Vom Solitär zum Solidär
Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit
»Wir helfen anderen, um sie zur Gegenhilfe zu verpflichten. Die ihnen erwiesenen Dienste sind eigentlich nur Wohltaten, die wir uns selbst im Voraus erweisen.«
François de la Rochefoucauld
Gesellschaft im Wandel
Nach Meinung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung (83 Prozent) sollte jeder, »der staatliche Sozialleistungen in Anspruch nimmt, auch ein Mindestmaß an Gegenleistung für die Gesellschaft erbringen«.
Signale in Zahlen
Anteil der Bevölkerung, der zur Verbesserung der sozialen Lage in Deutschland mehr Steuern zahlen will: 3 Prozent
Anteil der Bevölkerung, der zum Abbau des Schuldenbergs der öffentlichen Haushalte die Kürzung staatlicher sozialer Leistungen empfiehlt: 32 Prozent
Anteil der Bevölkerung, dem freiwillige Mitarbeit in sozialen Organisationen 1999 »wirklich Spaß macht«: 16 Prozent
Anteil der Bevölkerung, dem freiwillige Mitarbeit in sozialen Organisationen 2010 »wirklich Spaß macht«: 36 Prozent
Anteil der Bevölkerung, der sich sozial und politisch in der Gemeinde engagiert: 23 Prozent
Anteil der Bevölkerung, der Steuererleichterungen und Aufwandsentschädigungen für gemeinnützige Tätigkeiten und soziale Engagements für wichtig hält: 82 Prozent
In der Oberstufe des Gymnasiums gab es einmal eine Unterrichtssituation, in der plötzlich der Lehrer und die gesamte Klasse gegen mich Position bezogen. Wir diskutierten über Vorbilder der Jugend, über Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Gutmenschentum. Schnell waren sich alle einig: Albert Schweitzer verkörpere in geradezu idealer Weise diese hohen Werte, weil er sich ganz uneigennützig in den Dienst des Sozialen und der Mitmenschlichkeit stellte. Ich erlaubte mir die Gegenfrage, ob er nicht dabei auch an sich selbst gedacht hätte – an das gute Gefühl beim Helfen oder an die Anerkennung durch andere. Schweitzer habe sich doch selbst verwirklicht, auch wenn andere dadurch profitiert hätten. Jedenfalls, so gab ich zu bedenken, sei die Charakterisierung Schweitzers als »Selbstlosigkeit in Person« viel zu idealisiert.
Eine solche Sichtweise entsprach nicht der Political Correctness der 1950er Jahre. Lehrer und Mitschüler fielen geschlossen über mich her, weil ich mich außerhalb des Common Sense gestellt hatte. Eigentlich wollte ich nur zum Ausdruck bringen, dass soziales Tun auch Glücks-, Erfolgs- und Gemeinschaftserlebnisse gewähre – eine echte »Win-Win-Situation« würde es in der Business-Sprache von heute heißen. Dem Hilfsbedürftigen werde geholfen und dem Helfer gehe es auch besser dabei. An die Stelle des Geldverdienens trete die Honorierung mit Sinn (und vielfach auch mit Spaß und Freude). So wird auch verständlich, warum beispielsweise nur etwa jeder fünfte sozial Engagierte in Europa moralische, religiöse oder politische Gründe für sein Handeln nennt, aber fast dreimal so viele angeben: »Es macht mir wirklich Spaß«.
Nach der Evolutionstheorie helfen Säugetiere ihren nächsten Verwandten am meisten. Unter ihnen gibt es eine Tierart – die Erdmännchen – die zu den kooperativsten Säugetieren der Welt zählt und Hilfsbereitschaft auch unabhängig vom Verwandtschaftsgrad praktiziert. Die knapp 30 Zentimeter großen Tiere bewohnen in großen Kolonien das afrikanische Busch- und Savannenland, sind überaus gesellig und leben in ständigem Stimmkontakt. Alle Erdmännchen übernehmen ganz selbstverständlich soziale Aufgaben in ihrer Gruppe und beteiligen sich an der Nachwuchsbetreuung – auch unabhängig davon, ob sie mit dem Nachwuchs verwandt sind oder nicht. Selbst Erdmännchen, die keine Nachkommen haben, widmen ihr Leben ganz oder teilweise der Betreuung von fremden Jungen. Die Erdmännchen profitieren davon, in der Gemeinschaft zu leben, weil dadurch ihre Lebens- und Überlebenschancen steigen.
Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass in der Bevölkerung in Deutschland ein Umdenken begonnen hat. Zukunft erscheint vielen wieder machbar. Immer mehr Bürger entwickeln sich zu aktiven Realisten, die ihre Eigenverantwortung ernst nehmen und von Untertanengeist wenig wissen wollen. Sie besinnen sich auf Bürgertugenden, das heißt sie wollen sich gegenseitig mehr helfen und nicht alle sozialen Angelegenheiten einfach dem Staat überlassen. Sie bauen eigenständig soziale Netze auf und solidarisieren sich pragmatisch nach dem Prinzip: Ich helfe dir, damit auch mir geholfen wird. Ich-AG und Wir-Gesellschaft verbinden sich zu einer neuen Bürgerdemokratie.
Wirtschaft, Wachstum, Wohlstand: An diesen drei Koordinaten wurde der gesellschaftliche Fortschritt in den letzten 50 Jahren gemessen. Doch jetzt steht im nächsten Jahrzehnt plötzlich der größte Schuldenberg der Nachkriegsgeschichte diesem Fortschrittsgedanken im Wege. Wir haben unseren Wohlstand mit Schulden aufgebaut. Und auch soziale Errungenschaften vom Kindergeld bis zur Rente basieren auf Schuldenbergen. Und aus der Griechenlandkrise ist eine Euro- und Europakrise geworden. Trotz aktueller positiver Konjunktursignale wächst die Staatsverschuldung weiter. Als wirksame Problemlösung kommen aus der Sicht der Steuerzahler vor allem drei Ausgabenkürzungen in Frage: Verteidigung, Entwicklungshilfe und Kultur. In der Prioritätenliste gibt es im Hinblick auf die Kürzung des Verteidigungsetats große Übereinstimmungen zwischen Politik und Bevölkerung. »Es ist selbstverständlich, dass es zum Stopp des einen oder anderen Rüstungsprojekts kommen wird«, sagte Karl-Theodor zu Guttenberg am 22. Mai 2010. Jedes Ressort muss einen Beitrag dazu leisten, damit wir den kommenden Generationen nicht nur Schulden hinterlassen.
Massive Verteilungskämpfe stehen uns bevor. Kirchen und Wohlfahrtsverbände werden Sturm laufen gegen das Vorhaben, Entwicklungshilfen für Schwellenländer zu kürzen oder zu streichen (wie beispielsweise die 27,5 Millionen Euro sogenannter Aufbauhilfe für die Volksrepublik China). Andererseits muss nach Meinung der Bevölkerung die Bekämpfung von Armut, insbesondere von wachsender Kinderarmut, im eigenen Land Vorrang haben, bevor man die weltweite Durchsetzung rechtsstaatlicher Standards mit Hilfe von Entwicklungshilfe finanziell fördert. Zudem sind und bleiben die Ziele der Entwicklungshilfe weiterhin umstritten – mal Industrialisierungs- und mal Infrastrukturhilfe, mal Armutsbekämpfung und mal Stärkung der Regierungsfähigkeit (Good Governance) von Irak bis Afghanistan.
Bildung bleibt die wichtigste Quelle künftigen Wohlstands. Sie wird daher von Ausgabenkürzungen weitgehend verschont bleiben. Auch Rentenkürzungen stehen nicht zur Diskussion. Der Verlierer der Wirtschaftskrise wird daher die Kultur sein, weil sie im Unterschied zu anderen Pflichtausgaben zu den sogenannten freiwilligen Ausgaben zählt, die sich in den Kommunen auch einfacher kürzen und einsparen lassen.
Wenn jedoch bei der Einschränkung öffentlicher Ausgaben Schwimmbäder, Jugendfreizeit- oder Altentagesstätten zu den Opfern zählen, werden Konflikte unvermeidbar sein. Jede Kürzung in diesem Bereich trifft Geringverdiener und sozial schwache Bevölkerungsgruppen und ist auch mit dem Anspruch auf Grundversorgung unvereinbar. Besonders schmerzhaft werden aber Kürzungen im Kulturetat empfunden: Theater und Opernhäuser, Bibliotheken und Museen sind davon betroffen. Droht ein Kahlschlag in der deutschen Kulturlandschaft? So kann sich das Versäumnis rächen, Kulturförderung nicht als Staatsziel im Grundgesetz festgeschrieben zu haben.
Damit die Kulturlandschaft nicht verdorrt, wird die Wirtschaft ihre gesellschaftliche Verantwortung als Sponsor und Mäzen der Kultur verstärkt wahrnehmen müssen. Wenn der Staat notleidenden Banken und Wirtschaftsunternehmen in der Krise hilft, dann sollte sich auch die Wirtschaft als Gegenleistung durch Kultursponsoring mehr in die Pflicht nehmen lassen. Schließlich verdanken die bedeutendsten Kulturmetropolen seit jeher ihre Entstehung und Erhaltung kulturell ambitionierten Fürstenhäusern und Wirtschaftsmäzenen. Die heutigen Schulden sind geliehen – von der nächsten Generation. Diese Generation hat ein Recht auf Rückzahlung. Auf Subventionen muss deshalb nicht verzichtet werden, wenn sie vorrangig für Zukunftsinnovationen wie etwa Bildungsförderung oder Förderung neuer Umwelt- und Biotechnologien bereitgestellt werden.
In den Jahren 2006 bis 2008 hat das Bundesfinanzministerium 100 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen erzielt als je errechnet, prognostiziert oder erträumt wurde. Statt aber Rücklagen für zu erwartende Krisen zu bilden oder Schulden abzubauen, wurde der unerwartete Steuersegen gleich wieder ausgegeben – von der Erhöhung des Kindergeldes bis zur Rentenerhöhung. Kein ehrbarer Kaufmann könnte so wirtschaften und überleben.
Der Sozialstaat ist infrage gestellt, wenn das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von Jahrzehnt zu Jahrzehnt geringer wird. Das kann passieren, weil Mehreinnahmen bisher nicht in Rücklagen und Schuldentilgung fließen und Überschüsse nicht zum Defizitausgleich verwendet werden. Auch in Zukunft wird es gute »fette« Jahre geben, in denen aber für nachfolgende schlechte »magere« Jahre sparsam gewirtschaftet werden muss. Andernfalls drohen Wirtschaftskrisen ohne Ende.
Mit der Finanzkrise der öffentlichen Haushalte kommt es zum grundlegenden Perspektivenwechsel im Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Viele Staatsaufgaben werden an die Gesellschaft zurückverlagert und nicht mehr wie in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich vermehrt. Was bisher öffentlich war (zum Beispiel Schwimmbäder), übernehmen vermehrt Organisationen und Vereine. Die Gewährleistungsverantwortung geht damit tendenziell an die Bürger über, die sich ihres Machtzuwachses bewusst werden. Die Bürger nehmen Abschied vom Obrigkeitsstaat als Macher, Verteiler und Versorger. Das jahrzehntelang fast grenzenlose Vertrauen in eine Staatsform, bei der die politische Macht überwiegend von der Regierung ausgeht, ist erschüttert. Im gleichen Maße, wie die Fürsorgeleistungen des Staates zurückgehen, nehmen die Eigenleistungen der Bürger zu. Sie müssen wieder aus eigener Kraft das erreichte Wohlstands- und Wohlfahrtsniveau halten. Das Selbsthilfeprinzip bürgert sich ein, der Staat soll nur dafür Sorge tragen, dass die Bürger zur Übernahme der Verantwortung für ihre eigene Wohlfahrt auch in der Lage sind.
Die Kommunen stehen vor der schwersten Finanzkrise seit über 50 Jahren. Die Kredite zur Finanzierung laufender Ausgaben steigen und trotz Personalabbaus wachsen auch die Personalausgaben. Ein Masterplan für die Lösung dieser Zukunftsprobleme ist nicht in Sicht. So bleibt nur die Hoffnung, dass es gelingen möge, die Bürger mehr zur Eigeninitiative zu motivieren.
Die neue Hilfeleistungsgesellschaft
Der Selbsthilfegedanke lässt die Idee der Selbsthilfegesellschaft aus den 1970er Jahren als neue Hilfeleistungsgesellschaft wieder aufleben – allerdings unter veränderten Vorzeichen. In der Nach-68er-Zeit war unter dem Namen »Selbsthilfegesellschaft« eine Protestbewegung entstanden, die sich gegen Abhängigkeit, Hörigkeit und staatliche Vereinnahmung richtete. Leitvorstellungen waren Solidarität, Ökologie und Basisdemokratie. Selbsthilfe wurde dabei als eine Art alternative Eigeninitiative verstanden – von der Wohngemeinschaft über das selbstorganisierte Jugendzentrum bis zum genossenschaftlichen Arbeitskollektiv.
Wenn wir heute von einer neuen Hilfeleistungsgesellschaft sprechen, dann ist damit keine alternative Idylle gemeint. Ganz im Gegenteil: Fern von allem Dogmatischem und Ideologischem geht es jetzt um freiwillige Hilfeleistungen und um die Stärkung der Bürgerautonomie auf breiter Ebene, um die Entwicklung einer Selbsthilfebewegung ohne Randgruppenstatus. Die Einsicht, aufeinander angewiesen zu sein, resultiert aus der schmerzlichen Erfahrung von Massenarbeitslosigkeit, Armutsrisiko und Existenzbedrohung. Was der Wohlstandsstaat den Bürgern in den letzten drei Jahrzehnten Zug um Zug an Verantwortung abgenommen hat, müssen sich die Bürger jetzt – wollen sie nicht scheitern – wieder zurückholen.
Die persönliche Hilfeleistung durch informelles Engagement ist nachweislich um ein Vielfaches höher als die freiwillige Mitarbeit durch institutionelles Engagement. Nur jeder sechste Bundesbürger (17 Prozent) engagiert sich in der Ve...