem zwischen dem Psychiater und dem Juristen waren die Spannungen unübersehbar.
Schon die Vorstellungsrunde machte deutlich, dass die Versammelten hier durchaus ein gemeinsames Interesse zusammenführte, dass die Gemeinsamkeit aber aus sehr unterschiedlichen Perspektiven gespeist wurde. So stellte sich der Verwaltungsleiter selbstironisch als derjenige vor, »der stets nur die glatte und kalte Perspektive des Geldes vertritt, also der unethische Part in diesem Ethik-Komitee«. Was mir als Außenstehendem wie ein gut einstudierter Scherz erschien, sorgte bei den anderen Beteiligten für genervte Gesichter. Ein Hinweis darauf, dass die Bemerkung eine längere gemeinsame Geschichte hatte.
Es folgten ein Oberarzt der Inneren Medizin, der sich nur sachlich mit Namen und Funktion vorstellte, eine leitende Krankenschwester ebenso, wie auch der Psychiater, der sich dafür bedankte, dass mal jemand von außen der ganzen Sache »auf die Finger schaut«. Die beiden Seelsorger, ein etwas älterer katholischer Priester und eine junge, dynamische evangelische Pastorin, kamen aus ganz unterschiedlichen Welten – stellten sich aber beide als Partner aller Seiten vor. Sie seien »für die Menschen« da, auch für die, die im Krankenhaus »Dienst tun«, »Dienst am Menschen« nämlich.
Es folgte ein junger Assistenzarzt, dessen ganzer Tonfall zweierlei demonstrierte: Er war einerseits sehr engagiert und interessiert, andererseits im Habitus eher gehemmt und vorsichtig. An seiner Haltung materialisierte sich irgendwie die strenge Hierarchie eines Klinikums mit ihren klaren Oben-unten-Strukturen und Weisungsbefugnissen. Auch wenn solche Institutionen Teil von Universitäten sind, herrscht in ihnen eine völlig andere Kultur als in anderen Fakultäten.
»Sie sollten nicht so bescheiden sein«, sagte darauf der neben ihm platzierte Herr, der schon die ganze Zeit eher unruhig auf seinem Stuhl saß. »Sie dürfen ruhig erwähnen, dass Sie auch Philosophie studiert haben und ein echter Ethik-Experte sind.« Fast wurde der junge Mann rot, doch die Aufmerksamkeit wechselte nun auf jenen Herrn, der sich als Professor der Jurisprudenz, Strafrecht, vorstellte und kurz bemerkte: »In normativen Fragen reicht die Philosophie dann doch nicht.«
Der Letzte in der Reihe war der Chefarzt der palliativmedizinischen Station des Krankenhauses, die zehn eigene Betten zur Verfügung hat und ansonsten konsiliarisch für andere Abteilungen des Hauses zuständig ist. Das Ganze hat vielleicht gute fünf Minuten gedauert – die Spannung vom Anfang war immer noch zu spüren. Ich habe dann selbst nach bravem Dank für die Einladung einige kurze Bemerkungen dazu gemacht, dass ich mich als Soziologe für solche Gremien interessiere, mich aber sehr kurz gehalten, mit der Bemerkung, dass die Sitzung ja bereits in vollem Gange gewesen sei und ich das Gefühl hätte, eine engagierte Diskussion unterbrochen zu haben.
Der Vorsitzende des Gremiums wiegelte ab: »Nein, nein, wir sollten nun tatsächlich dazu kommen, dass wir ein wenig über unsere Arbeit berichten …« »Nein, unser Gast hat schon recht, wir haben bereits über einen schwierigen Fall diskutiert, und ich muss gestehen, dass ich immer noch ganz erschrocken darüber bin, wie das gelaufen ist«, traute sich der junge Assistenzarzt und Philosoph aus der Deckung und forderte damit offenbar den Juristen heraus.
Der Vorsitzende nahm die Sache in die Hand. »Sie müssen wissen, dass es in unserem Haus vor einigen Wochen einen dramatischen Suizid eines Patienten gegeben hat, was uns seitdem nicht mehr loslässt, weil wir nicht wissen, ob wir Fehler gemacht haben, denn es hat durchaus Warnsignale gegeben, die wir hätten ernst nehmen müssen. Doch darüber, wie man sich hätte richtig verhalten sollen, ist nur schwer Einigkeit zu erzielen. Wir haben vor Ihrer Ankunft über diesen Punkt gesprochen, und vor allem zwischen dem psychiatrischen Kollegen und unserem Rechtsexperten hat es dabei erhebliche Differenzen gegeben.«
Es folgte eine sachliche Beschreibung des Falls durch den psychiatrischen Kollegen. Der Patient, um den es gehe, habe bereits einige Tage vor seinem Suizid Andeutungen darüber gemacht, dass er seinem Leben ein Ende setzen wolle. Der Tumorpatient sei keineswegs in unmittelbarer Lebensgefahr gewesen, vielleicht habe ihn deshalb niemand wirklich ernst genommen. In der Summe seien die Hinweise eindeutiger zu interpretieren gewesen, aber mit seinen jeweiligen Bemerkungen seiner Krankenschwester, seiner Ehefrau und seinem Sohn gegenüber, aber auch an die Adresse des behandelnden Oberarztes habe er jeweils letztlich nicht die Schwelle der Aufmerksamkeit erreicht, die nötig gewesen wäre. Das sei letztlich der Anlass, über das eigene Verhalten im Krankenhaus genauer nachzudenken.
Es war dem psychiatrischen Kollegen gut gelungen, ein wenig Dampf aus der Situation zu nehmen. Irgendwie wirkte die Atmosphäre auf einmal etwas entspannter. Dennoch interessierte mich, was der Anlass für die vorherige Stimmung gewesen war. Auf meine Nachfrage hin fuhr der Psychiater fort: »Ich habe heute zu Beginn unserer Sitzung nur bemerkt, dass man sensibler auf solche Bemerkungen achten muss, dass bereits die kleinsten Anzeichen deutliche Hinweise darauf sein könnten, dass solche Patienten nicht mehr Herr ihrer Lage sind. Man muss sie dann vor sich selbst schützen. Ich hätte es gut gefunden, wenn man mich konsultiert hätte. Das hat unseren Juristen zu einer Philippika gegen den Paternalismus der Ärzteschaft veranlasst.«
»Genau«, fuhr der Angesprochene fort, »es kann nicht angehen, dass subjektiv eindeutig formulierte Wünsche von Patienten per se pathologisiert werden.« Sein Blutdruck war geradezu sichtbar gestiegen. »So bedauerlich es ist, dass der Aufenthalt in einem modern ausgestatteten Krankenhaus wie diesem offensichtlich nicht garantieren kann, dass Patienten sich aufgehoben fühlen, so sehr gibt es das Recht der Selbstbestimmung für jeden Menschen – auch für den Kranken und vor allem für den, der etwas tun will, was Andere nicht wollen, sonst bräuchte man ja keine Selbstbestimmungsrechte. Die Zeiten, in denen Halbgötter in Weiß das alleine entscheiden konnten, sind gottlob längst vorbei.« Die angespannte Atmosphäre hatte sich unvermittelt wieder eingestellt. Wie ich dann erfuhr, hatte auch der Verwaltungsdirektor des Krankenhauses Missmut auf sich gezogen, weil er zu bedenken gab, welche ökonomischen Folgen es für das Krankenhaus haben könne, wenn Fälle wie der Suizid des Patienten in der Presse breitgetreten würden.
Für mich als Soziologen war das eine Situation wie aus dem Lehrbuch. Ich habe zunächst in die Runde gefragt, wie denn die anderen Beteiligten den Disput zwischen den drei Antipoden beurteilen würden. Der internistische Oberarzt, der schon die ganze Zeit mit am unbeteiligtsten wirkte, gab mit einer gewissen Abwehrhaltung nur zu bedenken, dass es für einen Suizid aus medizinischer Perspektive eigentlich keinen Grund gab. Worauf sich umgehend die leitende Schwester zu Wort meldete. »Was da gerade gesagt wurde, ist typisch dafür, wie das hier abläuft. Wir sind einfach näher dran am Patienten, auch wenn wir viel zu wenig Zeit haben, Personaleinsparungen«, betonte sie sehr deutlich mit einem Blick auf den Verwaltungsleiter. »Die Patienten sind mehr als nur das, was in den Visiten und bei den Behandlungen sichtbar wird. In dem Fall, um den es hier eigentlich geht, war es eine junge Krankenschwester, der gegenüber der Patient sich geäußert hat. Sie hat dies dem diensthabenden Assistenzarzt weitergegeben. Was ich aber prinzipiell sagen will, ist, dass wir als Pflegende sehr wohl wissen, dass die Patienten mehr Zuwendung brauchen, mehr Zeit, mehr kontinuierliche Kontakte. Das wird hier alles immer seelenloser, kann ich Ihnen sagen.«
Der Hinweis auf die Seele war wohl das Stichwort für die beiden theologischen Teilnehmer. Die junge evangelische Seelsorgerin setzte zu einer engagierten Rede an, in der sie von »Ängsten und Unzulänglichkeiten« aller Beteiligten sprach, von den Brüchen, die sich angesichts des Sterbens – des eigenen, aber auch des betreuten und begleiteten Sterbens – auftun, und endete mit den Worten: »Manchmal reicht gemeinsames Schweigen, anerkennend, wie wenig wir doch selbst vermögen.« Danach war es freilich nicht ganz einfach, anzuschließen. Der Vorsitzende des Komitees nahm dies zum Anlass, nach Lösungen zu fragen beziehungsweise nach Konsequenzen aus der Diskussion. Der Oberarzt nutzte die Gelegenheit und gab zu bedenken, dass am Ende doch medizinische Gründe entscheidend wären. Es sei schön und gut, auf Menschlichkeit und Nähe, auf Kommunikation zu setzen, aber am Ende müsse es doch klare medizinische Kriterien dafür geben, was mit einem Patienten zu geschehen habe. Woraufhin der Jurist erneut ansetzte und die Autonomie des Patienten stark machte.
Bevor alles von vorne losging, bat ich, einmal innezuhalten und darüber nachzudenken, was in dieser Situation geschehen war. Ich wies darauf hin, dass die Situation eine ironische Komponente habe: Einerseits betonte der Jurist die Autonomie, das individuelle Selbstbestimmungsrecht und die freie Entscheidungsfähigkeit des Patienten. Andererseits sah es aus, als spule er ein Programm ab, das sich immer wieder zu wiederholen drohte. Und das galt letztlich für alle Beteiligten. Alle hatten bis dahin gesagt, was aus ihrer Perspektive plausibel erschien. Sie hatten geredet, als würde es durch sie hindurch sprechen.
Diesen Gedanken unterbrach der junge Assistenzarzt. »Ich muss Ihnen recht geben«, sagte er an die Adresse des Juristen, »das letzte Wort muss in der Tat der Patient haben – das ist juristisch eindeutig, und auch philosophisch-ethisch lässt sich nichts Anderes rechtfertigen. Ich habe mich während meines Philosophiestudiums viel mit der Frage des informed consent beschäftigt, also mit einem Modell, das davon ausgeht, dass der Arzt einen Informationsvorsprung hat, diesen aber durch angemessene Kommunikation und Aufklärung des Patienten ausgleichen muss, damit die beiden auf gleicher Augenhöhe sind und so eine wirklich gute Entscheidung getroffen werden kann – etwa über schwierige Eingriffe, über Therapiezieländerungen und Ähnliches. Ich fand das sehr plausibel, und es hat mir in meiner Rolle als Arzt auch geholfen, über meinen Beruf und sein Selbstverständnis nachzudenken. Ich denke, aus ethischer Sicht gibt es keine Alternative zu diesem Modell. Aber seit ich als Arzt auf Station arbeite, stelle ich doch fest, dass die philosophische Begründung gleicher Augenhöhe sowie ihre juristische Verteidigung noch etwas Anderes ist als die reale Situation eines Patienten, für den Informationen über seinen eigenen Gesundheitszustand etwas ganz Anderes bedeuten als für den behandelnden Arzt. Die gleiche Augenhöhe ist da eine fast naive Vorstellung, wenn es um Ängste geht, um Bedürfnisse, um Fragen der Zuwendung, der Unsicherheit. Manchmal ist es aus medizinischer Sicht angezeigt, nicht alle Informationen zu nennen – und manchmal besteht unsere Professionalität wohl nicht nur darin, Laborergebnisse und Ultraschallbilder angemessen zu bewerten, sondern auch die Situation, in der sich Arzt und Patient gegenüberstehen. Da hilft die abstrakte Idee des informed consent manchmal ebenso wenig weiter wie das Pochen auf subjektive Rechte. Das ist ein echtes Dilemma.«
Dem jungen Arzt ist in dieser Situation etwas gelungen, das allen anderen Sprechern bis dahin nicht möglich gewesen war. Er hat die unterschiedlichen Perspektiven – eine juristische Sichtweise, seine ärztliche Rolle und seinen Versuch der ethisch-philosophischen Reflexion – nicht nur abstrakt als unterschiedlich erfahren. Er hat dies im Sinne unterschiedlicher Kontexte in der Praxis an sich selbst erlebt. Zwar fand er keine Möglichkeit, diese unterschiedlichen Kontexte in einen einzigen Kontext zu integrieren, aber er fand die Möglichkeit, den Sinn dieser unterschiedlichen Kontexte zu sehen. Er hat sie nicht in Konkurrenz gesetzt, sondern in ihrer inneren Spannung auf den Begriff gebracht.
Das Statement hat jedenfalls beeindruckt, es folgte Zustimmung vom katholischen Seelsorger, auch von dem Palliativmediziner, der sich bis dahin merklich zurückgehalten hatte: »Dieses Dilemma kenne ich auch, und die Entstehung der Palliativmedizin geht ja gerade darauf zurück, dass man für sterbende Patienten mehr tun will, als nur eine angemessene Schmerz- und Symptomkontrolle zu betreiben. Wir arbeiten deshalb sehr eng mit Seelsorgern zusammen und versuchen, den Patienten Kommunikationsmöglichkeiten zu geben, auch Möglichkeiten, sich mit ihrer Familie auszusprechen oder noch einmal positive Erfahrungen zu machen. Und wir wissen auch, dass nicht Information das größte Problem für die Patienten ist, sondern eine Möglichkeit zu schaffen, selbst und aus eigener Kraft am Leben teilzuhaben. Nach meinem Verständnis war dies immer das, was den Arzt vom Mediziner unterscheidet, nämlich eine Situation für den Patienten zu schaffen, in der dieser zurechtkommt.«
Vielleicht wird gerade für einen Palliativmediziner diese Unterscheidung besonders deutlich, weil am Lebensende nicht mehr die Heilung und Wiederherstellung im Vordergrund steht, sondern die lindernde, auch tröstende Begleitung. Der Mediziner ist der gut ausgebildete Fachmann für die biochemischen Prozesse und Wirkzusammenhänge im menschlic...