Miracle Man
eBook - ePub

Miracle Man

8 Tage im Eis verschollen

  1. 256 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Miracle Man

8 Tage im Eis verschollen

Über dieses Buch

Eric LeMarque kann viel von sich sagen: Eishockey-Profi bei Olympia, Junkie, Snowboarder, Adrenalin-Freak, Krüppel – und Jesus-Nachfolger. Das ist seine Geschichte: 8 Tage Überlebenskampf in der Schneewüste auf 3300 m Höhe, die schwerste Tortur seines Lebens. Er wird gerettet, aber verliert beide Beine. Die Extremerfahrung öffnet noch einen zweiten Kriegsschauplatz: seine Seele. Schwarze Leere, vom Ego getrieben, von seinen Süchten betäubt. Er nimmt den Kampf auf – und begegnet dem Gott seiner Kindheit.

Häufig gestellte Fragen

Ja, du kannst dein Abo jederzeit über den Tab Abo in deinen Kontoeinstellungen auf der Perlego-Website kündigen. Dein Abo bleibt bis zum Ende deines aktuellen Abrechnungszeitraums aktiv. Erfahre, wie du dein Abo kündigen kannst.
Derzeit stehen all unsere auf mobile Endgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Perlego bietet zwei Pläne an: Elementar and Erweitert
  • Elementar ist ideal für Lernende und Interessierte, die gerne eine Vielzahl von Themen erkunden. Greife auf die Elementar-Bibliothek mit über 800.000 professionellen Titeln und Bestsellern aus den Bereichen Wirtschaft, Persönlichkeitsentwicklung und Geisteswissenschaften zu. Mit unbegrenzter Lesezeit und Standard-Vorlesefunktion.
  • Erweitert: Perfekt für Fortgeschrittene Studenten und Akademiker, die uneingeschränkten Zugriff benötigen. Schalte über 1,4 Mio. Bücher in Hunderten von Fachgebieten frei. Der Erweitert-Plan enthält außerdem fortgeschrittene Funktionen wie Premium Read Aloud und Research Assistant.
Beide Pläne können monatlich, alle 4 Monate oder jährlich abgerechnet werden.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja! Du kannst die Perlego-App sowohl auf iOS- als auch auf Android-Geräten verwenden, um jederzeit und überall zu lesen – sogar offline. Perfekt für den Weg zur Arbeit oder wenn du unterwegs bist.
Bitte beachte, dass wir keine Geräte unterstützen können, die mit iOS 13 oder Android 7 oder früheren Versionen laufen. Lerne mehr über die Nutzung der App.
Ja, du hast Zugang zu Miracle Man von Eric LeMarque, Ilona Mahel im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Theology & Religion & Religious Biographies. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

1

FRISCHE SPUREN

An diesem Morgen stand ich erst spät auf. Als ich um kurz nach zehn die Augen öffnete und mir klar wurde, wie spät es schon war, hatte ich nur noch einen Gedanken: Die Pisten waren offen – und ich war nicht dabei!
Beim Blick aus dem Fenster wurde mein Frust noch größer: Nach fünf Tagen voller heftiger Schneestürme und dichtem Nebel zeigte sich jetzt ein blauer, wolkenloser Himmel. Der Sturm, der mich eine Woche zuvor zum Mammoth Mountain gebracht hatte, war vorbei. In der Wettervorhersage war von eineinhalb bis über zwei Metern Neuschnee die Rede gewesen. Tatsächlich waren fast fünf Meter frisches Champagnerpulver gefallen. Die Bedingungen waren einzigartig. Dafür lebte ich.
Natürlich lebten dafür auch eine Menge anderer Leute. Als ich aus dem Bett sprang und mich startklar machte für einen ganzen Tag auf dem Snowboard, konnte ich die übermütigen Schreie der Leute draußen schon beinahe hören – wie sie sich die Abhänge runterstürzten, durch die Luft segelten und eine perfekte Abfahrt nach der anderen erwischten. Ich war stolz darauf, morgens immer der Erste am Lift und abends vor Einbruch der Dunkelheit immer der Letzte auf der Piste zu sein. Jetzt war ich gezwungen, mich in die Schlange zu stellen und zu warten, bis ich dran war. Und – was am Schlimmsten war – ich musste durch Schnee fahren, den andere schon vor mir befahren hatten. Ich war ängstlich bemüht, im Grunde genommen besessen davon, so schnell wie möglich an den Berg zu kommen. Über die notwendige Ausrüstung machte ich mir kaum Gedanken. Das war mein erster Fehler.
Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht war mein erster Fehler die Einstellung, mit der ich bereits am Berg ankam. Zu jener Zeit war ich arrogant bis zur Gereiztheit; es ging immer und zuerst um mich und meine Pläne. Nach einem Jahr konstanten Drogenkonsums – eine sorgfältig abgestimmte Kombination aus Crystal Meth und starkem Marihuana – hatte ich den Kontakt zum Rest der Menschheit mehr oder minder verloren. Ich war ein Einzelgänger, der Herrscher über eine Welt, die ich gestaltete, wie es mir gefiel, und nach meinen Vorstellungen formte. Mich als Kontrollfreak zu bezeichnen, hätte nicht einmal im Ansatz beschrieben, wie ich mein Leben in strikter Abstimmung mit meinen eigenen Prioritäten lebte. Wenn etwas meinen gehobenen Ansprüchen nicht genügte, ließ ich es einfach links liegen. Und weil Menschen nun mal sehr unberechenbar waren, blieben sie meist als Erstes am Wegesrand zurück.
Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn an dem Tag jemand bei mir gewesen wäre, ein Freund, ein Snowboard-Kumpel – jemand, der mich daran erinnert hätte, langsam zu machen und mich nicht so zu hetzen; dass der Berg auch noch da wäre, wenn ich später käme. Aber ich hatte schon lange aufgehört, die Gesellschaft anderer Menschen zu suchen. Ich war immer allein unterwegs, und das war mir auch sehr recht so. Ich lebte in meinem eigenen Kopf, allein mit meinen Gedanken und meinen Strukturen und mit der Befriedigung, die es mir brachte, perfekt sein zu wollen. Einer meiner Lieblingstrainer pflegte zu sagen: »Erfahrung ist das, was du bekommst, nachdem du es gebraucht hättest.« Und da ich sie nicht hatte, wusste ich auch nicht, dass ich sie brauchen würde.
Dieser Tag auf der Piste würde perfekt werden, und ich hatte schon zu viel davon verpasst. Die Situation war vollkommen inakzeptabel. Hektisch huschte ich durch die Wohnung, die ich mir gemietet hatte, irritiert von dem Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster fiel, und packte planlos ein paar Sachen zusammen, ohne wirklich darüber nachzudenken, was ich da eigentlich machte.
Wozu auch? Ich war schon Hunderte Male auf diesen Pisten unterwegs gewesen, den Mammoth Mountain kannte ich wie meine Westentasche. Ich hatte so viel Zeit wie nur möglich in diesem atemberaubenden Panorama der Sierra Nevada verbracht, war während der Saison Dutzende Male aus meiner Heimat in Kalifornien hierher gereist. Ich sehnte mich danach, oberhalb der Baumgrenze zu sein, wo man die Krümmung der Erdoberfläche sehen kann. In meinem Kopf gab es eine Landkarte mit den besten Snowboardpisten; Geheimtipps, wo die Schneewehen sich wie gefrorene Wellen über den Hügelrücken zogen; die Orte, wo kaum ein anderer hinkam, wo das Pulver frisch und unbefahren war und auf mich wartete. Ich kannte mich perfekt aus in dieser Gegend, hatte mich komplett eingelebt und war absolut davon überzeugt, jedes noch so schwierige Terrain meistern zu können. Mir gehörte dieser Berg! Zumindest dachte ich das.
Nachdem der Sturm sich gelegt hatte, waren die Bedingungen optimal. Dementsprechend hatte ich keine Lust, unnötige Kleidung und Ausrüstung mitzuschleppen. Für das wechselhafte Wetter auf dem Berg hatte ich verschiedene Outfits mitgebracht, inklusive eines schweren, wasserdichten Goretex-Anzugs. Aber mir war klar, dass dieser Anzug zu unförmig und sperrig – und für so vollkommenes Wetter wie an diesem Tag vermutlich auch zu warm war. Also entschied ich mich für eine Ripzone-Jacke und eine Skihose mit herausnehmbarem Futter, das ich sofort entfernte. Die verbleibende Außenhose zog ich über meine Baumwoll-Boxershorts, schlüpfte in ein Paar normale Sportsocken und ein Langarmshirt. Dazu griff ich mir eine leichten Mütze, ein paar dünne Handschuhe sowie eine Skibrille. Es war mir wichtig, so leicht wie möglich bekleidet zu sein. Ich zog mich den Temperaturen entsprechend an, die der Wetterbericht angekündigt hatte: etwa 2 Grad minus. Im Skilift würde ich frieren, das wusste ich, aber wenn ich erst auf der Piste war, würde die Bewegung mich warmhalten.
Ich suchte nach meinen Stiefeln, ein Paar Burtons, die ich aus zweiter Hand erstanden hatte. Als ich sie kaufte, konnte ich noch die Schweißfüße des Vorbesitzers darin riechen. Der Typ in dem Laden meinte, sie hätten einem Profi-Snowboarder gehört. Genauso einer wollte ich werden. Ich sprühte sie großzügig mit Lysol ein, was allerdings nicht wirklich half. Aber ich mochte die Stiefel vor allem wegen ihres Schnellschnürsystems, bei dem man ein Rädchen drehte, um die Bindung zu schnüren, wodurch das An- und Ausziehen sehr viel einfacher und schneller geriet. Wie gesagt … ich hatte es sehr eilig, auf den Berg zu kommen.
Auch mein Snowboard war von Burton … das Modell nannte sich »Code«, mit dem Zusatz »164.5«, was sich auf die Länge in Zentimetern bezog. Für jemanden wie mich mit einer Größe von 1, 77 Metern wäre ein kürzeres Board besser gewesen, aber mir gefiel die längere Version besser, weil sie stabiler und leichter zu manövrieren war, beides Eigenschaften, die ich voll auskostete. Seine Form sah ein bisschen aus wie eine Acht oder eine Art Hundeknochen, in der Mitte etwas schmaler und vorne und hinten breit. Es bestand aus laminiertem Grafit, einem sehr harten Material, das Dank seines geringen Gewichts und seiner Widerstandsfähigkeit die Speerspitze der Snowboard-Technologie darstellte. Das Board war mit der Möglichkeit versehen, den Bindungswinkel individuell so einzustellen, dass der Fuß optimal stand.
Das Board war beim Kauf als Mängelexemplar gekennzeichnet gewesen, weil es kleine Schäden in der Lackierung hatte. Dadurch wurde es billiger als ein erstklassiges Modell, was das Ganze für mich zu einer abgeschlossenen Sache machte. Aber bevor ich es kaufte, fragte ich: »Sag mal, Kumpel, kannst du diese Markierung da nicht abschleifen?« Ich wollte nicht, dass jemand merkte, dass ich nur ein zweitklassiges Modell fuhr. Das gehörte zu dem Image, das ich mir aufgebaut hatte, ein Mix aus Egozentrik und Drogenwahn. Tatsache war jedoch, dass ich tatsächlich zu den Besten gehörte, zumindest, wenn ich auf meinem Board stand. Wenn ich die Piste runterfuhr und eine wirklich gute Abfahrt hinlegte, hielten andere an, um mir zuzusehen oder ihre Freunde auf mich aufmerksam zu machen: »Kuckt euch mal den Typ an, der ist unglaublich!« Es galt, einen Ruf zu wahren. Ein Teil davon war sicher mein drogenverseuchtes Ego, doch in meiner Selbsteinschätzung steckte auch ein Stück Wahrheit: Ich hatte eine natürliche Begabung für das Snowboarden.
In meinem Kopf riefen mir noch immer die begeisterten Snowboarder auf der Piste hinterher, während ich kurz meinen Blick durch die Wohnung schweifen ließ, um zu sehen, ob ich noch irgendetwas brauchte. Einen Zwanzig-Dollar-Schein, den ich aus meinem Geldbeutel fischte, um mir davon ein Mittagessen in einer der Imbissbuden entlang der Piste kaufen zu können; vier Stück Bazooka-Kaugummi, die ich im Vorbeigehen von der Küchentheke aufgabelte, um mir während des Snowboardens eine schnelle Zuckerdosis zukommen lassen zu können; mein Handy und meinen MP3-Player, auf dem der Soundtrack für den Tag gespeichert war. Ich hatte sogar genau geplant, welche Playlist ich für welche Abfahrt nehmen würde, meine Bewegungen perfekt auf die jeweiligen Songs abgestimmt, die zu der Zeit in erster Linie aus Hip-Hop und Rap bestanden, vor allem Eminem.
Der Witz daran war nur: Wenn ich dann wirklich unterwegs war und zum Beispiel zu einem Sprung ansetzte, war mir die Musik, die ich vorher so sorgfältig ausgewählt hatte, überhaupt nicht bewusst. Während ich auf die Rampe zufuhr und immer mehr Fahrt aufnahm, nahm ich mir vor, auf den Song zu achten, den ich extra für diesen Moment ausgesucht hatte. Aber sobald ich dann in der Luft war, ergriff mich die Begeisterung komplett, und in meinem Kopf war kein Platz für irgendetwas anderes. Das war einer der seltenen Momente, in denen es tatsächlich passierte: Das ununterbrochene Gequatsche zwischen meinen Ohren wurde ausgeblendet und ich war einfach Teil der majestätischen Leere um mich herum. Wenn ich dann wieder runterkam, fing der dröhnende Rhythmus in meinem Kopf wieder an, und alles war wie zuvor.
An jenem Morgen ließ ich eine Menge Sachen liegen, die ich normalerweise zum Snowboarden mitnehme. Eins davon war ein kleines Funkgerät mit einer Reichweite von etwa zwölf Kilometern, das ich für gewöhnlich eigentlich immer dabeihatte, auch wenn ich auf möglichst viel Gewicht verzichten wollte. Dasselbe galt für ein Gas-Feuerzeug, das ich ursprünglich gekauft hatte, um zwischen den Läufen ein bisschen Hasch rauchen zu können. In der großen Höhe funktionierten die meisten Feuerzeuge nicht, deshalb hatte ich absichtlich nach einem Exemplar gesucht, das auch in der dünnsten Luft eine Flamme produzieren konnte. Auch ein paar Äpfel nahm ich normalerweise mit – zum Essen und um daraus eine behelfsmäßige Pfeife zu schnitzen, aus der ich dann und wann, unter ein paar Bäume gekauert, schnell einen Zug nahm. Dieses Mal trank ich nur schnell ein paar Flaschen Wasser und steckte mir für später noch eine in die Tasche. Ich war aufbruchbereit.
Bis auf eines. Bevor ich die Tür hinter mir zuzog, klopfte ich auf meine Jackentasche, um mich zu vergewissern, dass es noch da war: Ein kleines Plastiktütchen mit einem halben Gramm hochwertigem Crystal Meth. Das war die eine Sache, ohne die ich nirgendwo hinging.
                        
Fast ein Jahr lang hatte ich jeden Tag Meth genommen. Doch als ich am 1. Februar 2004 am Mammoth Mountain ankam, rächte sich das so langsam. Ich gab mich immer noch der Illusion hin, dass ich die Droge unter Kontrolle hatte – und nicht umgekehrt. Aber das eingefallene Gesicht, das mich morgens im Spiegel begrüßte, sagte etwas ganz anderes. Mein Zahnfleisch ging zurück, meine Haut war von einem Ausschlag besiedelt, und mein gehetzter Blick sah mich an, als wäre ich ein paranoider Fremder. Es war nicht mehr zu verbergen: Ich war dabei, meinen Körper zu zerstören. Doch gleichzeitig war ich von all der Energie, welche die Droge in mich pumpte, wie besessen von meiner körperlichen Fitness. In guter – nein, großartiger – Form zu sein, war für mich immer eine Leistung gewesen, auf die ich zu Recht sehr stolz war. Aber es war mir nicht nur wegen des Aussehens oder der Anerkennung als Sportler sehr wichtig, durchtrainiert zu sein. Es machte mir wirklich Spaß, mich fit zu halten, Muskeln aufzubauen und den Endorphinrausch zu spüren, wenn ich über meine Grenzen ging und nach einer neuen, besseren Version von mir selbst strebte. Sport hatte ich an sich schon als Kind geliebt. Was mir jedoch ein wirkliches Erfolgserlebnis brachte, war, meinen Körper zu formen und zu stählen, ihn reaktions- und widerstandsfähig zu machen, damit er jeder Herausforderung gewachsen war. Das machte einen großen Teil meiner Identität aus.
Zum 08/15-Meth-Konsumenten passte das überhaupt nicht. Für diesen war ein zerstörter Körper einfach der Preis, den man für den Rausch bezahlte. Ich aber war nicht bereit, diesen Preis zu zahlen. Ich trainierte weiter, intensiv und methodisch, und warf währenddessen weiter das Gift ein, das mich von innen her auffraß.
Einmal hörte ich eine Beschreibung der Auswirkungen von Crystal Meth, die ich nie vergessen werde. Es ist ungefähr so, als würde man die Räder eines schnellen Autos – zum Beispiel eines Porsches – auf Rollen montieren und den Motor konstant hochjagen, rund um die Uhr, bis er komplett ausbrennt. Das Auto bewegt sich keinen Meter vorwärts, doch der Motor läuft auf Hochtouren.
Ich allerdings war fest davon überzeugt, dass ich vorwärtskam, indem ich mich immer wieder über meine eigenen Grenzen hinaustrieb und die Droge dazu benutzte, dieser rasanten Jagd nach körperlicher Perfektion Energie zu spenden. Für mich begann ein guter Tag damit, ein paar Lines Speed zu ziehen, ein paar Züge aus einer Bong zu nehmen und anschließend ins Fitnessstudio zu gehen. Zwei, drei oder fünf Stunden später war ich auf dem Weg zum Strand, um zu surfen oder Volleyball zu spielen. Im Anschluss wieder mit dem Fahrrad nach Hause oder zurück ins Fitnessstudio, wo ich mich im Whirlpool entspannte. Was mir die Droge an Konzentration und Energie verschaffte, investierte ich vollständig in meinen Körper.
Und so belog ich mich selbst. Egal, wie hart ich trainierte, egal, wie wild entschlossen ich war, in Form zu bleiben – es war unmöglich, den zerstörerischen Effekt zu kompensieren, den die Droge auf mich hatte. Was anfangs ein toller Nebeneffekt gewesen war – die Tatsache, dass das Meth meinen Appetit gezügelt hatte und ich so schön schlank geblieben war –, entwickelte sich nun zu einem gefährlichen Gewichtsverlust und der Unfähigkeit, mich so zu ernähren, wie es für meine Aktivitäten angemessen gewesen wäre. Ich wurde hager und hohläugig, die klaren Anzeichen dafür, dass es durch die Sucht immer weiter abwärtsging.
Was noch schlimmer war: Ich fing an, meine motorischen Fähigkeiten zu verlieren. Oft war ich nicht in der Lage, meine Gedanken und Impulse in Handlungen umzusetzen. Ein paar Wochen vor meiner Reise zum Mammoth Mountain hatte ich mir spät abends ein Bier aufgemacht und wollte es mir gemütlich machen, um meiner Zweitlieblingsbeschäftigung zu frönen – im Internet surfen. Eine Stunde später fiel mein Blick auf das Bier. Es war immer noch da, wo ich es hingestellt hatte, unberührt. Ich hatte es komplett vergessen. Als ich es dann tatsächlich in die Hand nehmen wollte, stellte ich eine seltsame Unkoordiniertheit zwischen meinem Gehirn und meinen Muskeln fest. Mein Kopf sendete zwar ein Signal an meinen Körper, aber irgendwo unterwegs ging etwas schief. Es war, als wäre mein Arm an einem Faden angebunden, der ihn zurückhielt. Ich war zu einer Marionette meiner Sucht geworden.
Ein Teil von mir hatte Angst vor dem Menschen, der ich geworden war, aber einem anderen Teil von mir war das alles komplett egal. Ich hielt mich für absolut unabhängig, so lange ich nur immer das kleine Plastiktütchen mit dem weißen Pulver bei mir hatte. Mein Status als Einzelgänger wurde noch dadurch untermauert, dass ich irgendwie vergessen hatte, wie man überhaupt mit Menschen interagierte. In Kneipen oder auf Partys redete ich zu laut, zu schnell oder zu lang, bis die Leute um mich herum zurückwichen und mich skeptisch beäugten.
Im Lauf der Zeit nahm mein Kontakt mit der Außenwelt immer rapider ab. Auch das war mir egal. Ich war sowieso lieber allein, machte mir Trainingspläne und kümmerte mich um die tausend kleinen Details meines so perfekt durchgeplanten Lebens. Irgendwann wurde es zu einer richtigen Herausforderung, überhaupt noch rauszugehen. Es waren buchstäblich Stunden der Vorbereitung nötig, bis ich das Haus verlassen konnte. Das Wasser in der Dusche musste die exakt richtige Temperatur haben, alle Shampoo- oder Duschgel-Flaschen mussten in exakt der richtigen Reihenfolge aufgestellt sein. Für die Rasur brauchte ich ewig, kämmte mein Haar, bis es absolut perfekt saß. Es war ein Riesenakt, das richtige Outfit auszusuchen, denn es gab ja Dutzende von Kombinationsmöglichkeiten, und als ich dann endlich so weit war, kam es sehr oft vor, dass ich schlussendlich doch lieber zu Hause blieb und bis zum Morgengrauen auf die Computertastatur einhackte. Ich gab alles, um weiter meine Trainingspläne im Fitnessstudio einzuhalten und zum Strand zu gehen, aber selbst diese Aktivitäten unternahm ich allein und musste sie jedes Mal bis ins Detail planen.
Es gab nur eine Sache, die mich aus der Enge meines selbst gewählten Exils herausholte. Die Freude am Snowboarden ist so elementar und tief, dass ich in den paar Minuten auf dem frischen Pulver mich und meinen Kristallpalast für einen Moment vergessen konnte. Da kann man jeden fragen, der ernsthaft Snowboard fährt. Falls ein Snowboarder überhaupt Worte dafür findet, versucht er vielleicht, das Gefühl der Schwerelosigkeit zu erklären, dieses Laufen auf dem Wasser, das sich über deine Füße in deinem ganzen Körper ausbreitet und dich trägt. Wenn es eiskalt und trocken ist, die Bedingungen also perfekt sind, dann wirst du wie von unsichtbarer Hand geschoben, abgefedert durch den Schnee, der sich in jeder Kurve wie ein Regenbogen aufbaut. Manchmal ergeben sich sogar die Kurvenschläge wie von selbst: Dann fährst du durch die Bäume, leicht zurückgelehnt, und lässt das Board einfach frei laufen und die Richtung vorgeben, spürst die Kontur des Berges nach und fädelst wie von selbst durch den Wald. Wenn das passiert, du einfach nur die Fahrt genießt, ist es leicht, die Kontrolle abzugeben und sich tragen zu lassen. Du bist dann Teil der Natur, und sie ein Teil von dir.
Es klingt wahrscheinlich paradox: Ich war Sklave einer Droge, die mir das Gefühl totaler Kontrolle gab – ich betrieb einen Sport, der jedes Verlangen nach Kontrolle eliminierte. Ich trainierte meinen Körper und gleichzeitig zerstörte ich ihn. Ich war ein Sportler und ein Süchtiger. Wahrscheinlich gibt es in jedem Leben Widersprüche, aber ich war ein Extremfall. Mein ganzes Leben drehte sich darum, meine Grenzen auszutesten. Dabei hatte ich ein paar bemerkenswerte Leistungen vollbracht. Aber irgendetwas fehlte. Ich war auf der Suche, aber ich wusste nicht einmal, wonach.

2

DER APFEL

Wohin ich an diesem kalten, klaren Morgen im Februar unterwegs war, hatte viel damit zu tun, wo ich herkam.
Jede Menge Erfahrung – gute, schlechte und sehr schlechte – hat mich gelehrt, dass nichts durch Zufall passiert. Die Umstände, die mich bald an die Schwelle zwischen Leben und Tod bringen würden, hatten mich mein Leben lang zielsicher an diesen Punkt geführt. Das war mir zu jenem Zeitpunkt natürlich noch nicht klar, schließlich war ich viel zu beschäftigt damit, endlich auf die Piste zu kommen. Erst im Nachhinein konnte ich klar und deutlich sehen, wie ich an das Ende eines langen Weges gekommen war. Und damit an die Schwelle der nächsten Reise.
Wenn ich einen Zeitpunkt nennen müsste, an dem ich zum ersten Mal über meine Bestimmung nachgedacht und realisiert habe, dass mein Leben einen Sinn hat, würde ich einen Moment in meinem vierten Lebensjahr wählen. Ich weiß es noch ganz genau: Es war ein sonniger Tag in Südkalifornien in der Vorstadt von West Hills, ganz am Ende des San Fernando Valley. Ich war auf dem Dreirad unterwegs und trat in die Plastikpedale, was das Zeug hielt, als ich plötzlich etwas entdeckte, das mich wie angewurzelt stehen bleiben ließ. Der Anblick zweier Nachbarskinder auf der anderen Straßenseite faszinierte mich. Beide hatten einen merkwürdigen Stab in der Hand, der am Ende leicht gebogen und flach war. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Sie schossen eine dicke, schwarze Scheibe hin und her und versuchten dabei, aneinander vorbeizuschießen. Dieser Moment hat mein Leben für immer verändert. Was auch immer sie da taten, das wollte ich auch tun!
Ich hatte Hockey entdeckt. Oder vielleicht hatte es auch mich entdeckt. Wie auch immer: Es war Liebe auf den ersten Blick.
Im Prinzip hatte ich da schon eine ziemlich bewegte Kindheit hinter mir – zumindest, so weit ich das beurteilen konnte, denn ich hatte ja keinen Vergleich. Es erschien mir völlig normal, dass ein Kind in meinem Alter schon auf zwei Kontinenten gelebt hatte, zwei Sprachen beherrschte und überhaupt eine Doppelidentität hatte, die ein solches Leben mit sich bringt. Mein Vater, Phillip, war Franzose und hatte meine Mutter, Susan, in New York kennengelernt. Sie verliebten sich, heirateten und kehrten für kurze Zeit nach Frankreich zurück, wo ich im Juli 1969 in Paris geboren wurde.
In meiner Wahrnehmung bin ich absolut und vollständig Amerikaner. Doch auf der anderen Seite sollte auch m...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Haupttitel
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Über den Autor
  6. Prolog
  7. 1 | Frische Spuren
  8. 2 | Der Apfel
  9. 3 | Optimierungswahn
  10. 4 | Hinter dem Rand
  11. 5 | Das Tal der Todesschatten
  12. 6 | Der Beutel
  13. 7 | Feuertanz
  14. 8 | Hilf dir selbst
  15. 9 | Mama
  16. 10 | Zehn Schritte
  17. 11 | Verfolgt
  18. 12 | Neuanfang
  19. 13 | Black Hawk
  20. 14 | Eis am Stiel
  21. 15 | Whirlpool
  22. 16 | 41, 8
  23. 17 | Hinterräder
  24. 18 | Armer schwarzer Kater
  25. 19 | Hope
  26. 20 | Offenbarung
  27. Nachwort
  28. Danke
  29. Leseempfehlungen